Management-Kybernetik. Werner Boysen
vor allem durch meine Verbindung zur Deutschen Gesellschaft für System Dynamics methodisch ausbauen konnte. Etwa seit dem Jahr 2000 konnte ich aus der wissenschaftlichen Diskussion praxisgerechte Methoden und Werkzeuge ableiten und sie in meinen Beratungs- und Interim-Management-Projekten in der Unternehmenspraxis erproben und konsequent weiterentwickeln.
Anfang der 1990er-Jahre berichtete ich als Werkleiter in Castilla y León, Spanien, an Francesco Balasso, ein italienisches Mitglied des Verwaltungsrates der VAW (der Vereinigten Aluminium-Werke). Für mich war es damals faszinierend, mit welcher Treffsicherheit dieser erfahrene Manager erkannte, wo etwas »im Argen« lag. Auch wenn die Ursachen für Missstände nicht unmittelbar ersichtlich waren, erfasste Francesco Balasso mit ruhiger und sicherer Hand die wirksamen Zusammenhänge und benannte die zugrunde liegenden Ursachen für Probleme. Auf meine Frage, wie und aufgrund welcher Fähigkeit er dies bewerkstelligen könne, sagte er nur: »Il naso«. Francesco Balasso war für mich ein großes Vorbild und ein wichtiger Mentor. Diese Fähigkeit wollte ich mir auch aneignen.
Inzwischen – etwa 30 Jahre später – wage ich zu sagen, dass ich vor dem Hintergrund eines breiten und profunden Methodenwissens und eines großen Erfahrungsschatzes weiß, welche Hebel in der Praxis Erfolg versprechen. In über 30 Jahren Erfahrung in Management und Beratung habe ich ein Portfolio aus einem Methodenmix von bewährten klassischen und kybernetischen Methoden herausgearbeitet. Kybernetische Prinzipien, angewandt auf das Management, bieten nachweislich wirksame und heute unverzichtbare Lösungsansätze für die oben angesprochenen Fehlentwicklungen.
Mit dieser Einführung in die Management-Kybernetik möchte ich einflussreiche Persönlichkeiten und potenzialstarke Führungsnachwuchskräfte an geeignete, praxiserprobte Instrumente heranführen, mit denen sie dynamische Komplexität besser verstehen und wirklich wirksam werden können, und zwar nachhaltig und zum Nutzen aller eingebundenen Parteien – für eine bessere (Geschäfts-) Welt. Nicht alle hier vorgestellten Instrumente sind wirklich neu, aber die Kombination bewährter klassischer mit kybernetisch fundierten neuen Instrumenten ist dafür geeignet, Unternehmen resilient zu machen.
Was können Sie konkret von der Lektüre dieses Buches erwarten? Sie erhalten einen komprimierten Einblick in die praktischen Möglichkeiten der Management-Kybernetik. Sie werden erkennen, dass in unserer Welt die dynamische Komplexität unaufhaltsam weiter zunimmt. Sie werden verstehen, warum traditionelles Management in dynamisch-komplexen Umfeldern nicht funktioniert und weshalb wir im Management kybernetisch denken müssen. Sie werden die dazu notwendigen Grundlagen über die Kybernetik erlernen und werden in die relevanten Aspekte der Management-Kybernetik eingeführt. Sie werden sich nützliche zusätzliche Fähigkeiten zur Verbesserung Ihres Management-Handwerks aneignen. Außerdem werden Sie an praxiserprobte Methoden und Instrumente herangeführt, damit Sie die Qualität dynamisch-komplexer Systeme verbessern und die Komplexität besser bewältigen können.
Weil die Kybernetik sich als Querschnittswissenschaft mit »dem Dazwischen« befasst, wird in diesem Buch nicht auf die Managementgebiete selbst eingegangen; vielmehr wird die Qualität der Verbindungen zwischen den Fachgebieten beleuchtet.
In einer knappen Form, wie sie das Format dieses Buches vorgibt, kann ich keine detaillierte Blaupause für die Umsetzung liefern, aber durchaus wertvolle Stimuli für die Selbstreflexion und Referenzpunkte für ein Benchmarking Ihrer Organisation vorschlagen. In dieses Buch ist viel praktische Erfahrung aus meinem Beratungsund Managementengagement eingeflossen. Damit Sie den besten Nutzen aus diesem Buch ziehen können, empfehle ich Ihnen, bei den einzelnen Kapiteln die gegebenen allgemeingültigen Empfehlungen auf Ihr eigenes Geschäft mit seinen besonderen Herausforderungen zu beziehen. So entwickeln Sie systematisch Ihre genetisch wachsende (sich am erlernten Wissen erweiternde) Fallstudie zum kybernetischen Management.
1 In diesem Buch werden der besseren Lesbarkeit halber in der Regel die männlichen grammatischen Formen verwendet; es sind aber die weiblichen und alle anderen denkbaren Formen immer mitgemeint bzw. eingeschlossen.
