Die Orbit-Organisation. Anne M. Schüller

Die Orbit-Organisation - Anne M. Schüller


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alle anderen Anspruchshaltungen interessieren uns nicht.« Ansichten wie diese waren zu Shareholder-Value-Zeiten völlig normal. Die brachiale Egomanie vieler Konzerne und ihrer Spitzenmanager hält leider bis heute an. Dies wird aufgrund einer einseitig auf Kapitalperformance ausgerichteten Unternehmensbewertung durch Analysten auch noch begünstigt. Profitmaximierung wird zum alles überstrahlenden Selbstzweck.

       Externalitäten bedeutet: Profit wird auf Kosten Dritter erzielt.

      Das Erzeugen von Externalitäten ist in solchen Systemen gängige Praxis. Externalitäten sind unkompensierte Effekte, die auf Bereiche außerhalb des Unternehmens abgewälzt werden und dort erhebliche Schäden verursachen, ohne dass jemand dafür die Verantwortung übernimmt. So wird Profit auf Kosten Dritter oder des Allgemeinwohls erzielt, oft auf dem Rücken der Ärmsten und Schwächsten. Denken wir nur an Kinderarbeit, moderne Sklaverei, erschütternde Produktionsbedingungen, das Plastikdesaster, den Pestizidwahnsinn, das Palmöldrama, die Elektroschrottberge, die Giftmülldeponien, die Massentierhaltung, das Artensterben, die Plünderung von Bodenschätzen, den ungebremsten Raubbau an der Natur, die Abermillionen von Toten durch Umweltsünden. Margen, Preisdruck und Gier lassen Ethos, Anstand und Achtung der Menschenwürde manchmal völlig versanden. Und nein, ein bisschen Corporate-Social-Responsibility-Aktionismus wäscht einen ganz sicher nicht rein. Wer auf solche Art modernen Ablasshandel betreibt, wird sehr schnell durchschaut.

      Auch der sogenannte Homo oeconomicus, der seine Entscheidungen rein vernunftmäßig trifft und selbstsüchtig seinem Nutzen frönt, fällt in die alte Businesszeit. Er ist eine traurige Erfindung weltfremder Wirtschaftsökonomen. In Wahrheit hat es ihn nie gegeben. Doch das ehemals vorherrschende Menschenbild spukt als Poltergeist noch immer in vielen Köpfen herum. Es geht zum Beispiel davon aus, dass Mitarbeiter träge und arbeitsunwillig seien, anspruchslose Aufgaben bevorzugten und Verantwortung scheuten, weshalb sie gefügig gemacht und zur Arbeit angetrieben werden müssten. Dies entspricht der weitläufig bekannten Theorie X von Managementprofessor Douglas McGregor, die er 1960 in seinem Buch The Human Side of Enterprise beschrieb. Darin hat er Gott sei Dank auch seine Theorie Y entwickelt. Sie steht für die Hypothese vom grundsätzlich engagierten Mitarbeiter, der Arbeit als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung sieht und Freude daran hat, Leistung zu bringen. Befruchtendes Führen und gute Rahmenbedingungen ermöglichen seine volle Entfaltung. Tatsache ist: Von Haus aus gibt es keine Theorie-X-Menschen. Schlechte Führung lässt sie so werden. Ed Catmull, Leiter der überaus erfolgreichen Pixar Animation Studios, hat das einmal so ausgedrückt: »Wir beginnen mit der Annahme, dass unsere Mitarbeiter talentiert sind und einen Beitrag leisten wollen. Wir akzeptieren, dass unser Unternehmen ungewollt dieses Talent auf unzählige Weisen einengt. Aber wir versuchen, diese Hindernisse zu finden und zu beseitigen.«13

      Tatsächlich lassen sich Mitarbeiter auf ganz andere Weise unterscheiden: Einerseits gibt es die erfahrenen Mitarbeiter, die Könner. Das sind jene, die sich in ihrem Bereich sehr gut auskennen. Andererseits gibt es weniger erfahrene Leute. Dementsprechend sollte Führung ausschließlich nach diesem Kriterium unterscheiden: entweder begleitend oder Freiraum schaffend. Den erfahrenen Mitarbeitern muss Freiheit gegeben werden, damit sie ihre eigenen Lösungen entwickeln können. Demgegenüber ist es wichtig, die noch wenig erfahrenen Einsteiger an die Hand zu nehmen. Führungskräfte müssen ihnen Zeit geben, damit diese Mitarbeiter aus ihren Fehlern für die Zukunft lernen und so zu Könnern werden. Wie schon Albert Einstein sagte: »Alles wirklich Große und Inspirierende wird von Menschen geschaffen, die in Freiheit arbeiten können.«

      Was zwischen Old School und New School zeitlich geschah

      Die Frage, die sich nun stellt: Was hat eigentlich den Umbruch zwischen Old-School- und New-School-Unternehmen herbeigeführt? Das Aufkommen des Internets und die Entstehung der sozialen Netzwerke, verbunden mit einem permanenten mobilen Zugang, haben zu dreierlei Zuständen geführt:

      imageeiner exponentiellen Vernetzungsdichte,

      imageeiner hohen Spontanaktivität und

      imagezu viralen Effekten mit Tendenz zur Selbstaufschaukelung.

