Willis Welt. Birte Müller
verheilt wäre. Vielleicht hätte ich die Gegenwart meines Mannes, den ich so liebe, nicht mehr ertragen, weil sie mich immer wieder an diese Verletzung erinnert hätte.
Und wie hätte ich damit umgehen sollen, wenn ich im Park einem kleinen Willi begegnet wäre, der laut schreiend vor Glück hinter ein paar Tauben herjagt? Es wäre der Beweis gewesen, dass das Leben nicht zu Ende ist, wenn man ein behindertes Kind bekommt, sondern eben noch einmal neu beginnt. Und doch muss es sie geben, die Mütter, die mit diesen und noch schlimmeren Verletzungen weiterexistieren. Auch mein Leben wäre irgendwie weitergegangen. Ohne Willi wäre es sicher einfacher, aber das würden wir nicht merken. Wir wären nicht glücklicher, im Gegenteil, wir wären so viel ärmer an Liebe. Egal, was Willi die Krankenkasse kosten mag, er bereichert unsere Gesellschaft wie jedes Kind um ein Vielfaches. Wir können an ihm lernen, ein besserer Mensch zu sein. Kann es etwas Großartigeres geben?
Die Unmenschlichkeit unserer Gesellschaft liegt darin, dass wir tatsächlich Methoden entwickelt haben, um nicht normgerechtes Leben zu verifizieren und zu selektieren. Der Mutter wird dann die Entscheidung über Leben und Tod «frei» überlassen.
Eine Mutter, die die Diagnose einer Behinderung ihres Kindes erhält, steht unter Schock. Niemand verbietet ihr, dieses Kind auszutragen, aber es ist auch niemand da, der ihr sagt: «Egal, wie dein Kind ist, es wird auf dieser Welt willkommen sein!» Ganz im Gegenteil. Aus der Möglichkeit der pränatalen Diagnostik hat sich ein Automatismus entwickelt: Weil es möglich ist, wird es gemacht. Neun von zehn Menschen, die erfahren, dass mein Sohn das Down-Syndrom hat, reagieren mit der Frage: «Habt ihr das denn nicht getestet?» Den deutschen Gesetzgebern ist dabei kein Vorwurf zu machen. Sie haben es sich wahrlich nicht einfach gemacht bei der Festlegung der Bedingungen, unter denen eine Spätabtreibung stattfinden darf. Das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes ist abzuwägen mit dem Recht auf das (seelisch und körperlich unversehrte) Leben der Mutter. Tatsächlich weiß in Deutschland heute kaum einer, dass es verboten ist, ein Kind aufgrund seiner Behinderung abzutreiben! Lediglich die Unzumutbarkeit für die Mutter ist die Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch nach der zwölften Woche.
Ich möchte nicht in die Abgründe der seelischen Verletzungen der Mütter blicken, die diese Entscheidung getroffen und die grausame Prozedur einer Spätabtreibung erlebt haben.
Und dann kommen Menschen auf der Straße daher, schauen mein Kind an und fragen mich allen Ernstes: «Warum habt ihr das denn nicht testen lassen?» Das ist doch ein Mensch und dazu noch mein Kind. Und kein Test der Welt hätte seine Behinderung verhindern können. Von den hehren moralischen Zielen der Politiker, welche die Spätabtreibung erlaubt haben, ist bei den Bürgern offensichtlich nicht viel angekommen.
Viele Frauen gehen in der Schwangerschaft zu diesen «Tests», ohne über die möglichen Ergebnisse und vor allem die daraus zu ziehenden Konsequenzen in irgendeiner Weise informiert worden zu sein. Der Feindiagnostik-Ultraschall in der Schwangerschaftsvorsorge ist zu einer Art «3D-Baby-watching-Event» geworden. Aber für einen Gendefekt gibt es keine Möglichkeit der «Vorsorge», das Baby kann höchstens «entsorgt» werden!
Es ist genau diese «Warum-habt-ihr-das-denn-nicht-getestet-Einstellung», welche den Müttern (und auch Vätern) eine Art Eigenverantwortung, ja sogar Schuld an der Behinderung ihres Kindes aufbürdet. Das hart erkämpfte Recht auf eine Abtreibung wird plötzlich zu einer sozialen «Pflicht» zur Abtreibung.
Wer hat die Schuld an der Behinderung meines Sohnes? Niemand! Schuld ist doch immer etwas Negatives. Schuld entsteht, wenn jemand absichtlich gegen ethische oder gesetzliche Wertvorstellungen verstößt. Aber an der Existenz meines Sohnes ist nichts Schlechtes, es ist eine Spielart des Lebens, wie es sie immer gegeben hat – und hoffentlich immer geben wird. Soll dieser Mensch etwa nicht existieren, weil er uns mehr Arbeit macht und mehr Hilfe benötigt? Weil er wahrscheinlich kein Abitur machen kann? Oder weil er im Café anderen Menschen auf die Nerven geht, weil er zu laut ist? Das alles ist doch lächerlich im Vergleich dazu, dass Willi leben darf! Es ist wahr, dass ich weniger Zeit zum Vertreiben habe als andere Mütter. Aber immerhin muss ich keine Zeit verlieren auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Der war bei Willi im Lieferumfang enthalten.
