Die Orbit-Organisation. Anne M. Schüller
Neuheit abgelöst wird. Im Gegensatz zu einer evolutionären Innovation, die Existierendes verbessert und weiterentwickelt, bezeichnet die disruptive Innovation eine radikale, bahnbrechende Verdrängung. So löste einst auf den Weltmeeren das Dampfschiff das Segelschiff ab. Kein einziger Hersteller von Segelschiffen meisterte diesen Technologiesprung. Im Gegenteil: Diese versuchten, der neuen Antriebskraft mit mehr Segeln Paroli zu bieten. Heutzutage kommen umwälzende Disruptionen vor allem von Branchenneulingen aus der Digitalwirtschaft. So ist der Onlinehandel nicht von einem stationären Händler, das internetbasierte Bezahlen nicht von einer Bank und iTunes nicht von der Musikindustrie erfunden worden.
Disruption ist demnach kein Weitermachen im Trippelschritt-Modus auf vertrautem Terrain. Disruption ist völliges Neuland, der Sprung durch die Feuerwand der Unsicherheit. Doch darauf lässt man sich besser ein. Brandschutzmauern errichten? Bringt in diesem Fall gar nichts. Vor urplötzlichen Angriffen ist niemand sicher. Ihnen kann das nicht passieren? Sie sind ja schließlich Weltmarktführer! Das ist der Zukunft egal. Dem digitalen Wandel kann sich niemand entziehen. Wer nicht agiert, wird weginnoviert. Also sich selbst disrupten? Heutzutage: Na klar! Bevor es andere tun, tun Sie’s lieber selbst, um sich Wettbewerbsvorteile und finanzielle Erfolge zu sichern.
»Ganz nett, aber erzähl niemandem davon.« Ein Satz, der in die Geschichte einging. Zu hören bekam ihn Kodak-Mitarbeiter Steven J. Sasson, als er bereits 1975 eine von ihm erfundene Digitalkamera vorstellte. Der technologische Fortschritt zwingt jeden dazu, sich immer wieder neu zu erfinden. Selbstdisruption bringt dabei ganz gezielt Produkte in den Markt, mit denen man sich selbst Konkurrenz machen kann. Apple hat wiederholt den Mut dazu gehabt: beim iPhone, das dem iPod Marktanteile raubte, und auch beim iPad, das die Mac-Verkäufe kannibalisierte. Und obwohl man sich das kaum vorstellen kann, wird es Handys oder auch Suchmaschinen in ihrer heutigen Form eines Tages nicht mehr geben. Selbst Disruptoren sind nicht sicher vor Disruption. Deshalb sorgen sie vor. So hat sich Google unter der Dachmarke Alphabet mit wegweisenden Zukunftstechnologien längst neu aufgestellt. In Organisationen alter Schule hingegen, in denen Abteilungsleiter regieren und jeder sein Territorium hermetisch bewacht, weil daran Vorgaben, Planzahlen und Zielerreichungsboni hängen, wird Selbstdisruption torpediert. So machen sich klassische Unternehmen zu Gefangenen ihrer eigenen Managementmethoden, nämlich solchen, mit denen sie früher mal siegreich waren. Doch auch das ist der Zukunft egal.
Disruptionen werden von etablierten Anbietern zudem meist unterschätzt, weil sie bei ihrem Auftauchen zunächst unbedeutsam und vage erscheinen. Sie verlaufen praktisch niemals nach Plan. Sie lassen sich nicht vorbudgetieren und auch nicht bis ins Detail vorkalkulieren. Märkte, die noch nicht existieren, können nicht analysiert, höchstens hoffnungsvoll vorgeschätzt werden. Ein Albtraum für den Controller. Der will genaue Zahlen. »Haben wir denn wenigstens unsere Kunden befragt, was die dazu sagen?«, insistiert er. Besser nicht. Denn Neues ist nur in den Kategorien des Bekannten für die Kunden fassbar. Anschlussfähigkeit wird gebraucht. Wer also das vollkommen Neue mit klassischer Marktforschung bei angestammten Kunden testen will, erntet eher Fehlprognosen, etwa so: Niemand brauche ein Mobiltelefon für 500 Dollar, das nicht mal eine Tastatur habe, erklärte der frühere Microsoft-Chef Steve Ballmer 2007 in einem Interview zum ersten iPhone überheblich.11 Kacheln im Handy? Die Leute wollen telefonieren, war sich ein hochrangiger Nokia-Manager sicher. Wenn selbst absolute Vollprofis bei Disruptionen derart danebenliegen, wie will da ein »Normalo« akkurate Vorhersagen machen? Wer dies fordert, zwingt die Leute zur Zögerlichkeit und strandet auf Nummer sicher in vertrauten Gefilden. Neue Businesslogiken lassen sich nicht mit alten Management-Denkmustern lösen.
