Der kleine Eheretter. Monika Röder
Viele Paare streiten sich schon über die Frage, was Streit ist: »Sei doch nicht immer so aggressiv. Warum wirst du schon wieder laut?«, sagen die einen. »Das ist doch kein Streit. Das ist eine Diskussion!«, sagen die anderen. Wir sind durch unsere Herkunfts- und Familienkulturen unterschiedlich geprägt und empfinden ein bestimmtes Verhalten daher auch ganz unterschiedlich.
Wie ist das bei Ihnen? Finden Sie, Sie streiten zu viel? Oder zu wenig? Oder falsch? Durch welche Art von Auseinandersetzungen sind Sie geprägt? Wurde in Ihrem Elternhaus viel gestritten oder wenig? Wurde es auch mal feindselig? Destruktiv? Verletzend? War das Konfliktverhalten vielleicht auch gewalttätig?
Oder war es bei Ihnen zu Hause eher ruhig? Haben sich die Eltern für ihre Meinungsverschiedenheiten zurückgezogen? Oder haben sie Auseinandersetzungen gänzlich vermieden? Sollten alle nett und harmonisch miteinander sein? Wurden Konflikte evtl. auch unter den Teppich gekehrt?
Lernen am Modell
Was wir als Kinder erfahren haben, prägt oft unseren eigenen Stil, wie wir Konflikte gestalten. Wir lernen dabei am Modell, d. h. am Vorbild der Eltern und anderer Familienmitglieder. Wir sehen und spüren, wie diese miteinander umgehen, und lernen schon allein durch Beobachtung, was uns sinnvoll erscheint: Wenn es beispielsweise zwischen Vater und Mutter oder älteren Geschwistern ziemlich ruppig zugeht, diese dafür übel bestraft werden und uns das Angst macht, dann lernen wir, es lieber anders zu machen und nicht in die gleichen Fettnäpfchen zu treten. Oder wir lernen, genauso tough zu werden und zurückzuschießen.
Lernen aus eigenen Erfahrungen
Neben dem Modell lernen wir auch aus eigenen Erfahrungen. Wenn wir spüren, dass unsere Eltern mit eigenen Problemen beschäftigt sind und uns nur bei bestimmten Leistungen beachten, dann verinnerlichen wir, dass wir etwas leisten müssen, um beachtet zu werden. Wenn wir erleben, dass unsere Eltern liebevolle Gefühle nicht zeigen können, dann lernen wir, mit wenig Zuwendung auszukommen. Vielleicht werden wir auch bloßgestellt oder lächerlich gemacht, wenn wir uns mit unseren Bedürfnissen und Gefühlen zeigen, also lernen wir, sie zurückzuhalten. Vielleicht werden wir sogar schlecht behandelt, geschlagen, abgewertet oder vernachlässigt. Wenn dann niemand da ist, dem wir unser Herz öffnen können, gewöhnen wir uns an, unsere Gefühle zu maskieren und uns unberührbarer zu zeigen, als wir eigentlich sind.
Der Prototyp im Gehirn
Diese Erfahrungen, die uns in frühen Jahren prägen, werden als Beziehungs- und Bindungsmuster bezeichnet. Sie sind aufgrund des frühen Stadiums in der Hirnentwicklung sehr stabil und meist unbewusst. Solche früh geprägten Muster bilden im Gehirn praktisch den Prototypen für spätere Beziehungserfahrungen. Das funktioniert wie ein Schubladensystem: Wir entwickeln Schubladen mit bestimmten Aufschriften, z. B.: »Ich bin intelligent«, »Ich bin liebenswert«, »Ich schaffe das«, »Ich bekomme Unterstützung, wenn ich sie brauche«, »Ich gehe auf andere zu und werde abgelehnt«, »Ich gehöre dazu und bin gern gesehen« etc. Und alle späteren Beziehungs- und Bindungserfahrungen werden dann in dieses Schubladensystem einsortiert.
Wunde Punkte
Im Gehirn sind dann stärkende und schützende Einstellungen abgespeichert – wie etwa, dass ich liebenswert bin, um Hilfe bitten kann oder klug bin. Doch was ist los, wenn jemand bestimmte wichtige Erfahrungen nicht gemacht hat? Vielleicht kennen Sie jemanden, der z. B. extrem viel leistet, aber nie das Gefühl hat, fertig zu werden? Oder jemanden, der ganz viel Lob und Anerkennung braucht, die positiven Rückmeldungen aber trotzdem nie richtig glaubt? Vielleicht kennen Sie das auch von sich selbst ein bisschen?
