Die Illusion der Unbesiegbarkeit. Paul Williams

Die Illusion der Unbesiegbarkeit - Paul  Williams


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des Niedergangs gegen? Wie schärfen wir unsere Sinne, wie blicken wir hinter die Kulissen des Tagesgeschäfts? Diesen (und weiteren) Fragen sind die folgenden Kapitel gewidmet. Die jeweils wichtigsten Erkenntnisse eines Kapitels bündeln wir am Ende zu einem »Inca-Impuls«. Fangen wir gleich damit an!

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       INCA-IMPULS

      •Der Moment der größten Stärke und des größten Erfolgs ist zugleich der Moment der größten Verletzbarkeit.

      •Analysieren Sie Ihre »offenen Flanken« – vor allem dann, wenn Sie sich unbesiegbar fühlen!

      »Die Nummer Eins zu werden, muss ein erklärtes Ziel sein in allem, was du tust. Aber ›being number one‹ heißt nicht ›being the biggest‹.«

      GERD STÜRZ, LIFE SCIENCES DACH-CHEF VON EY

       1 Eine fesselnde Vision – oder organisierte Überforderung?

      Kaum eine Imagebroschüre oder Unternehmenswebsite kommt ohne eine »Vision« aus, und wer Topmanagern schmeicheln will, bezeichnet sie als »visionär«. Doch sind Visionen tatsächlich immer nützliche Treiber des Geschehens? Bei den Incas war das einige Jahrzehnte lang der Fall – bis sich ihr Schicksal gerade durch das Diktat ihrer ambitionierten Ziele dramatisch wendete. Karten ihres Reiches beeindrucken noch heute. Sie zeichnen das Bild einer kontinuierlichen Expansion über rund 4500 Kilometer entlang der Westküste Südamerikas, und das in nur sechs Jahrzehnten. Am Ende umfasste das Inca-Imperium ein Gebiet, das sich über Teile des heutigen Ecuador und Peru, Bolivien, Chile und Argentinien erstreckte (siehe Abb. 2). Was steckt hinter dieser rastlosen, geradezu unersättlichen Eroberungspolitik? Die Inca-Herrscher sahen ihre Bestimmung darin, »Ordnung in die Welt zu bringen«. »Veränderer der Welt« oder »Retter der Erde« lautet übersetzt der Name, den sich der Inca Pachacútec gab. Unter seiner Führung begann 1438 die Ausdehnung des Reiches. Dabei konnte die »Welt AG« der Incas gar nicht groß genug sein, ganz wie bei den Global Playern des Silicon Valley heute. Am Ende war ihr Riesenreich nur noch mit Mühe regierbar, doch Rückzug war keine Option. Ähnlichkeiten mit Großkonzernen sind kaum zufällig … Von den Incas wurde jeder Feind eines unterworfenen Volkes als neuer eigener Feind betrachtet. Das forderte weitere Kriegszüge und befeuerte ihre Expansionspolitik stetig. Schließlich verwandelte sich die ehrgeizige Vision in eine Gefahr, die den Untergang des Reiches beschleunigte, weil unterworfene Völker nicht mehr rasch genug integriert werden konnten. Viele von ihnen schlossen sich bereitwillig den spanischen Konquistadoren an, die das Inca-Reich zu Fall brachten.1

      Abb. 2: Ausdehnung des Inca-Reiches im 15. Jahrhundert

      Die selbstbewusste Ur-Idee der Incas, die Welt zu ordnen, besaß offenbar eine erstaunliche Durchschlagskraft. Über Jahrzehnte bestimmte sie das Handeln der Elite, den Export von Anbaustrategien und Bewässerungstechniken, die Nutzung der Ressourcen und handwerklichen Fähigkeiten der »Eingegliederten« – immer mit dem Ziel, den eigenen Machtbereich konsequent auszudehnen und ein reibungslos funktionierendes Staatswesen zu schaffen. Hungern musste im Inca-Imperium niemand, Funde weisen keine Indizien für Mangelernährung auf. Das sah im Europa des 15. Jahrhunderts anders aus. Frei entscheiden konnte im Inca-Reich allerdings auch kaum jemand: Ganze Dörfer wurden umgesiedelt, Handwerker in die Zentren verfrachtet, Arbeitstribute eingefordert. Dass die Inca-Vision einer geordneten Welt dennoch über weite Strecken große Anziehungs- und Überzeugungskraft besaß, hängt auch damit zusammen, dass sie perfekt in die Zeit passte. Ab dem 11. Jahrhundert hatten klimatische Veränderungen mit Dürren im Landesinnern und verheerenden Niederschlägen an den Küsten zu Hungersnöten und dauerhaften kriegerischen Auseinandersetzungen geführt. Nach einer Periode des Chaos war die Vision einer geordneten Welt offenbar so attraktiv, dass manche indigenen Völker das Angebot einer »freundlichen Übernahme« ohne Gegenwehr akzeptierten.

