Persönlichkeit führt. Dietmar Hansch
vor allem die sogenannten »systemischen (Therapie-)Ansätze«.
1 Grundlagen – was Sie über Gehirn und Psyche wissen müssen
1.1 Flow – Surfen auf den Wellen des Seins
Flow als Generalschlüssel
Wenn man die Menschen fragt, was sie sich am meisten wünschen, kommen Antworten wie: Glück, Gesundheit, gelingende Beziehungen, Spontaneität, Kreativität und beruflicher Erfolg. Tatsächlich gibt es eine Art Generalschlüssel zu all dem: Flow. Wem es gelingt, oft und lange im Flow-Zustand zu leben, der hat die besten Chancen darauf, dass sich diese Wünsche erfüllen. Sie glauben mir nicht? Lassen Sie sich überzeugen. Was also ist Flow?
Flow-Erfahrungen
Zuerst vielleicht einmal ein paar beispielhafte Schilderungen von Flow-Erfahrungen, die von Mihaly Csikszentmihalyi (2004), dem geistigen Vater des Flow-Konzepts, gesammelt wurden:
So gab ein Chirurg zu Protokoll: »Bei einem guten operativen Eingriff ist alles, was man tut, wesentlich, jede Bewegung ist absolut richtig und notwendig; da ist Eleganz, nur wenig Blutverlust, minimales Trauma … Das ist sehr angenehm, vor allem wenn das Team reibungslos und effizient zusammenarbeitet.«
Der Dichter Richard Jones schilderte seine Empfindungen beim Schreiben so: »Ich habe das Gefühl, dass da Energie durchläuft und ich blockiere sie nicht und setze ihr nichts entgegen. Eine sehr intelligente Energie fließt durch den Körper, wenn man schreibt, und es ist die Energie, die sich konzentriert und umgesetzt wird, nicht der Geist. Flow tritt ein, wenn ich es dem Schreiber in mir nicht gestatte, sich ins Schreiben einzumischen. Und wie mische ich mich ein? Ich fange an nachzudenken.«
Und schließlich der Komponist Ralph Shapey: »Man ist in einem Zustand der Ekstase, und zwar so sehr, dass man das Gefühl hat, nicht zu existieren. Ich habe das immer wieder erlebt. Meine Hand scheint losgelöst von mir, und ich habe nichts mit dem zu tun, was geschieht. Ich sitze nur und beobachte, ehrfürchtig und staunend. Und die Musik fließt einfach von sich aus heraus.«
Flow literarisch
Eine sehr schöne Beschreibung des Flow-Zustandes in der Literatur fand Csikzentmihalyi in dem Roman Anna Karenina von Lew Tolstoi, wo der reiche Landbesitzer Lewin von seinem Leibeigenen Tit lernt, mit einer Sense Gras zu mähen:
»Lewin verlor jedes Bewusstsein der Zeit und wusste absolut nicht mehr, ob es spät oder früh war. In seiner Arbeit ging jetzt eine Veränderung vor sich, die ihm höchsten Genuss bereitete. Mitten in der Arbeit hatte er Augenblicke, in denen er vergaß, was er tat; es ward ihm leicht zumute, und in diesen Augenblicken war sein Streifen gerade so gleichmäßig und schön, wie Tits. Kaum aber besann er sich darauf, was er tat, und wollte sich Mühe geben, es besser zu machen, als er gleich die ganze Schwere der Arbeit fühlte und sein Streifen schlecht ausfiel … Und immer häufiger kamen jene Augenblicke des halb unbewussten Zustandes, in dem man nicht daran zu denken brauchte, was man tat. Die Sense mähte von selbst. Das waren glückliche Augenblicke.« (zit. n. Csikszentmihalyi 2004, S. 85)
Aus diesen und anderen Schilderungen lassen sich folgende Charakteristika des Flow-Erlebens herauskristallisieren:
Die Essenz der Flow-Erfahrung
• Alles geht leicht. Mit verhältnismäßig geringem Aufwand wird eine große Wirkung erzielt. Man muss sich nicht anstrengen, und wenn doch, dann wird die Anstrengung als angenehm und im Vergleich zur Aufgabe als gering empfunden.
Im Tun aufgehen
• Es läuft wie von selbst. Nicht ich handle, sondern »es« handelt. Man geht auf im Fluss des Seins, fühlt sich als Teil eines Prozesses, der größer ist als man selbst. Was geschieht, folgt nicht einer Planung unseres bewussten Ich. Es erwächst aus einer irgendwie dem Sein unmittelbar innewohnenden Entfaltungslogik. Das bewusste Ich wird ganz oder nahezu vom Gegenstand der Tätigkeit absorbiert. Man vergisst sich selbst und die Zeit.
