Im Garten der Zeit. Jean-Claude Lin
Laut seinem Biographen Pierre Bertaux konnte er in Extremfällen 80 Kilometer an einem Tag gehen.
Was für eine Zeitverschwendung, würde man heute sagen. Und: Wie gut, dass wir die modernen Techniken mit ihrem enormen Geschwindigkeiten haben, die uns helfen, die Zeit zu sparen. Und trotzdem: irgend etwas an unserer modernen Rechnung stimmt nicht.
Im Nachrichtenmagazin Spiegel konnte man 1998 nachlesen, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit der Autos im Stadtverkehr in einer Großstadt ernüchternde 16 Stundenkilometer beträgt und sich damit dem Tempo nähert, «das schon die Vorfahren erreichten, als sie vor 6000 Jahren das Rad erfanden.» Diesen Wert wird mancher kaum glauben wollen, denn er widerspricht dem subjektiven Gefühl, dass man viel schneller sei. Aber die Wartezeiten an Ampeln und besonders im Stau führen zu diesem Durchschnittswert. Der französische Philosoph Paul Virilio hat wohl nicht zu Unrecht vom «rasenden Stillstand» in unserer Zivilisation gesprochen. Betrügen wir uns also selbst in unserem Geschwindigkeitswahn? Meinen wir nur, dass wir Zeit sparen, während wir in Wirklichkeit – wie durch einen raffinierten Trick – unter dem Strich gar nichts gewonnen haben?
Die wenigsten Menschen würden dem zustimmen. Eine Woche für die Strecke Karlsbad – Italien wie zur Zeit Goethes? Eine Woche für einen Brief von Europa nach Amerika wie noch vor wenigen Jahren?
Selbstverständlich sparen wir demgegenüber heute durch moderne Techniken Zeit. Es fragt sich, um welchen Preis?
Gerade beim Reisen mit sehr hohen Geschwindigkeiten kann man erleben, dass man die «gesparte» Zeit oft nur eingeschränkt nutzen kann.
Wenn man es nicht gewohnt ist, bringt man sich durch die hohe Geschwindigkeit mit den eigenen Lebenskräften – zwar nicht zwingend, aber doch leicht – in eine solche Verfassung, dass es mehrere Tage dauern kann, bis man wieder einigermaßen normal arbeiten kann. Beim Fliegen kennt man die verwandte Erfahrung des Jetlags.
Es scheint so zu sein, dass die Seele und die Lebenskräfte des Menschen sich nicht völlig durch die Geschwindigkeit überlisten lassen. Sie brauchen ihre eigene Zeit, bis auch sie am neuen Ort angekommen sind. Das Gehen bleibt hingegen immer im Maß des Menschen. Manchmal frage ich mich deshalb, ob viele Menschen früherer Zeiten auch dadurch kulturell so außerordentlich produktiv waren, weil sie so viel gegangen sind. Das Gehen wirkt erwiesener Maßen harmonisierend und belebend auf den menschlichen Geist. Ist also der Verlust an schöpferischer Lebenskraft der gezahlte Preis für die Geschwindigkeit?
Vielleicht. Doch was nützt diese Überlegung? Unter den heutigen Verhältnissen kann und will kaum jemand anfangen, wie im 18. Jahrhundert alle Entfernungen zu Fuß oder Pferd zurückzulegen. Wir leben in einer Zeit, in der die Geschwindigkeit wie ein Gott angebetet wird. Und wir sind offenbar bereit diesem Gott «Geschwindigkeit» den Preis zu Füßen zu legen, den er fordert.
Eine andere Methode des Zeitsparens ist heute die möglichst effektive Nutzung der Zeit, das sogenannte Zeitmanagement. Für teures Geld können die Leiter von Unternehmen in Kursen lernen, wie man die Zeit gut organisiert. Dagegen ist gar nichts einzuwenden, denn es ist natürlich sinnvoll, sich die Zeit klug einzuteilen. Aber an dem grundsätzlichen Verhältnis zur Zeit ändern diese Techniken nichts. Auch hier wird die Zeit als wertvoller Rohstoff vorgestellt, den man haben kann und mit dem man gewinnbringend umgehen sollte.
Aber stimmt die herkömmliche Vorstellung von der Zeit? Ist die Zeit wirklich eine Art Gefäß, in dem sich die Vorgänge abspielen, wobei jeder Mensch aus diesem Gefäß eine bestimmte Menge zugeteilt bekommt? Und: Kann man Zeit haben?
