Erhoffte Hoffnungslosigkeit. Frank Witzel

Erhoffte Hoffnungslosigkeit - Frank Witzel


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eingetauscht gegen eine vermeintliche Klarheit, auf der sich dann schon bald wieder die alten Emotionen ausbreiten können, die Erinnerungen, Befürchtungen und natürlich das Bedauern.

      Sei doch froh, sage ich mir, und natürlich bin ich auch froh. Ich mache mir keine Illusionen über den bewusstseinserweiternden Wert des Wahnsinns, dennoch bin ich gleichermaßen desillusioniert über die Normalität des rationalen Denkens, in die ich unwillkürlich und wie aus einem antrainierten Reflex zurückkehre. Dieser Büroalltag, noch dazu selbstgewählt und nicht durch Umstände aufgezwungen. Ich sitze bei offenem Fenster in der beißend kalten Luft auf dem Bett, so als wollte ich mir wenigstens die Umgebung so unangenehm wie möglich gestalten. Gegen die Kälte andenken, wie die tibetanischen Mönche, die in nasse Tücher gewickelt in den Schnee gelegt werden und sich mithilfe der eigenen Wärme trocknen müssen. Dagegen sind das hier doch alles nur Spielereien. Noch etwas Kant lesen. Oder Berkeley. Dann einen Tee machen und aus dem Fenster schauen, während es dunkel wird. Gnade des Abends, der von der Arbeit befreit. Und dann noch mal als Nachtgebet zusammengefasst: Das Bewusstsein ist der Kapitalist, die Sprache ist der Faschist, und der, der die beiden in Schach zu halten versucht, das, was man vielleicht früher einmal die Seele nannte, das ist der Bürokrat, der sich nur Ordnungssysteme ausdenken kann, angeblich, um die permanenten Querelen dieser unter dem Begriff des Ich zusammengefassten Dreifaltigkeit zu schlichten, während er sie in Wirklichkeit immer wieder selbst entfacht.

2019

      22.02.2019

      Heute Morgen wachte ich sehr früh auf, es war noch dunkel, und meinte, während ich noch dalag und mich orientierte, eine Figur meinen Körper verlassen und in einem Abstand von vielleicht zwei Metern über mir schweben zu sehen. Diese Figur hatte kaum Tiefe, sondern schien eher wie eine der Gestalten aus den Experimenten von Schrenck-Notzing: ein nachlässig auf Pappkarton aufgezogenes Schwarz-Weiß-Foto, das einen Kopf mit Spitzbart auf einem armlosen Oberkörper darstellte. Starr und ohne sich zu bewegen oder gar ein Wort zu sagen, mehr noch, ohne sich überhaupt bewegen oder sprechen zu können, harrte diese Figur über mir aus. Es war eine absolut lächerliche Erscheinung, die dennoch ein eigenartiges Gefühl der Rührung in mir hervorrief. Gerade weil sie nichts tat, nichts tun konnte, da ihr sämtliche Gliedmaßen fehlten, ich sie trotz ihrer absurden Gestalt jedoch auf eine gewisse Weise ernst nehmen musste, entstand ein Gefühl in mir, wie es sich vielleicht einstellt, wenn man hypnotisiert wird. Ich fing grundlos, das heißt ohne Beteiligung von Emotionen, an zu weinen, so als hätte ich von dieser Pappfigur den Befehl dazu erhalten. Dann schlief ich wieder ein.

      Während mich das Erlebnis im Dezember vor zwei Monaten beunruhigt hatte, weil für einen Moment die Wahrnehmung als Wahrgenommenes in mein Bewusstsein getreten war, irritierte mich an dieser eigenartigen Erscheinung vor allem ihre scherenschnittartige Banalität, die mich dennoch, oder wahrscheinlich gerade deshalb, über den ganzen Tag hinweg begleitete. Beinahe so, als hätte mein Verstand das Auftauchen eines Trugbildes nicht verhindern können und versucht, ähnlich den abgeschwächten Flüchen und Verwünschungen im Märchen, es in etwas Harmloses und Ungefährliches umzulenken, denn ein Pappgespenst, das direkt dem Handbuch der Parapsychologie entnommen zu sein scheint, kann keinen wirklichen Schrecken erzeugen. Und tatsächlich verspürte ich anfänglich, als ich mich beim erneuten Aufwachen an diese Situation erinnerte, keine Form der Verunsicherung.