• Es entstehen Empfindungen absoluter Sicherheit und absoluten Vertrauens, Gefühle der Freude und Harmonie, Gefühle des Einsseins mit der Welt.
• Alle angeborenen und gelernten Potenziale können sich optimal entfalten. Die Chancen auf hohe Leistung und Kreativität sind maximal.
Flow-Situationen
Elementarformen dieses Flow-Zustandes kann man relativ leicht bei einfachen Alltagsaktivitäten erleben, wenn man entspannt ist und sich voll auf die Empfindungen und Wahrnehmungen im Hier und Jetzt konzentriert: beim Gehen und Abwaschen, beim Bügeln oder Fensterputzen. Intensivere Flow-Erfahrungen aber macht man bei komplexen und schwierigen Tätigkeiten, sofern man sich die nötigen Kompetenzen angeeignet hat: beim Tanzen oder Musizieren, beim Sport oder Schachspiel, beim Schreiben eines Textes oder beim Nachdenken und Diskutieren über Mathematik oder Philosophie, beim Halten eines Vortrags oder bei der Leitung einer Konferenz.
Wichtige Fragen sind: Wie wäre es, wenn wir den überwiegenden Teil unseres täglichen Tuns mühelos im Flow verrichten könnten? Wäre das nicht wirklich so etwas wie ein Surfen auf den Wellen des Seins? Wie können wir das erreichen?
Stress und Flow als Gegenpole
Flow ist das Gegenteil von Stress und stressassoziierten ungesunden psychischen Zuständen (z.B. Angstzustände, Depressionen). Stress entsteht unter ganz bestimmten Umständen: wenn ich reflektierend aus dem Sein heraustrete und ein Soll definiere, das zum Ist in Differenz steht, wenn ich diese Differenz bewusst bewerte und als bedrohlich empfinde und wenn ich mit meinem Willen Druck ausübe, um das Sein in die Form des gedanklich definierten Soll zu pressen (wir werden das später noch ausführlich besprechen).
Wenn Stress in Flow umschlägt
Besonders in Situationen, die oft mit Stress und Anspannung verbunden sind, wird der Eintritt von Flow als überwältigende Glückserfahrung erlebt. Denken Sie etwa an die Entwicklung einer Liebesbeziehung, bei der die ersten Umarmungen und Küsse ganz ohne Planung und Verkrampfungen wie von allein geschehen und Sie das Gefühl haben, dass sie sich ohne bewusste Entscheidung notwendig ereignen. Oder wenn man zu ein und demselben Thema sehr oft Vorträge hält – irgendwann beherrscht man den Stoff so traumhaft sicher, dass das Erleben in einen Dauer-Flow umschlägt.
Wie insbesondere die Studien von M. Csikszentmihalyi (1993) gezeigt haben, tragen häufige Flow-Momente im Alltag entscheidend zu Glück und Lebenszufriedenheit bei. Flow ist die höchste Form von psychischer Harmonie. Man kann davon ausgehen, dass sie auch harmonisierend auf körperliche Funktionsabläufe wirkt und so zur psychosomatischen Gesundheit beiträgt.
Wenn es also so etwas wie einen Generalschlüssel, einen Haupthebel zur Verwirklichung unserer wichtigsten Wünsche gibt, dann ist das Flow.
Es wäre wunderbar, wenn es uns gelingen könnte, möglichst lange und oft im Flow zu sein. Leben wie ein Vogel fliegt – so formulieren es die Buddhisten. Doch wie kommen wir zu Flow?
Flow-Potenzial
Nun, in der konkreten Situation gibt es keine Garantie dafür, in den Flow-Zustand zu kommen. Aber wir können in unserer Persönlichkeit Bedingungen schaffen, die unsere Chancen auf Flow erhöhen. Diese Bedingungen wollen wir als Flow-Potenzial bezeichnen. Je mehr Flow-Potenzial wir in uns aufbauen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, im Alltag oft und lange Flow zu leben. Wie können wir unser Flow-Potenzial steigern? Dabei helfen uns zwei Prozesse, die sich wechselseitig fördern: innere Befreiung und inneres Wachstum.
1.2 Das Tausendfuß-Problem: Ich und Selbst