Finanziell hat sich übrigens die Anschaffung beider Kinder aufgrund der hohen Nebenkosten nicht gelohnt, aber wir haben eine sehr positive Lach- und Liebesbilanz. Diese Kinder sind für mich (auch wenn es pathetisch klingt), jedes auf seine Weise, ein Geschenk. Und schon in der Schwangerschaft habe ich es (diesmal ganz unpathetisch) mit dem Volksmund gehalten, der besagt: «Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!»
Ja, manchmal bin ich auch traurig, dass Willi nicht die Möglichkeiten hat wie normale Kinder – und mir blutet das Herz, wenn ich sehe, dass man ihn ablehnt, ignoriert oder auslacht. Aber da muss sich doch nicht mein Sohn ändern, sondern eben die anderen!
Ich kann mit Überzeugung sagen, dass es richtig war, diese Sonderbabylieferung, die da vor vier Jahren zu uns kam, einfach anzunehmen und nicht zu viel zu fragen. Oft haben wir seitdem gewitzelt, dass wir ihn nach dem «Fernabnahmegesetz» innerhalb der ersten zwei Wochen bestimmt zurückgegeben hätten, wenn wir ihn nur irgendwie wieder zurück in die Originalverpackung bekommen hätten … Heute könnte uns nichts mehr trennen!
Um uns zu verstehen: Diagnose-Check
Wenn sich Menschen begegnen, deren Kind behindert ist, interessieren sie sich automatisch für die Diagnosen der anderen. Diagnosen bieten immer eine gute Gesprächsgrundlage. Bei Eltern mit ähnlichen Erfahrungen ergeben sich in Sekundenschnelle Unterhaltungen über medizinische Fachthemen oder emotionale Grenzsituationen, bei denen so mancher Arzt noch richtig etwas lernen könnte.* Zugegeben, es kann auch ganz schön anstrengend sein, wenn Behinderteneltern aufeinandertreffen und es dann kein anderes Thema gibt als blöde Ärzte, Krankheiten, Therapien, Operationen und Medikamente.
Wenn eine Mutter von sich aus nicht die Diagnose ihres Kindes nennt, gehört es sich in Insiderkreisen übrigens nicht, die naheliegende Frage zu stellen: «Was hat denn deiner?» Man erzählt entweder von sich aus oder gar nicht. Aber ab drei Wochen gemeinsamen Stationsaufenthaltes kennt man eigentlich von allen die Krankengeschichte …
Natürlich kann man auf irgendeiner Party nicht so leicht Gesprächspartner auf diesem Gebiet finden (angenommen, man würde auf eine Party gehen). Die Mütter behinderter Kinder treffen sich deswegen im einschlägigen Internetforum «Rehakids», um mal in Ruhe über Antikonvulsiva* oder Stomapflege zu plaudern wie andere Mütter über Kochrezepte oder Strickmuster. Wer möchte, dass alle Mitlesenden gleich einen Diagnose-Check machen können, hat die Möglichkeit, eine Signatur in der maximalen Länge von 350 Zeichen an jeden seiner Einträge anzuhängen. Natürlich kann man auch, statt des Krankheitsverlaufs des Kindes, mehr oder weniger heilige Sinnsprüche anhängen in der Art wie: «Ein Tag ohne dein Lachen ist ein verlorener Tag.» In 350 Zeichen kann man eine ganze Menge ätzender Krankheitsbilder unterbringen, deren Bezeichnung meist nur ebenfalls Betroffenen überhaupt etwas sagt. (Oder wissen Sie, was «Lumbale Spina bifida mit HC [v-p-Ableitung]», «Arnold-Chiari-Malformation Typ 2» und «Christianson- Syndrom SLC9A6» bedeuten? Ich zum Glück nicht).
Einige Kinder haben so lange Listen mit Problemen und Baustellen, dass die Eltern das Ganze auch noch abkürzen müssen, um wenigstens die grundlegenden gesundheitlichen Fakten zu umreißen und zusätzlich noch einen kleinen positiven Satz zu ihrem Kind schreiben zu können, der unabhängig vom Krankheitsbild steht, etwa wie «Liebling der Familie». Auch die Geschwister werden meist kurz mit Vornamen und Geburtsdatum genannt. Und bei ziemlich vielen liest man, dass die Familien bereits ein oder sogar mehrere Kinder in der Schwangerschaft oder im Kindesalter verloren haben. Man kann durch diese Signatur dem oft starken Bedürfnis nachkommen, was der normale Kontakt mit Menschen auf der Straße nicht bietet – nämlich so eine Art Schild vor sich her zu tragen,