Der kleine Eheretter. Monika Röder
Wie kommt es nun dazu, dass wir streiten? Um das zu verstehen, sind noch ein paar neurobiologische Faktoren wichtig: die Neurozeption und die verschiedenen Modi, in die unser autonomes Nervensystem umschalten kann.
Jeder Mensch hat einen integrierten Gefahrenscanner – die Neurozeption. Das ist eine Art Antennensystem, das ständig und unterhalb der Bewusstseinsschwelle unsere Umgebung scannt. Auch während eines Gesprächs, bei der Arbeit oder beim Sex nimmt unser Nervensystem wahr, ob in der Umgebung alles in Ordnung ist. Es vergleicht die unbewusst wahrgenommenen Geräusche, Gerüche und sonstigen Empfindungen mit den Erfahrungen und Erinnerungen im limbischen System. Sobald etwas als potenzielle Gefahr erkannt wird – das Schreien eines Kindes, ein Donnergrollen, der Geruch von Rauch oder auch der bedrohlich veränderte Blick oder Tonfall beim anderen –, schlägt die Amygdala Alarm, und das Nervensystem schaltet auf einen Defensivmodus um. Das kann auch passieren, wenn der Auslöser heute gar keine große Bedrohung mehr darstellt, der Mensch inzwischen erwachsen, stark und souverän ist und die Situation mit seinem heutigen Repertoire eigentlich locker bewältigen könnte.
Die drei Modi unseres Nervensystems
Der andere neurobiologische Aspekt, dessen nähere Betrachtung sich lohnt, sind die drei unterschiedlichen Modi, in denen sich unser autonomes Nervensystem befinden kann: das soziale Kontaktsystem (ventraler Vagus), die Mobilisierung (Sympathikus: Kampf oder Flucht) und die Immobilisierung (dorsaler Vagus: Resignation, Totstellreflex oder Kollaps).
Wenn wir uns wohl und sicher fühlen – allein oder mit einem anderen zusammen –, sind wir im Modus des sozialen Kontaktsystems. Neurobiologisch gesprochen ist hier der ventrale, also vordere, Teil des Vagus – eines wichtigen Hirnnervs – aktiv. Das bedeutet, dass unser gesamtes Gehirn inklusive des Neokortex voll funktionsfähig ist: Wir haben einen weiten Blick auf die Situation, können selbstkritisch sein, haben Humor und können uns in den anderen einfühlen. Wir fühlen uns wohl, können lachen und uns freuen. Wir erlauben uns, zu kommen und zu gehen, und wir können Nähe genießen. Wirklicher zwischenmenschlicher Kontakt ist nur möglich, wenn sich beide Partner im sozialen Kontaktsystem befinden.
Sobald unser Gefahrenscanner eine potenzielle Gefahr identifiziert hat – wir also getriggert sind –, schaltet unser Nervensystem um auf einen Defensivmodus. Die erste Variante ist dabei die Mobilisierung. Blitzschnell und unterhalb der Bewusstseinsschwelle wird der Sympathikus, das Stress-System des Menschen, aktiviert und bereitet Körper und Geist auf Kampf oder Flucht vor: Die Muskelspannung im gesamten Körper steigt. Das Herz schlägt schneller, die Gefäße insbesondere in den Extremitäten verengen sich, was evolutionsbiologisch den Effekt hat, dass es bei Kratzern und Verletzungen nicht unnötig stark blutet. Die Gefühle sind negativ geprägt. Gedanken werden wertend und sind geleitet von Wut oder Angst. Der Blick ist fokussiert auf die Gefahr, wohingegen unwichtige Wahrnehmungen links und rechts ausgeblendet werden. Es kommt zu einem »Tunnelblick«. Der Kiefer verspannt sich, um zubeißen zu können – eigentlich lächerlich heutzutage, da wir nicht mehr mit unserem Körper kämpfen oder beißen, aber hier hinkt die Evolution der Entwicklung unserer modernen Gesellschaft etwas hinterher.
Es gibt noch einen dritten Modus und damit ein weiteres Defensivsystem, in das unser Nervensystem schalten kann – er ist mit dem hinteren, dorsalen Teil des Vagusnervs verbunden: die Immobilisierung bzw. der »Shutdown«. Bei Tieren nennen wir das den Totstellreflex. Dieser Modus wird dann aktiviert, wenn der Abgleich der Wahrnehmungen aus der Umgebung mit den Erinnerungen auf eine Art Resignation hinausläuft: Kämpfen habe ich x-mal probiert und keine Chance gehabt. Flüchten kann ich nicht – zum Beispiel, weil ich zu klein und unterlegen bin oder weil ich verheiratet bin, wir Haus und Kinder zusammen haben und ich aus der Nummer nicht mehr so leicht herauskomme.