      Dieser Dreiklang und die dazugehörigen Wechselwirkungen führen dazu, dass die Komplexität ständig steigt und niemand Vorhersagen darüber machen kann, wohin sich das Ganze entwickelt. Der Schmetterlingseffekt, so formuliert es der leider verstorbene Organisationspsychologe Peter Kruse, steckt immer dazwischen.14

      Für die Menschen ergibt sich aus dieser Entwicklung dreierlei:

      imageSie erhalten quasi überall und jederzeit Zugang zu allem Wissen der Welt.

      imageSie erleben Selbstwirksamkeit und können Spuren hinterlassen.

      imageSie können sich in Netzwerken organisieren und zu Bewegungen zusammenschließen.

      Dies wiederum führt zu einer grundlegenden Machtverschiebung vom Anbieter zum Nachfrager. Nicht der Anbieter entscheidet, wohin die Reise geht, der Nachfrager entscheidet, was zählt. Macht wird also umdefiniert. Das »Reh« hat nun die Flinte in der Hand. Wir bekommen extrem starke Kunden – und sehr starke Mitarbeiter.

      Die Ökosysteme der Netzwerkwelt werden eine solche Dynamik entfalten, so Peter Kruse, dass Unternehmen es sich schlichtweg nicht leisten können, sich nicht zu verändern. Was das aber bedeutet: Nicht die Menschen müssen verändert werden, sondern das organisationale System. Man muss stimmige Rahmenbedingungen schaffen, damit die Anpassung an die Flutwelle des Wandels gelingt. Oder, um es mal martialisch zu sagen: Mit alten Waffen kann man keine neuen Kriege gewinnen. In der Produktionswelt von gestern ging es um das Steuern und Stabilisieren. In der Digitalwelt von morgen sind hohes Tempo, adaptive Beweglichkeit und ständiges Innovieren in einem komplexen Umfeld die Norm.

      Komplex: Was in vernetzten Systemen passiert

      Komplexe Systeme steuern sich in hohem Maß selbst. Nehmen wir als Anschauungsmaterial die komplexesten knapp anderthalb Kilo, die die Natur je erschaffen hat: unser Gehirn. Es ist der beste Beweis für funktionierende Selbstorganisation. Kein Neuronenklumpen sagt so was wie: »Wenn ihr Vorschläge habt, reicht die mal hoch, damit ich entscheiden kann, wie wir diesen Menschen zum Laufen bringen.« Vielmehr passt sich unser Denkapparat ganz ohne Befehl von »oben« in einem permanenten Selbstlernmodus blitzschnell an die sich laufend ändernden Außenbedingungen an. Dazu greift er auf einen Mix aus genetischen Programmen, gespeicherten Erfahrungen, etablierten Routinen und vorherrschenden Mindsets zurück. Seine Verschaltungen laufen nicht linear, sondern über vernetzte Knotenpunkte, etwa 20 an der Zahl. So kann unser Hirn auf mehr als einem Weg zu guten Ergebnissen kommen. Zudem bezieht es eine hohe Zahl heterogener Sinneseindrücke mit ein, bevor es entscheidet. Diese Eindrücke werden auf Relevanz überprüft und dann gewichtet. Schließlich kontrollieren permanente Rückkoppelungsschleifen, ob eine getroffene Entscheidung die richtige war.

       Unser Gehirn ist ein Musterbeispiel für funktionierende Selbstorganisation.

      Nervenbahnen, die nicht regelmäßig benutzt werden, verwildern wie Trampelpfade im Wald. »Use it or loose it« nennt man dieses Prinzip. Neuronale Baupläne werden andauernd aufgebaut, umgebaut und auch wieder abgebaut. Stockt alles und führt nichts zum Ziel, kennt das Gehirn sogar einen Selbstreinigungsmodus. Nicht mehr dienliche Synapsenverschaltungen werden komplett weggeräumt, um Platz zu schaffen. Es kommt zu einer neuronalen Neuvernetzung. Als die Menschen sesshaft wurden, war das zum Beispiel der Fall. Die Fähigkeit, in freier Natur zu überleben und seinem Jagdglück zu frönen,


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