Der Psychologe Erich Fromm hat in seinem berühmten Buch Haben und Sein beschrieben, dass wir in einer Kultur des Habens leben und nicht in einer Kultur des Seins. Wir wollen besitzen und zwar als Ersatz dafür, dass wir noch gar nicht wirklich existieren. Wir sind noch nicht. Und damit meint Fromm, dass wir noch nicht der höhere, selbstlose, schöpferisch schenkende Mensch sind, zu dem wir die Veranlagung in uns tragen.
Die moderne Grundeinstellung des Haben-Wollens, die Fromm beschrieben hat, hat sich konsequenter Weise auch auf unser Verhältnis zur Zeit erstreckt. Wir denken, dass wir die Zeit haben könnten.
Haben will aber immer nur das Ego des Menschen, während das höhere Wesen des Menschen nichts haben will, sondern dadurch ist, dass es schöpferisch tätig ist.
Versucht man also durch Zeitmanagement Zeit zu sparen, so behält man nicht nur weiterhin die Grundhaltung des Habens gegenüber der Zeit, man verstärkt sie sogar. Dadurch wird oft nach einigen Anfangserfolgen in der Zeitorganisation das Verhältnis zur Zeit noch schlimmer.
Zu einer wirklichen Veränderung kommt man wohl nur, wenn man lernt, anders über das Wesen der Zeit zu denken. Dann kann sich auch unser Verhältnis zur Zeit ändern.
NORD UND SÜD
Zu spät erreichten wir der Gärten Garten
in jenem Schlaf, von dem kein dritter weiß.
Im Ölzweig wollte ich den Schnee erwarten,
im Mandelbaum den Regen und das Eis.
Wie aber soll die Palme es verwinden,
dass du den Wall aus warmen Lauben schleifst,
wie soll ihr Blatt sich in den Nebel finden,
wenn du die Wetterkleider überstreifst?
Bedenk, der Regen machte dich befangen,
als ich den offnen Fächer zu dir trug.
Du schlugst ihn zu. Dir ist die Zeit entgangen,
seit ich mich aufhob mit dem Vogelzug.
Ingeborg Bachmann
* 25. Juni 1926 in Klagenfurt
† 17. Oktober 1973 in Rom
Sämtliche Gedichte
Serie Piper, 2002.
HIER UND JETZT | 2. |
Es ist eine besondere Eigenschaft des Menschen, dass er sich an Vergangenes erinnern kann und Zukünftiges im Voraus bedenken mag. Beide Blickrichtungen braucht der Mensch zum Erhalt seiner Identität. Ohne ein Wissen um die eigene Herkunft und ohne ein Streben um eine zu erschaffende Zukunft kann ein Mensch leicht alle Orientierung verlieren, wie wenn er sich selbst abhanden gekommen wäre.
Es gibt für den Menschen aber auch die Gefahr, zu sehr dem Vergangenen oder dem Zukünftigen hingegeben zu sein. Dann ist die Gegenwart öde und leer.
Eigentümlicherweise werden wir im Beisein eines Tieres nie den Eindruck bekommen, es hänge einem Vergangenen nach oder verliere sich an ein herbeigesehntes Künftiges. Das Tier ist ganz Gegenwart. Das erlebt sicherlich jeder aufmerksame Reiter beim Spiel der Ohren seines Pferdes. Aber auch jeder aufmerksame Erwachsene, der das Spiel von Kindern beobachtet, erlebt diese Gegenwärtigkeit. Wie Christiane Kutik bemerkt: Beim Spielen von Kindern geht es nicht darum, dass etwas «Vernünftiges» rauskommt, sondern darum, anwesend zu sein. «Im Hier und Jetzt.»
Kinder wie Tiere haben dieses Gemeinsame, dass sie uns zur Beachtung der Gegenwart anleiten. Sie leben noch – teilweise zumindest – wie im Paradies. Werden wir mit allem, was wir in der Vergangenheit erlebt haben, und allem, was wir noch in der Zukunft anstreben wollen, dennoch in der Gegenwart anwesend, so zaubern wir Paradiesisches in unseren Alltag herein. Die unbewusste Weisheit der Kinder und der Tiere machen wir uns bewusst und lernen sie so neu lieben. Auch sie schafft Anwesenheit, hier und jetzt: die Liebe.
«Es gibt glückliche Kinder, die in ihrer frühen Kindheit einen Garten, eine Landschaft ihr Reich nennen können.»
Iris Murdoch, Der Schwarze Prinz