Willis Welt. Birte Müller

Willis Welt - Birte Müller


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verrückt sein mussten: Natürlich wollte ich mein Kind sehen. Und als ich es sah, da begriff ich: Mein Kind war ein behindertes Kind und deshalb freute sich niemand. Da lag auf meiner Brust, in ein hellblaues Handtuch gehüllt, ein Neugeborenes, es hatte seine schräg gestellten Augen geöffnet und blickte mir so tief ins Herz, dass es schmerzte vor Glück und Angst. Mir war sofort klar, dass mein Kind das Down- Syndrom hat.

      Doch es waren die Reaktionen meiner Mitmenschen, die mich nach der Geburt unseres Kindes mehr geschockt haben als die Diagnose selbst. Natürlich mussten mein Mann und ich am Anfang weinen, sehr viel weinen. Ich wunderte mich damals darüber, weil ich doch so selig war, meinen kleinen Willi in den Armen zu halten. Heute weiß ich, dass es die Trauer um das «normale» Kind war, das wir nicht bekommen hatten und welches wir verabschieden mussten.

      Noch heute, bald fünf Jahre nach Willis Geburt, beschäftige ich mich oft mit den Reaktionen anderer Menschen auf die Behinderung meines Kindes.

      Was ich mittlerweile nicht mehr hören kann, ist der Spruch: «Aber so ein Kind ist ja ein richtiger Sonnenschein.» Es klingt, als könne man ein Kind mit Down- Syndrom einfach in die Ecke stellen und es wäre trotzdem immer glücklich. Ist es aber nicht!

      Auch stört mich, dass am Anfang dieses Satzes ein «Aber» steht. Was wollen mir die Leute damit sagen? Wollen sie mich trösten? Doch ich brauche keinen Trost, wirklich nicht. Erst das Gefühl, dass die Leute denken, sie müssten mich trösten, macht mich traurig. Ich würde mein Kind nicht tauschen, gegen keines der Welt. (Übrigens würden die Leute, die diese Phrase von sich geben, ihr Kind auch nicht gegen meines tauschen, obwohl meines doch angeblich so ein Sonnenschein ist.) Und natürlich ist Willi mein Sonnenschein, aber meine kleine Tochter Olivia ohne Down-Syndrom ist das genauso! Würden nicht alle Eltern sagen, dass ihr Kind ihr Sonnenschein ist?

      An schlechten Tagen (wenn der Sonnenschein z. B. morgens mit seiner vollgekackten Windel im Bett gespielt hat) hätte ich Lust, auf den Spruch mal zu antworten: «Ja, die Sonne scheint ihm aus dem Arsch.» Aber warum unhöflich werden, es ist ja nett gemeint. Ich nicke also und entgegne brav: «Ja, ein echter Sonnenschein!»

      Es ist ja auch etwas dran an der Sonnenscheinlegende. Willi lacht wirklich viel und so herzlich und unvermittelt. Wenn wir ihn nachts trösten, weil er im Schlaf geweint hat, endet das nicht selten in einem Lachanfall aller Beteiligten. Sein Weinen kann direkt in Kichern umschlagen. Sein Lachen ist unglaublich ansteckend und immer ehrlich. Wenn Willi gut drauf ist und immer wieder am ganzen Körper wackelt vor lauter Glucksen, nur weil er ein paar Seifenblasen beobachtet oder einen großen Schokoladenkeks in der Hand hält, dann sind das die schönsten Momente meines Lebens! Es ist, als würde sein Herz näher an der Oberfläche liegen. Das Glück strömt direkt heraus. Doch ist es mit seiner Traurigkeit genauso. Willi kann auch nicht auf Befehl lachen, etwa für ein Foto, wogegen Olivia mir neulich erzählte, nachdem ich ein paar Bilder von ihr gemacht hatte, ihr tue das Gesicht weh vom «Niedlich-Gucken» …

      Tatsächlich ist es wohl schwierig, der Mutter eines behinderten Kindes gegenüber die richtigen Worte zu finden. Bei Willis Geburt hätte ich mir zum Beispiel zwei Dinge gewünscht: dass man mir zu meinem Baby gratuliert und dass man von vornherein offen mit uns gesprochen hätte. Und was dabei rausgekommen wäre, hätte dann in etwa so geklungen: «Herzlichen Glückwunsch, Ihr Kind hat Down-Syndrom!» Geht ja auch nicht …

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      Down-Syndrom? Ach du Scheiße!