Hintergrund ist dabei oft, dass eben die entsprechenden Schubladen nicht oder nur ansatzweise angelegt wurden. Dem kleinen Kind ist vielleicht zu selten gespiegelt worden, dass es liebenswert, fleißig oder talentiert ist. Stattdessen wurden Schubladen angelegt wie »Ich muss alles allein schaffen« oder »Wenn’s mir mal gut geht, kommt ganz schnell was Schlechtes«. Aus diesem Defizit heraus entsteht ein fast unstillbares Bedürfnis danach, Lob oder Anerkennung zu bekommen. Doch wenn es keine Schublade gibt, bleiben die Komplimente einfach nicht hängen! Und jedes Lob des Partners oder der Freundin, jede Leistung fällt einfach durch, wie durch ein Fass ohne Boden.
AUS DEM WIRKLICHEN LEBEN: SABINE UND FRANZ
SABINE ist Kulturmanagerin, und FRANZ arbeitet als Grafiker in einem hippen Atelier. Ihre gemeinsamen Kinder sind groß und gerade aus dem Haus. Eigentlich lieben und schätzen sich beide sehr, aber immer wieder kommt es zu verbissenen Streitszenen, die jeden von beiden extrem belasten.
Heute ist der Auslöser wieder eine Banalität: Die Anspannung ist hoch, weil sie am Abend Freunde erwarten, die sowohl für Sabine als auch für Franz eigentlich stressig sind. Sabine fühlt sich mit den Vorbereitungen alleingelassen und schickt Franz von einer Aufgabe zur nächsten. Der erledigt sie widerstrebend, weil er es ja eh nicht recht machen kann. Innerlich werden beide immer gereizter, weil das Verhalten des anderen sie stresst: Sabine ärgert sich, weil Franz nur so schleppend mithilft und nicht wirklich bei der Sache ist, und Franz wird innerlich immer unmotivierter, weil er findet, dass Sabine ihn rumkommandiert und nur kritisiert.
Beide haben für diese Erlebnisse alte verinnerlichte Muster und Prägungen: Sabine stammt aus einem Elternhaus, in dem es wirtschaftlich eng zuging. Der Vater war meist abwesend und die Mutter mit Sabine und deren kleinen Geschwistern oft allein und völlig überfordert. Sabine musste die Mutter unterstützen und wurde mit ihren eigenen Anliegen und Bedürfnissen nicht gesehen. In emotional bedürftigen Situationen nicht gesehen zu werden und stattdessen das abwesende Gesicht des anderen zu sehen ist für sie zu einem wunden Punkten geworden.
In der Ehe war das anfangs anders. Bei Franz konnte sie sich verletzlich zeigen und wurde damit als Mensch angenommen. Er stand an ihrer Seite, interessierte sich für sie und gab ihr das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. In den letzten Jahren vermisst sie das und wird darüber immer wütender und bissiger.
Auch für Franz waren die ersten Jahre mit Sabine erfüllend. Er stammt aus einer sehr leistungsorientierten Familie. Eine Eins in der Schule bedeutete: Ich darf bei Papa auf den Schoß. Eine Zwei brachte noch ein kurzes Lächeln, bei einer Drei wendete der Vater sich ab. Auch bei Sabine spürte er anfangs ihre Bewunderung und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben okay. Franz hat gelernt, alles zu geben, um sich liebenswert zu fühlen. Doch manchmal klappt es nicht. Er hat gefühlt keine Chance, es reicht nicht, was er gibt, und das ist ein wunder Punkt für ihn geworden. Wenn er dann noch Sabines Wut wahrnimmt, kommt mit der Angst vor Abwertung ein weiterer wunder Punkt dazu. Franz schaltet ab, zieht sich innerlich zurück und wirkt äußerlich unerreichbar.
In Stress-Situationen gehen Sabine und Franz meist beide in ihre Muster. Es folgt ein wechselseitiges Geschehen, das beim Müllrausbringen oder Tischdecken beginnen und in tagelangem eisigen Schweigen enden kann.
Wiederholungen in der Ehe
Die Wissenschaft streitet noch immer darüber, wie groß der Anteil an genetischer Veranlagung versus Sozialisation bei der Ausprägung unseres Verhaltens ist. Fakt ist: Ein großer Anteil dessen, was wir brauchen und wie wir ticken, wurde biografisch geprägt und damit erlernt. Bei Stress gibt es meist eine »Geschichte hinter der Geschichte«. Das bedeutet, dass es zu den heutigen Verletzungen ganz ähnlich gestrickte Erfahrungen auch in der Vergangenheit gibt.
In der Partnerschaft tauchen unsere frühen Prägungen somit wieder auf. Hier zeigen sich unsere Verletzlichkeiten, hinter denen oft frühere Verletzungen stehen. Der eine