Disruption bringt jeden dazu, sich immer wieder neu zu erfinden.
Ein zusätzliches Manko: Große Unternehmen brauchen große Zahlen, viele Kunden, jede Menge Umsatz und hohe Margen, um die geforderten Wachstumszuwächse zu erreichen. Ressourcen-Allokationen gehen dorthin, wo die großen Zahlen sind. Unter solchen Umständen kümmert sich niemand um Außenseiter. Kein Marketer hängt sich in etwas Vages rein, und kein Manager setzt seine Karriere aufs Spiel, solange er an Kurzfrist-Vorgaben gemessen wird. Wie soll unter solchen Umständen Disruptives entstehen? Wer immer zuerst nach Kennzahlen fragt und das Verfehlen von Plansolls öffentlich ahndet, macht sich zum Totengräber von Innovation und Kundenzentrierung. Nicht nur das, was man potenziell hinzugewinnt, sondern auch die verpassten Gelegenheiten und all das, was man dadurch auf Dauer verliert, müssen mit einkalkuliert werden. Investitionen in demnächst unrentable Technologien müssen dezimiert und Freiräume für wirklich innovative Geschäftsmodelle geschaffen werden.
Doch selbst die jüngste Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass Firmen sich fast immer dafür entscheiden, die bestehenden Einnahmequellen zu schützen. Mit oft verheerendem Ausgang, wie man regelmäßig der Presse entnimmt. Das wahre Grundproblem rückt dabei allerdings kaum in den Vordergrund: die hoffnungslos veraltete Organisationsstruktur. Sie muss als Erstes disruptet werden. Eine Vielzahl von Pionierunternehmen hat dies längst in Angriff genommen. Die große Mehrheit der etablierten Unternehmen hingegen klebt weiter fest an ihrem pyramidalen System.
Hoffnungslos veraltet: Die Pyramidenorganisation
Schauen wir uns zunächst an, wie pyramidale Systeme grundkonzipiert sind. Das erkennen wir gut in Abbildung 3:
Ein solches Denkmodell hängt der männlichheroischen Ansicht nach, dass es ein paar wenige weit oben gäbe, die »den ganzen Laden schmeißen«. Viele Symptome des Abblockens neuer Organisationsstrukturen, aber auch das weitläufige Fehlen weiblicher Führungskräfte im obersten Stock, haben ihren Ursprung in diesem veralteten Mindset.
Visuell manifestiert sich dieses Denkmodell als Top-down-Organigramm. Es ist derart Standard, dass man es, scheinbar alternativlos, in klassischen Organisationen quasi überall findet. Im Wesentlichen wird darin dokumentiert, wer wem vorgesetzt und wer wem untergeben ist. In einer Selbstschau strukturiert man sich nach Funktionen oder Geschäftsbereichen. Die Kommunikation läuft hierarchisch von oben nach unten und wieder zurück. Was bedeutet: Oben wird gedacht, unten wird gemacht. Führungskräfte werden vor allem dafür bezahlt, dass die Mitarbeiter wie gewollt spuren. »Dienst nach Vorschrift« ist üblich. Ganze Abteilungen sind dazu da, andere zu kontrollieren.
Abb. 3: Das Pyramidenmodell einer klassischen Unternehmensorganisation
Gearbeitet wird zentralistisch organisiert in Formationen, die man gerne »Silos« nennt. Querverbindungen gibt es nur oben, zwischen den unteren Ebenen offiziell nicht. So weiß oft die rechte Hand nicht, was die linke tut, und genau das ist die Krux: Silodenke ist mit der Flexibilität, die die Märkte und Kunden heute verlangen, nicht vereinbar. Funktionssilos sind Anomalien. Sie stehen für Abschottung und Isolation, Netzwerke hingegen für Dialog und Zusammenarbeit. Silos sorgen für den gefährlichen Tunnelblick, Netzwerke für eine reiche Rundum-Perspektive. Wirklich Neues entsteht an Schnittstellen, in Randbezirken und dort, wo flexible Einsatztruppen interdisziplinär agieren – aber niemals in Silos.
Was vermittelt uns zudem ein Organigramm? Der Chef thront ganz oben, darunter, in Kästchen eingesperrt,