      Eine Vision, die in die Zeit passt und wie ein Leitstern strategische Entscheidungen und alltägliches Handeln bestimmt, steht am Anfang vieler großer Unternehmen. Eine solche Vision kann Menschen begeistern, sie zum Mittun anregen, motivieren. Bekannte Beispiele sind Bill Gates’ ehrgeiziges Ziel, »einen Computer auf jedem Schreibtisch, in jedem Haus« zu ermöglichen, oder der Anspruch von Google, »das Wissen der Welt« verfügbar zu machen. Beide Visionen markieren den Beginn einer neuen Ära, die Microsoft und Google entscheidend prägten und bis heute prägen. Auch Jeff Bezos’ Vision, mit Amazon »das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt« zu schaffen, gehört in diese Kategorie. Steve Jobs definierte ebenso schlicht wie ambitioniert: »A vision is how you will make the world a better place«, und reklamierte für sich, eine Delle ins Universum zu schlagen.2 Der Anspruch der Incas, die Welt zu ordnen, erscheint da gar nicht mehr so vermessen. Jobs jedenfalls nahm für sich und sein Unternehmen in Anspruch, radikal anders zu sein (»Think different«) und eher alles auf eine Karte zu setzen, als »Me-too«-Produkte herzustellen.3 Kein Wunder also, dass Visionen manchmal als Königsweg zum Unternehmenserfolg gepriesen werden. Doch das ist ein gefährlicher Gedanke, wie das Ende des Inca-Reiches illustriert. Überhaupt: Wie viele der zitierten Visionen sind vielleicht erst im Rückblick entstanden? Wann also brauchen Sie wirklich eine »Vision«, wie sollte sie aussehen und welche Fehler können einer Organisation dabei unterlaufen?

      »Wir brauchen keine Vision – pünktliche Lieferung reicht völlig!«

      Wer in großen Unternehmen arbeitet, kommt früher oder später an Workshops zu »Visionen«, »Leitbildern« oder »Missionen« nicht vorbei. Dabei verschwimmen die Begriffe vielfach und es passieren sonderbare Dinge. Für uns ist eine echte »Vision« eine ambitionierte, aber realistische Zielprojektion, die geeignet ist, Mitarbeiter wie auch andere Stakeholder zu begeistern. (Okay, Steve Jobs’ »Delle« scheint nicht realistisch, aber die nehmen wir metaphorisch.)

       Wenn es brennt, lieber erst das Feuer löschen

      Wie man Visionen eindeutig nicht kreieren und installieren sollte, erlebte Andreas Krebs in einer internationalen Sitzung bei einem Global Player im Life-Science-Bereich. Der Hintergrund: In einigen Ländern gab es massive Lieferschwierigkeiten bei einem Schlüsselprodukt, weil bestimmte Rohstoffe nicht rechtzeitig geliefert wurden. Es drohten also erhebliche Umsatzeinbrüche. Mitten in der hitzigen Diskussion der international vom Vorstand und den wichtigsten Länderchefs besetzten Runde wurde vom CEO der 45-minütige Programmpunkt »Technical Operating Vision« (Vision des Zentralbereiches Produktion) angekündigt. Nach einem Imagefilm mit pathetischen Zukunftsparolen (»We want to be the best« usw.) begann eine Mitarbeiterin mit einer umfangreichen PowerPoint-Präsentation. Schon bei Folie 3 platzte dem Landeschef aus Frankreich der Kragen: »Hey guys, we don’t need to be the best, just normal supply would be fine!« Großes Gelächter – und eine düpierte Visionsbeauftragte.

      An einer Vision zu arbeiten, während das Unternehmen mitten in einer Krise steckt, ist ungefähr so, als würde ein Kapitän bei Windstärke 12 die Mannschaft zusammentrommeln, um die Schönheit eines Ziels zu beschwören, das man möglicherweise niemals erreichen wird. Wie kommt es zu solchen Absurditäten? Aus der Beobachtung heraus, dass erfolgreiche Unternehmen oftmals über eine zündende Vision ihrer Zukunft und ihres Beitrags zur Welt verfügen, wird ein falscher Umkehrschluss gezogen: Erst die Vision, der Rest ergibt sich! Doch überzeugende Visionen sind keine Retortenprodukte, die man mal eben zusammenbastelt. »Visionen lassen sich nicht machen, man muss sie sich entwickeln lassen. Dieser Prozess darf nie enden«, sagt Knut Bleicher, Wirtschaftswissenschaftler und früherer Leiter der Business School St. Gallen.4

      Hat Bezos wirklich – wie auf der Amazon-Website behauptet5 – vom ersten Tag an auf die Weltherrschaft in Sachen Kundenorientierung abgezielt?


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