Sammelband 6 Krimis: Der Killer in den Bergen und andere Krimis für Strand und Urlaub. Alfred Bekker
Azzaro hob die Hand zum Victory-Zeichen, als er die Stufen des Gerichtsgebäudes hinab schritt. Eine Handvoll Polizisten schirmten den Puertoricaner ab, der soeben wegen eines Verfahrensfehlers einer Verurteilung wegen Mordes entgangen war.
Mehrere Kamerateams und Dutzende von Reportern drängten sich um Azzaro, der die Aufmerksamkeit sichtlich genoss.
Eine Mikrofonstange reckte sich Azzaro entgegen.
„Ein kurzes Statement!“, rief jemand.
Azzaro grinste.
„Was soll ich sagen? Wir leben eben in einem Rechtsstaat“, lachte er und bleckte dabei zwei Reihen makellos weißer Zähne.
Ray Azzaro ahnte nicht, dass er sich in dieser Sekunde im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs befand.
2
Mein Kollege Milo Tucker und ich hielten uns etwas abseits des Menschenauflaufs auf, der rund um den Haupteingang des Gerichtsgebäudes entstanden war.
Ray Azzaro war des Mordes an einen Barbesitzer in East Harlem, dem überwiegend spanischsprachigen Stadtteil New Yorks bezichtigt worden, aber District Attorney David Lacombe war mit seiner Anklage sang- und klanglos untergegangen. Es hatte sich herausgestellt, dass Beweismittel teilweise unter gesetzeswidrigen Bedingungen erhoben worden waren. Man hatte den Verdächtigen nach seiner Verhaftung nämlich nicht hinreichend über seine Rechte aufgeklärt.
Darüber hinaus waren im Verlauf des Verfahrens die Zeugen der Anklage reihenweise umgefallen, hatten ihre Aussagen zurückgezogen oder waren nicht mehr bereit, sie vor Gericht zu bestätigen.
Die Staatsanwaltschaft vermutete, dass diese Zeugen unter Druck gesetzt worden waren. Beweise hatte sie dafür allerdings nicht vorlegen können.
Plötzlich hatte sich niemand mehr daran erinnern können, dass Ray Azzaro die Bar, in der das Verbrechen verübt worden war, am Tatabend überhaupt betreten hatte.
Wir vom FBI Field Office New York ermittelten seit langem gegen jenen Mann, der als Auftraggeber dieses Mordes verdächtigt wurde.
James Gutierrez.
Ein Mann, der hinter vorgehaltener Hand auch als der „Wäscher von East Harlem“ bezeichnet wurde. Er war an Dutzenden von Bars, Clubs und Diskotheken im gesamten Big Apple beteiligt oder betrieb sie in eigener Regie.
Diese Etablissements, so glaubten wir, dienten einzig und allein der Wäsche von Drogengeldern.
Ray Azzaro, der als Gutierrez’ Mann fürs Grobe galt, schien sich in seiner Rolle als Medienstar immer mehr zu gefallen.
„Ich danke der Staatsanwaltschaft dafür, dass sie nicht in der Lage war, ein Verfahren auf die Beine zu stellen, das wenigstens diese Jury aus handverlesenen, bibeltreuen Hausfrauen und weißen Bürgerwehraktivisten überzeugt hätte. Ich danke außerdem meinen Anwälten, dass sie es geschafft haben, diesem besser ungenannt bleibenden Schmalspurrechtsverdreher, der durch politische Schleimscheißerei zum District Attorney werden konnte, mal gezeigt wurde, wo seine Grenzen sind. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn er sich sogar sein Universitätsdiplom und seinen Doktorhut selbst gekauft hat!“
„Ein widerlicher Kerl“, kommentierte Milo den Auftritt Ray Azzaros, der sich immer weiter in seinen Triumph hinein zu steigern schien.
Plötzlich veränderte sich Ray Azzaros Gesichtsausdruck. Er wurde starr. Mitten auf seiner Stirn erschien ein roter Punkt, der rasch größer wurde. Gleichzeitig ging ein Ruck durch seinen Körper. Er sackte in sich zusammen.
Tumult entstand.
Eine Kugel hatte Ray Azzaros Stirn durchschlagen. Instinktiv ging meine Hand zum Griff meiner SIG Sauer P226. Ich blickte an der Fassade eines zehnstöckigen Gebäudes empor, das dem Gericht gegenüber lag. Von dort aus musste der Schuss gekommen sein.
Das dritte Fenster im siebten Stock war offen. Ein Windstoß wehte die Gardine ins Freie. Wahrscheinlich die Zugluft, die entstand, wenn jemand gleichzeitig die Wohnungstür öffnete. Der Killer machte sich offenbar schleunigst davon.
„Los! Vielleicht kriegen wir den Kerl noch“, rief ich Milo zu.
„Seit wann glaubst du an Wunder, Jesse?“
3
Wir kämpften uns durch die Menge, während im Hintergrund bereits Sirenen von Einsatzfahrzeugen der City Police und des Emergency Service schrillten. Anschließend rannten wir über die Straße. Der Van eines Pizza-Service bremste mit quietschenden Reifen. Der Fahrer zeigte mir einen Vogel, ich ihm meine ID-Card des FBI Field Office New York.
Endlich erreichten wir die andere Straßenseite.
Über Handy hatte Milo längst unsere Zentrale an der Federal Plaza verständigt. Von dort aus würden alle weiteren, als notwendig erachteten Maßnahmen ergriffen werden.
Wir erreichten den Eingang des gewiss schon etwas älteren, aber in einem Top-Zustand befindlichen Brownstone-Hauses. Ein Bürohaus der gehobenen Sorte – ohne den Komfort der modernen Glaspaläste, aber mit dem Charme und dem Stil der Architektur der dreißiger.
Anwaltskanzleien residierten hier. Die unmittelbare Nähe zum Gerichtsgebäude war zweifellos ein Standortvorteil, der zumindest für Kanzleien der mittleren Kategorie es attraktiver erscheinen ließen, sich hier einzumieten anstatt in einer Etage des Empire State Building.
In der Eingangshalle patrouillierten Angehörige eines privaten Security Service in schwarzen Uniformen herum. Sie trugen sechsschüssige kurzläufige Revolver vom Typ Smith & Wessen Kaliber .38 an den Gürteln – eine Waffe, die wir vom FBI auch lange benutzt hatten, bevor sie gegen die sechzehnschüssige P226 der schweizerischen Firma SIG Sauer wegen der größeren Feuerkraft ausgetauscht worden war.
Ich ging auf den ersten der Security Guards zu, zeigte ihm meine ID-Card und sagte: „Jesse Trevellian, FBI. Vom dritten Fenster im siebten Stock ist auf das Portal des Gerichtsgebäudes geschossen worden. Sorgen Sie mit Ihren Leuten dafür, dass die Ausgänge, das Treppenhaus und die Aufzüge bewacht werden. Niemand darf das Haus verlassen, bevor unsere Verstärkung nicht eingetroffen ist und die Personen kontrollieren konnte.“
„Ja, Sir, kein Problem.“
Ich gab ihm meine Karte. „Da ist meine Handynummer drauf. Melden Sie sich sofort, wenn sich hier unten etwas tut.“
„In Ordnung.“ Er steckte die Karte ein. „Drittes Fenster, siebter Stock, sagten Sie?“
„Ja.“
„Das müssen die Räume von Watson