Mut braucht eine Stimme. Peter Holzer
Was willst du ihnen mit auf ihren Weg geben?
Zeitmanagement macht einen sinnlosen Weg nicht sinnvoller.
Auf keine dieser Fragen gibt das Zeitmanagement eine Antwort. Das Leben ist wie eine Leiter, die wir hinaufklettern. Techniken der Selbstorganisation helfen durchaus dabei, die Leiter schneller zu erklimmen. Aber was hilft Ihnen das, wenn Sie oben ankommen und feststellen: Die Leiter steht an der falschen Wand? Das effizientere Begehen eines Weges macht einen sinnlosen Weg nicht sinnvoller. Nur weil Sie schneller rennen, wird aus einem Hamsterrad keine Karriereleiter. Außerdem wissen Sie bereits aus Erfahrung: Die durch schnelleres Rennen gewonnenen Zeitfenster werden sofort wieder vom Tornado aufgefüllt. Die Input- und Instant-Viren sind immer noch da! Warum? Weil Ihr »Immunsystem« schwächelt.
Ich erlebe immer wieder Vorstände, Manager, Topführungskräfte, die »es« geschafft haben. »Es« richtet sich nach dem Maßstab der Gesellschaft, der ein erfolgreiches Leben definiert: hohes Einkommen, Prestige, toller Firmenwagen, sozialer Status. Und trotzdem fehlt diesen Menschen etwas. Irgendwann meldet sich eine Leere und Unzufriedenheit, die schwer greifbar ist. Und für Außenstehende auch schwer nachvollziehbar. »Du hast doch alles erreicht. Was bist du denn so unzufrieden?« Die Antwort ist einfach: Sie sind unzufrieden, weil sie immer noch nicht genau wissen, was für sie die wirklich wichtigen Dinge im Leben sind.
Wenn Sie sich das bewusst gemacht haben, brauchen Sie kein Zeitmanagementseminar. Steve Jobs1 wird das Zitat zugeschrieben: »Ich bin auf die Dinge, die wir nicht getan haben, genauso stolz wie auf die Dinge, die wir getan haben.« Im Leben geht es nicht darum, wie ich noch mehr in meinen Tag hineinpacke. Viel wichtiger ist die Frage: Was lasse ich alles draußen?
Schauen Sie doch mal in die letzte Woche Ihres Kalenders. Welche der Termine, Telefonate und Treffen waren für die Katz? Welche würden Sie am liebsten streichen, weil sie nur Lärm, Ablenkung und ohne Output für Sie waren? Die gute Nachricht: Sie können das auch für diese Woche tun. Und für die nächste Woche. Sie können Ihr ganzes Leben vereinfachen. Sortieren Sie einfach Termine, Klubmitgliedschaften, Gremienzugehörigkeiten, Projektlisten, Rückrufbitten und – ja, auch Freundschaften – aus (es gibt einen großen Unterschied zwischen echten Freunden und Zeitabschnitts- und Zweckbekannten). Dazu braucht es nur Mut.
Ja, es braucht Mut, um bestimmte Kundenanfragen nicht mehr anzunehmen, um die Teilnahme an Meetings abzulehnen, die Ihnen nichts bringen oder zu denen Sie nichts beitragen können, um nicht jedes geschäftliche Event und jede Weiterbildung zu besuchen, um die Einladung der Bekannten zum Geburtstag des jüngsten Sohnes auszuschlagen oder der Schwiegermutter klarzumachen, dass Sie sie nicht jedes Wochenende besuchen werden. Schließlich enttäuschen Sie in diesen Fällen die Erwartungen Ihrer Mitmenschen. Erst recht dann, wenn Sie die Bitten und Anfragen bisher immer angenommen und erfüllt haben.
Ein »Nein« erzeugt Reibung. Insbesondere bei hierarchischen Beziehungen: Wenn Sie Ihrem Chef auf einmal widersprechen, obwohl Sie doch bisher zu all seinen Vorschlägen Ja und Amen gesagt haben, steckt darin Konfliktpotenzial. Doch der selbst befeuerte Mechanismus des Tornados lässt sich nur durchbrechen, wenn Sie wissen, was Ihnen wirklich wichtig ist, und wenn Sie den Mut haben, dazu zu stehen und Ihre Werte zu vertreten – trotz möglicher Einbußen.