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      Neben dem Sonnenschein-Spruch ist folgender Kommentar zu Willi in seinen ersten Jahren sehr beliebt gewesen: «Aber das sieht man bei deinem Sohn gar nicht, dass er das Down-Syndrom hat», gerne in einem betont aufmunternden Tonfall gesagt. Das ist sicher nett gemeint und soll mich freuen. Aber mal ganz ehrlich: Mir ist es wirklich egal, ob man meinem Kind seine Behinderung ansieht oder nicht, er hat das Down-Syndrom, dann darf man es auch sehen. Ich will gar nicht so tun, als wäre er ein anderer, als er ist. Ich mag gar nicht daran denken, wie viel man ständig erklären müsste bei einem Kind, das geistig so schwer behindert ist, aber vollkommen normal aussieht!

      Zugegeben, am Tag nach Willis Geburt habe ich mit meinem Mann dagesessen und geweint, weil wir Angst hatten, unser Kind würde später gar nicht niedlich sein, sondern immer beknackt aussehen. Wir blätterten begierig die Informationsmaterialien durch, die sich schnell in unserem Krankenhauszimmer stapelten, und konnten uns nicht satt sehen an den Bildern der süßen Babys und Kinder mit Down-Syndrom. Tatsächlich ist Willi das hübscheste und süßeste Kind der Welt (nur unsere Tochter Olivia kann da mithalten)! Ich vermag es nicht, Ihnen zu beschreiben, wie schön seine Augen sind, wie sie leuchten, wenn er sich freut!

      Die enge Familie und Freunde behaupten auch öfter mal, man würde Willi seine Behinderung nicht ansehen, aber die sind dann einfach betriebsblind geworden. Neulich war ich mit einer guten Freundin und den Kindern unterwegs, als sie wieder anfing mit den Worten: «Aber mal echt, Birte, sag mir, woran man bei Willi jetzt gerade sieht, dass er das Down-Syndrom hat?» Die Antwort fiel mir nicht schwer, da Willi mit weit offenem Mund dasaß und ihm die Zunge etwa bis zum Kinn heraushing. Ihr war das gar nicht mehr aufgefallen. Auch für mich ist mein Sohn einfach normal so, wie er ist! Und er sieht aus, wie er aussieht, eben ganz perfekt! Manchmal schauen mein Mann und ich den Willi an und wundern uns, warum er grad so anders aussieht, bis einem von uns auffällt, dass sein Mund gerade mal geschlossen ist …

      Es fällt mir selten auf, dass Willi «behindert» aussieht, auch wenn ich weiß, dass es so ist. Ich lese es weniger in Willis Aussehen als in den Gesichtern der Menschen, die ihn anschauen. Aber niemand muss sich genötigt fühlen, mir meinen Sohn schönzureden, weil er schön ist!

      Ich mag die Kommentare der Kinder, die sind immer ehrlich.

      Ein entfernter Cousin Willis fragte mich einmal: «Warum sieht Willi eigentlich aus wie ein Chinese?» Auch wenn ich das selbst nicht finde, verletzt mich so ein Spruch überhaupt nicht, ich fand es sogar lustig. Das war wenigstens mal eine direkte Frage, obwohl ich gestehen muss, dass ich dem Jungen empört antwortete: «Quatsch, Willi sieht gar nicht aus wie ein Chinese, sondern wie ein Mongole!» (Und warum er anders aussieht, habe ich danach natürlich auch noch erklärt.)

      Die schönste Reaktion aus unserem Freundeskreis auf Willis Behinderung kam von einem Kollegen meines Mannes. Er beglückwünschte uns zu unserem Kind, war aber (so wie wir ja auch) irgendwie schockiert über die Botschaft, dass das Kind nicht ganz so war, wie man es sich eben vorstellt, nämlich normal. Er sagte: «Na ja, wenigstens ist euer Sohn dann immer der Erste, der auf dem Stadtteilfest anfängt zu tanzen.»

      Er hat damit übrigens recht behalten!

      Ich will hier aber auch noch meine absolute Lieblingsbemerkung (weil wirklich ehrliche Reaktion) eines erwachsenen Menschen auf die Behinderung meines Sohnes verraten. Willi war damals ein knappes Jahr alt und wurde noch durch eine Nasensonde ernährt, die deutlich sichtbar mit einem Pflaster auf seiner Wange befestigt war. Ich besuchte ein Café, in dem als Servicekräfte nur geistig behinderte Menschen arbeiten. Der Kellner nahm umständlichst unsere Bestellung auf und fragte dann, etwas vernuschelt, was mein Kind denn habe und ob das wieder weggehen würde. Ich erwiderte, er habe das Down-Syndrom und dass das wohl eher nicht wieder weggehen wird. Darauf antwortete der junge Mann so richtig schön von Herzen: «Down-Syndrom? Ach du Scheiße!»

      Ich habe selten so gelacht! Es war so befreiend, dass endlich mal einer das ausgesprochen hat, was wohl viele Menschen im ersten Moment denken. Allein für diese Ehrlichkeit wünsche ich mir, dass Willi eines Tages sprechen lernt!

      Um sich alles besser vorstellen zu können: Ein ganz normaler Tag aus unserem Leben (Winter)

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