1Warum wir Management-Kybernetik brauchen
•In diesem Kapitel lernen Sie, warum ein Denken in einfachen, linearen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen in einer dynamisch-komplexen Welt nicht zu nachhaltigen Resultaten führen kann.
•Sie werden in grundlegende Begriffe der Kybernetik eingeführt.
•Sie erhalten einen ersten Einblick, wie Organisationen in dynamisch-komplexen Umfeldern nachhaltig erfolgreich geführt werden können.
Viele unserer Denkmuster funktionieren in stetigen Umfeldern mit der Annahme überwiegend linearer Ursache-Wirkungs-Beziehungen zuverlässig. Sie wurden in Zeiten gebildet, als überwiegend Adhoc-Lösungen gefragt waren und nicht über Netzwerkeffekte nachgedacht werden musste. In komplexen Umfeldern geben diese Denkmuster aber einen falschen Orientierungsrahmen und führen zu falschen Schlussforderungen, die das Überleben von Organisationen gefährden. Sie sind nicht mehr angemessen.
Diese Veränderung kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass sich unsere Welt entmaterialisiert. Unsere komplexe Welt erklärt sich nämlich zunehmend nicht mehr aus den Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Elemente, sondern aus den Eigenschaften und Fähigkeiten, die aus den Beziehungen zwischen diesen Elementen entstehen (emergente Fähigkeiten). Deshalb haben wir es mit neuen Quellen für Wertschöpfung zu tun. Wert leitet sich zunehmend aus Individualität, Pluralität und Diversität (»sowohl … als auch« statt »entweder … oder «) ab, aus interdisziplinärem Arbeiten, aus Beziehungen in offenen Netzwerken, aus der Qualität der Kommunikation entlang von Prozessen und aus immateriellen Werten (Schutzrechten und vertraglich gesicherten Rechten). Manager, die in komplexen Umfeldern agieren, sollten sich darauf konzentrieren, diese Wertquellen zu erschließen. Sie sollten lernen, in komplementären Dimensionen zu denken und zu handeln.
Zum anderen greifen unsere alten Denkmuster auch deshalb immer schlechter, weil Netzwerke die Komplexität weiter steigern und das Maß an Unsicherheit erhöhen. Netzwerke verursachen wechselseitige Wirkungen und sowohl direkte als auch indirekte Rückkopplungen auf eigene Handlungen. In Netzwerkstrukturen können Wirkungen auf das eigene Handeln an beliebigen Stellen, in beliebigen Augenblicken und in völlig unerwarteten Dimensionen auftreten (»Schmetterlingseffekt«). Auch wenn alle Regeln und Rahmenbedingungen bekannt sein sollten, können wir die Zukunft prinzipbedingt nicht vorhersagen. Wir können die Welt nicht beherrschen, sondern lediglich als Teil von ihr angemessen mit der gegebenen Komplexität umgehen. Manager müssen akzeptieren, dass es unvermeidbare Unsicherheit gibt, sollten sich aber darüber freuen, dass genau diese Unsicherheit Evolution ermöglicht. Wäre nämlich alles bestimmt, könnten wir gar nichts beeinflussen.
Fredmund Malik (2006c, S. 28) führt dazu aus:
»Kybernetik und gutes, wirksames Management sind identisch. Wir sollten die ›alte‹, mechanistische Art und Weise zu denken überwinden und in Systemen denken.«
Das oberste Ziel aller Systeme besteht darin zu überleben. Unsere Natur ist in der Lage, durch adaptive und dynamische Evolution zu überleben, die von Komplexität ermöglicht wird. Die artenreiche und vernetzte Natur »lebt« die Komplexität – anders als Menschen, die dazu neigen, komplexe Wechselbeziehungen unangemessen zu vereinfachen und sich mit ihren Entscheidungen am Erreichen kurzfristiger Ziele zu orientieren – und dadurch das langfristige Überleben ihrer Spezies riskieren. Menschen handeln eher so, als würden sie nicht in Systemen wirken, sondern die Systeme von einer äußeren, höheren Position aus dominieren. Das kann nicht funktionieren. Denn alle unsere Entscheidungen und Handlungen haben eine direkte oder indirekte Rückwirkung auf uns selbst.
Sowohl unsere Gesellschaft als auch unsere Unternehmen können als kommunikative Feedbacksysteme aufgefasst werden. Je größer und je komplexer Gesellschaften oder Organisationen werden, desto eher werden ihr Verhalten und ihre Fähigkeiten durch die Qualität ihrer Rückkopplungen (Feedbacks) zwischen ihren Mitgliedern (Bürgern, Mitarbeitern, Abteilungen etc.) und gegenüber ihren Umfeldern (Kunden, Leistungspartner, Lieferanten) definiert. Externe Turbulenzen schlagen sich in Organisationen