Wenn eine bessere Zeiteinteilung nicht die Lösung des Problems ist – könnte es dann sein, dass die neuen technischen Möglichkeiten weiterhelfen können? In allen Lebensbereichen – zum Beispiel Ernährung, Sport, Logistik, Produktion, Verkehr, Medizin und Gesundheit – gibt es ständig technische Innovationen und wissenschaftliche Errungenschaften. Sie eröffnen ungeahnte Möglichkeiten. Und ich denke dabei nicht nur ans iPhone oder die Konservierbarkeit von Lebensmitteln, an Same-Day-Delivery und Just-in-time-Produktion, sondern auch an neue Entdeckungen, von denen wir jetzt noch gar nicht wissen, wie sie unseren Alltag in fünf bis zehn Jahren beeinflusst haben werden.
Nehmen wir zum Beispiel medizinische Optionen wie das Social Freezing. Ursprünglich konzipiert zur Konservierung der Eizellen weiblicher Krebspatientinnen vor einer Chemotherapie, ist Social Freezing inzwischen zum Massenphänomen avanciert. Firmen wie Apple oder Facebook bieten ihren Mitarbeiterinnen sogar an, die Kosten dafür zu übernehmen, um von der Schaffenskraft junger Frauen länger profitieren zu können. Das Verfahren wird als probates Mittel gepriesen, die eigene Zeit nicht zu verschwenden. Wir spielen einfach ein bisschen Gott und bestimmen über Leben und Tod.
Es scheint, als würden mit solchen Instrumenten immer mehr Dinge in immer kürzerer Zeit machbar – ein optimiertes und immer dichter gepacktes Leben wird zur Normalität. Aber helfen diese Mittel uns wirklich dabei, alles tun zu können und zu nichts mehr »Nein« sagen zu müssen? Vermehrt sich unsere Zeit dadurch?
Es ist richtig, dass Sie zum Beispiel während einer S-Bahn-Fahrt in 20 Minuten Dinge erledigen können, für die Sie früher mehrere Stunden gebraucht hätten: Lebensmittel einkaufen, Klamotten aussuchen, den Bürobedarf für den nächsten Monat ordern, E-Mails beantworten, Flüge buchen, Rückrufe tätigen, Fotos machen und verschicken, eine Audionotiz aufzeichnen und versenden und vieles mehr. Und das alles, ohne auch nur ein einziges Mal aufzustehen. Doch ob Sie mit dieser gestiegenen Effizienz zum Ziel kommen, hängt davon ab, ob Sie mit der Abarbeitung der Aufgaben wirklich Freiräume schaffen und für Ihr Wohlbefinden sorgen – oder ob Sie nicht stattdessen die Zahl der abzuarbeitenden Aufgaben verdoppelt haben. Denn auch Ihre Kollegen – gar nicht faul – nutzen jede freie Minute, um »mal eben was zu erledigen«. Sie beantworten zum Beispiel Ihre Mail oder nutzen ihre freie Minute, um Ihnen eine neue Aufgabe an die Hacken zu heften. Und so hecheln Sie genauso wie zuvor wieder dem Aufgabenberg hinterher, der statt geschrumpft schlechtestenfalls sogar noch angewachsen ist. Vielleicht hat Sie der Effizienz- und Geschwindigkeitswahnsinn im Management Ihres Tornados weitergebracht. Doch was ist mit den wirklich wichtigen Dingen in Ihrem Leben? Ihre Ehe ist durch den ganzen Kram nicht romantischer geworden. Die Beziehung zu Ihren Kindern nicht enger. Und der Kontakt mit Ihren Eltern nicht versöhnlicher.
Gerade im Umfeld von Lebensentscheidungen wütet der Tornado heftig.
Gerade im Umfeld von Lebensentscheidungen wütet der Tornado heftig. Und besonders dort werden wir Opfer des Instant-Virus. Denn wenn eine Mitarbeiterin den Kinderwunsch auf später verschiebt, um ihre Karrierechancen zu nutzen, findet sie gar keine Zeit, ihren eigenen Lebensweg zu verfolgen. Für Kinder braucht es auch den richtigen Partner. Aber für Dating und Flirten ist – der Karriere sei Dank – gerade keine Zeit. Erst muss sie noch all das Wichtige erledigen, bevor sie sich der Partnersuche und möglichen Kindern widmet. Wenn sie dann mit 45 immer noch keinen Partner an ihrer Seite hat – oder alle Zeugungsversuche missglückt sind –, schlägt die harte Realität zu. Wir haben eben keine Sicherheit, dass alles so kommt, wie wir es planen. In unserer von der Natur bereinigten Kunstwelt voller Hightech und Wissenschaft vergessen wir gerne, dass wir trotz allen Fortschritts (noch) nicht alles kontrollieren und beeinflussen können.
Völlig verblendet durch Instant- und Input-Virus und den wilden