Soziales Kontaktsystem (ventraler Vagus)
Mobilisierung (sympathisches Nervensystem) – Kampf/Flucht
Immobilisierung (dorsaler Vagus) – »Shutdown«, Totstellreflex
Dieser Modus ist in gefährlichen Situationen überlebenswichtig. Im Shutdown werden Hormone und Botenstoffe ausgeschüttet, die die Schmerzwahrnehmung betäuben. Das Gehirn ist gefühlt leer. Das »Totstellen« hat außerdem den Effekt, dass der Angreifer nicht weiter angestachelt wird und sich der Schaden dadurch in Grenzen hält. Manchmal kommt es auch zu einer Dissoziation. Im Betroffenen kann sich das so anfühlen, als sei er oder sie unter einer Glasglocke, bestimmte Körperteile gehörten nicht mehr dazu, oder es kommt zur Wahrnehmung eines Heraustretens aus dem Körper, um weniger Schmerz zu spüren und den Angriff besser aushalten zu können. Bei einem Streit interpretiert das Gegenüber den Shutdown aufgrund des unterbrochenen Kontakts oft als Blockade oder Ignoranz.
Alle drei Modi können natürlich auch in Misch- bzw. abgeschwächten Formen auftreten. Es gibt zum Beispiel einen sehr sinnvollen Übergang zwischen sozialem Kontaktsystem und beginnender Aktivierung des sympathischen Nervensystems, also beginnendem Kampf- oder Fluchtmodus, um sich bei wichtigen Anliegen klar positionieren und durchsetzen zu können. Oder es gibt einen beginnenden Shutdown, in dem das System nicht ganz in Richtung Koma heruntergefahren ist, aber wirklicher sozialer Kontakt dennoch einfach nicht mehr möglich ist.
AUS DEM WIRKLICHEN LEBEN: NOCH MAL FRANZ UND SABINE
Wenn SABINE unter Stress steht, regt sie sich schneller über Dinge auf, die sie sonst viel entspannter tolerieren kann. An besagtem Abend, zu dem sie Freunde eingeladen haben, kommt sie schon gestresst von der Arbeit. Im Supermarkt gibt es weder den fest eingeplanten Eisbergsalat noch ihren Lieblingswein. Zu Hause angekommen stört es sie schon, dass FRANZ das Auto nicht in die Garage gefahren hat, sie sagt aber noch nichts.
Franz ist zu Hause. Er hat sich für den Abend früher freigenommen, was ihm die missmutigen Blicke der Kollegen eingehandelt hat. Auch bei ihm sind also bereits Knöpfe gedrückt, die seine alte Wunde triggern, nicht genügend zu leisten und dadurch nicht mehr geliebt zu werden. Er ist mit Staubsaugen beschäftigt und begrüßt Sabine nur flüchtig quer durchs Wohnzimmer.
Aufgrund der lieblosen Begrüßung steigt Sabines Spannung noch weiter an. Sie hat schon einen beginnenden »Tunnelblick« und kommt in dieser gestressten Verfassung auch nicht auf den Gedanken, selbst freundlich auf Franz zuzugehen und ihn liebevoll zu küssen. Stattdessen pfeffert sie in der Küche die Einkäufe auf den Tisch und lässt die Schranktüren zuknallen.
Die Gefahrenscanner beider Partner haben längst die Anspannung beim anderen gelesen und innerlich den Sympathikus aktiviert. Bei Franz wie bei Sabine beschleunigt sich der Herzschlag, die Atmung wird schneller, und der erhöhte Muskeltonus macht die Bewegungen heftiger und ruppiger.
Sabine spürt beim Blick auf die Uhr ein Gefühl der Überforderung, das sie zusätzlich unter Stress setzt. Überforderung ist für sie assoziiert mit der schwachen Mutter und daher ein Selbstbild, das sie auch bei sich selbst ablehnt. In ihr entsteht das Bedürfnis, beruhigt, getröstet und unterstützt zu werden. Aufgrund der Aktivierung des Sympathikus kann sie das aber nicht mehr in einem empathischen und wohlwollenden Tonfall äußern, sondern ruft stattdessen ins Wohnzimmer: »Hast du eigentlich gesehen, wie viel Uhr es ist? Und du bist noch am Saugen! Wie sollen wir das denn schaffen?«
Jetzt wird in Franz die alte Wunde getriggert: Wie ich es mache, ist es falsch. Es reicht nicht, was ich tue. Ich habe keine Chance, es recht zu machen. Er weiß aus Erfahrung: Es lohnt sich nicht, mit der aufgebrachten Sabine zu streiten, und er weiß auch, dass er jetzt nicht einfach verschwinden