      Es dauerte jedoch nicht lang, bis sich eine Art sekundäre Verunsicherung einstellte. Bislang war ich, ohne genauer darüber nachgedacht zu haben, davon ausgegangen, dass Visionen oder andere Formen der Geistestrübung immer mit einem Gefühl des Überwältigtseins einhergehen und in der Regel einen starken Eindruck hinterlassen. Hier nun hatte ich erlebt, dass etwas völlig Lächerliches, etwas, das von mir in seiner Pappdeckelhaftigkeit unmittelbar als Konstrukt erkannt worden war, dennoch eine Wirkung auf mich entfalten konnte und dass seine Wirkung gerade deshalb so erstaunlich war, weil sämtliche Insignien des Sonderbaren, Wunderbaren oder Unheimlichen nicht unmittelbar in Erscheinung traten, sondern wie sekundär vermittelt wirkten. Diese mittelbare Wirkung erzeugte eine Distanz, in der die Erscheinung unzureichend und lächerlich wirkte, vor allem aber sofort als Erscheinung erkennbar war. Dies aber war, wie gesagt, nur der erste Effekt, als ich die Erscheinung noch, ähnlich der Verschiebung in der Wahrnehmung des Raums im Dezember, als ein Durchbrechen unbewusster Kräfte verstanden hatte. Doch diese Gestalt war kein Produkt meines Unbewussten, sondern ein Produkt meines Bewusstseins, das einen unbewussten Affekt mehr oder minder erfolgreich umgelenkt hatte. Eher minder, denn tatsächlich hatte das Unbewusste das Bewusstsein vorgeführt und mit dieser Erscheinung gezeigt, wes Geistes Kind dieses Bewusstsein ist, nämlich das des Unbewussten, dem es mithilfe der eigenen Hilflosigkeit selbst in seiner Abwehr noch zuarbeitete.

      Was aber meine ich, wenn ich diese »Erscheinung« als unzureichend bezeichne? Kann eine Erscheinung denn unzureichend sein? Reicht denn nicht allein die Tatsache aus, dass sie erscheint? Und ist sie nicht vielleicht gerade durch das, was ich als unzureichend empfinde, etwas Ungewöhnliches und Besonderes, weil sie sich damit meinen Kategorisierungen entzieht, sie unterläuft? Konnte sie quasi nur banal und lächerlich sein, weil ich mit allem anderen ja in gewisser Weise hätte rechnen können? Leicht hätte sich der Verdacht einstellen können, dass ich lediglich etwas reproduziere, über das ich gelesen oder das ich auf einem Gemälde dargestellt gesehen hatte. Hier aber entstand Authentizität durch bewusste Ausstellung des Nicht-Authentischen, entstand das Sublime durch den bewussten Einsatz von Banalität.

      Vielleicht kann das Erhabene nur noch als Banales in Erscheinung treten, weil seine sonstigen Erscheinungsformen von Ideologie und Kitsch vereinnahmt wurden.

      Dass mich dieser Pappkamerad zu einer Form des emotionslosen Weinens hatte bringen können, ließ darauf schließen, dass ich unter seinem Blick selbst zu einer Art hilflosen Marionette geworden war, aus der man wie bei einem Zaubertrick nach Belieben Tränen herausfließen lassen konnte, ohne dass sie sich dagegen zur Wehr setzen könnte. Ich war tatsächlich nicht mehr Herr meiner selbst, aber auf eine ganz andere, indirektere und viel banalere Art und Weise, als ich es mir bislang vorgestellt oder im Ansatz erlebt hatte.

      Die Banalität dieser Erscheinung hatte bewirkt, dass mir meine Vorstellungen von Wahnsinn, Ekstase, Überwältigung etc. ungemein banal und klischiert erschienen. Bislang, so musste ich mir eingestehen, hatte ich die Welt des Wahns mit »schönen Verrückten« bevölkert, mit visionären Heiligen und genialen Schizophrenen, die ihre organlosen Körper kontemplierten. Gerade weil mich etwas Ähnliches unter Umständen nicht weiter überrascht, mein Denksystem gerade nicht infrage gestellt hätte, gerade weil ich mir alles Mögliche, jedoch gerade das nicht hätte vorstellen können, musste etwas »erscheinen«, das durch seine Banalität, seine Unechtheit, seine Lächerlichkeit wirkte, dadurch, dass es gerade keine Verbindung zu etwas Überirdischem oder Jenseitigem herstellte, sondern im Gegenteil, Fantasie und Vorstellungswelt unterlief und trivialisierte und gerade dadurch noch unvorstellbarer, noch beeindruckender, noch wahrhaftiger erschien.

      Eine Erscheinung, die dadurch beeindruckt, dass sie nicht beeindruckt, sich nicht in den etablierten Kontext des Wahns einordnet: ein Außerhalb des Außerhalb, ein Verrücken (Weiterrücken) des Verrückten (hin zum Normalen?).

      Die wichtigste Frage in Bezug auf den Wahn ist die, inwieweit er neben der Normalität bestehen kann oder inwiefern er diese Normalität kontaminiert und letztlich eliminiert. Bislang war ich davon ausgegangen, dass die Normalität sich verändert, dass sie »verrückt« wird, und nicht, dass etwas außerhalb dieser Normalität existiert, das man als Wahn bezeichnen könnte. Vielleicht könnte man es so beschreiben: Ich stellte mir den Wahn unwillkürlich als eine Form der Beziehung zu etwas vor, sodass dieses Etwas eine untergeordnete Rolle spielte und im Endeffekt auch leer hätte sein können, dennoch in der Beziehung zu ihm ein Wahn ausgelöst würde.

      Und darin liegt auch die Verbindung, zu der »Erscheinung« im Dezember, die meine Vorstellungen gleichermaßen unterlief und banalisierte – und dennoch eine Wirkung entfaltete.

      23.02.2019

      Als ich nach dem Bild suche, das als Vorlage für meine morgendliche Erscheinung gedient hatte, stoße ich


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