Funkensommer. Michaela Holzinger
geworden, dass ich befürchte, der Asphalt könnte an den Rädern kleben bleiben. Mühsam kämpfe ich mich voran. Keine einzige Ähre bewegt sich auf den Getreidefeldern. Die Luft flirrt im Sonnenlicht. Und meine Tränen verdunsten, ehe sie die Nasenspitze erreicht haben.
Der Traktor steht auf dem abgedroschenen Feld. Ringsherum ist es heiß und staubig. Und gelb. Alles scheint heute gelb zu sein. Lenas Löckchen. Die Sonne. Unsere Felder. Der Mähdrescher. Die Wintergerste, die vom Inneren der Erntemaschine ausgespuckt und in den Kipper gefüllt wird. Sogar die Kappe von Hans, dem Mähdrescherfahrer, ist gelb. Als er zu mir herüberwinkt, sehe ich, wie mich die Kappe im Sonnenlicht angrinst. Nur Hans grinst nicht. Mürrischfuchtelt er mit der Hand. Voll, soll das bedeuten. Damit meint er den Kipper.
Ich nicke ihm zu. Der Mähdrescher heult auf und macht sich als überdimensionale Ameise an der nächsten Getreidereihe zu schaffen.
Ich weiß, was jetzt zu tun ist, und muss unwillkürlich an Papas heutige Bauernregel denken: Der Juli bringt die Sichel für Hans und für den Michel. Also für mich. Widerwillig atme ich die staubige Luft ein, die sich in der Traktorkabine gefangen hat, greife nach dem Zündschlüssel und drehe ihn um. Sogleich fängt der Motor zu ruckeln an. Ich lasse die Kupplung kommen und das Gefährt setzt sich langsam in Bewegung. Hintenan der sieben Tonnen schwere Kipper. Ob das gut geht?
«Bloß aufpassen», sage ich mir, als er zu schwanken beginnt. Der unebene Feldboden macht mir zu schaffen. Zum Glück ist die Straße schon in Sicht. Dort wird der Kipper nicht ganz so schlimm wackeln.
«Nur nicht zu viel einschlagen. Nur nicht zu viel Gas geben», pocht es in meinem Hirn, als sich die Feldausfahrt nähert. Meine Fingerknöchel sind schon ganz weiß vom krampfhaften Halten des Lenkrads. Im Kriechgang lenke ich das tonnenschwere Gefährt um die Kurve. Als die Traktorschnauze in Richtung Straße zeigt, atme ich auf. Nur noch ein kleines Stück, nur noch ein paar Meter. Geschafft. Ruhig rollt der Traktor auf dem Asphalt dahin. Jetzt kann nichts mehr passieren. Ich will schon einen Jubelschrei loslassen, da kommt Raphael in seinem Audi daher. Mit Lichthupe. Quietschend bleibt er neben mir stehen und kurbelt das Fenster einen Spaltbreit hinunter. Mehr traut er sich nicht, wegen des Staubs in der Luft.
«Wo bleibst du denn?», brüllt er aus dem Fensterschlitz. «Mama und Papa warten schon seit einer Ewigkeit auf dich. Du hältst die ganze Arbeit auf!»
Ich versuche Raphael zu ignorieren und ruckele weiter.
«Jetzt leg halt endlich den zweiten Gang ein», schreit mein Bruder. Dabei muss er sich den Hals verrenken, um aus dem Fensterspalt plärren zu können.
«Ich fahr ja schon», gebe ich zurück, ohne die Straße aus den Augen zu lassen. «Was willst du überhaupt? Weiß Mama Bescheid, dass du hier bist? Auf dem Feld, meine ich?»
Raphael wirft mir einen gefährlichen Blick zu. «Halt bloß den Mund und fahr endlich», knurrt er. Dann kurbelt er die Fensterscheibe hoch und rast im Affentempo davon. Erst als er außer Sichtweite ist, schalte ich einen Gang höher. Keine Ahnung, was mit meinem Bruder schon wieder los ist. Auf alle Fälle hat er einen Vollknall. Dabei ist Raphael nicht immer so gewesen. Er wurde erst nach dem Anfall so. Das passierte ungefähr vor einem Jahr. Da war es auch heiß. Die Sommerferien standen unmittelbar bevor. Es war die Zeit der Getreideernte. So wie heute. Nur dass Raphael damals auf dem Traktor saß und die Gerstenfuhren nach Hause brachte. Und nicht ich.
Doch dann lag er auf einmal auf dem Stoppelfeld. Zwischen all dem Stroh. Sein Mund begann sich ganz komisch aufzureißen und er verdrehte dabei die Augen. Speichel lief aus seinem Mund. Der Körper zuckte wie verrückt. Und mein Bruder, der noch vor wenigen Augenblicken neben dem Traktor gestanden und mit Hans gealbert hatte, verwandelte sich mit einem Schlag in einen Fremden. Ich glaube, nicht nur ich spürte das. Auch Hans, den Mähdrescherfahrer, überkam dieses Gefühl der Ohnmacht, da niemand in dem Augenblick wusste, was zu tun war. Nicht einmal Mama oder Papa. Erst als sich Raphaels Körper entkrampfte und er ganz weiß im Gesicht wurde, brach Hektik aus. Während das Heulen der Sirenen die Ohnmacht zerriss.
Einige Zeit später, im Krankenhaus, erfuhren wir, dass Raphael einen epileptischen Anfall gehabt hatte. Grand mal nennt man so etwas. Mit den richtigen Antiepileptika könne man das gut behandeln, sagten die Ärzte.
Das stimmte auch. Raphael kriegte danach keine Anfälle mehr. Aber etwas anderes machte sich in seinem Leben breit. Und somit auch in unserem. Er bekam nämlich, wahrscheinlich ausgelöst von den Epi-Blockern, eine schwere Allergie gegen sämtlichen Heu- und Tierstaub. Die Ärzte waren ratlos. Meine Eltern auch. Was folgte, waren unzählige Behandlungen, Tests und Diäten. Allesamt mehr oder weniger erfolglos. Übrig blieb die Erkenntnis, dass Raphael in der Landwirtschaft plötzlich nicht mehr mithelfen konnte. Dass er wohl nie den Bauernhof würde übernehmen können. Dass ich an seiner Stelle diese Rolle zugeschoben bekam. Und niemand hatte mich jemals gefragt, ob ich das überhaupt wollte.
Und so begann sich das Leben zu verändern. Raphael wurde zum unberechenbaren Arschloch. Mama duldete es. Und Papa tat so, als ob nie etwas passiert wäre. Außer dass er seine ganze Aufmerksamkeit, die er vorher Raphael entgegengebracht hatte, nun auf mich übertrug …
Vielleicht, frage ich mich, als ich mit dem Traktor am Hof ankomme, hat Jelly recht, und ich sollte mir wirklich nicht mehr so viel gefallen lassen. In Gedanken versunken schiebe ich den Kipper zum Getreidesilo. Dort wird die Gerste übers Jahr gelagert. Aber wie soll ich das anstellen? Das mit dem Nicht-gefallen-Lassen, meine ich.
Da reißt Papa plötzlich die Traktortür auf und schreit: «Sag mal, wo bleibst du denn? Bist du unterm Fahren eingeschlafen, oder was?» Er kocht vor Wut. «Hast du überhaupt eine Ahnung, was Hans pro Stunde fürs Mähdreschen verlangt?» Er greift nach meiner Hand und zieht mich vom Traktorsitz.
«Was willst du?», rufe ich verärgert. «Ich bin das erste Mal mit dem Riesenkipper gefahren. Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte ihn umgeschmissen?»
Papas Kopf wird rot vor Zorn. Aber auch vor Anstrengung. Und Stress. «Das hätte uns gerade noch gefehlt. Und jetzt schau endlich, dass du vom Traktor runterkommst. Der Hans wartet schon auf den nächsten Kipper. Oder soll er die Gerste am Feld abladen? Mach schon!»
Ich springe vom Traktor und schaue mich hilfesuchend um. Aber Mama steht nur da, mit der Schaufel in der Hand, und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
Da platzt mir der Kragen. «Wisst ihr was», schreie ich meine Eltern an. «Macht doch euren Scheiß selber!» Eine zornige Welle überrollt mich. Ich drehe mich um und verschwinde ins Haus. Was für ein beschissener Tag! Zuerst meint Lena, Finn anbaggern zu müssen. Dann ist Jelly sauer auf mich. Mein Bruder rastet wieder einmal ohne Grund aus, und meine Eltern … die sind ohnehin zum Kotzen. Glauben die wirklich, dass ich das hier aus Spaß mache?
Ich knalle die Hoftür hinter mir zu und schleudere meine Arbeitsschuhe in die Ecke, da kommt Mama herein.
«Hannah, so geht das nicht», sagt sie in strengem Ton. «Du weißt doch, wie eilig wir es zu den Erntezeiten haben. Da muss jeder mit anpacken … so ist das nun mal auf einem Bauernhof …» Sie kommt einen Schritt auf mich zu und legt die Hand auf meine Schulter. «Du kannst jetzt nicht einfach gehen. Papa muss mit dem Kipper fahren und ich muss beim Getreidesilo bleiben … das wird bis zum Abend dauern. Da können wir nicht auch noch die Stallarbeit machen …»
«Ach so ist das», lächle ich säuerlich.
Mamas Hand rutscht von meiner Schulter. Einen kurzen Augenblick glaube ich, dass sie mich verstehen kann. Wenigstens ein kleines bisschen. Doch dann kehrt die altgewohnte Strenge in ihr Gesicht zurück, und sie sagt: «Sei froh, dass es dir nicht so ergeht wie deinem Bruder!» Und als sie die Tür aufschwingt, hängt sie dran: «Ausmisten brauchst du nicht mehr. Nur füttern. Das geht eh schnell!» Dann dampft sie ab.
Es ist nach sieben, als ich mich aufs Rad schwinge. Mama und Papa sind noch am Ernten. Ich kann Hans’ Mähdrescher auf dem Feld brummen hören. Leise mache ich mich