Erhoffte Hoffnungslosigkeit. Frank Witzel

Erhoffte Hoffnungslosigkeit - Frank Witzel


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und bis ins Mark kränkt? Ist es dabei nicht ungemein naiv und hochgradig peinlich, dass die Wissenschaften jetzt erst feststellen, dass etwas »wirkt«, was außerhalb von ihnen bereits seit vielen Jahrhunderten bekannt ist? Schon daran kann man erkennen, dass der Wissenschaftsdiskurs ein Machtdiskurs ist. Erst wenn die Wissenschaft es auch begriffen und mit ihrem Gütesiegel versehen hat, ist es »gültig«.

      Letztlich ist die Wissenschaft natürlich auch ideologisiert, sind ihre »Erkenntnisse«, spätestens, wenn sie als solche präsentiert werden, Kampfbegriffe. Das Haus ihres Seins ist die Sprachkaserne.

      17.12.2018

      Wittgenstein entwarf das Bild von einer Schachtel mit einem Käfer. Jeder Mensch besitzt eine entsprechende Schachtel, kennt aber nur den eigenen Käfer, von dem er auf die Käfer der anderen schließt. Was aber, wenn ich selbst nie in meine Schachtel geschaut habe? Etwa aus Angst, keinen Käfer in meiner Schachtel vorzufinden. Aus Angst habe ich meine Schachtel nie geöffnet und tue nur so, als wüsste ich über meinen Käfer und damit auch über die Käfer der anderen Bescheid, während ich in Wirklichkeit keine Ahnung habe und diese Unsicherheit, nie zu wissen, wovon die anderen sprechen, mit mir herumtrage. Aber vielleicht haben die anderen aus derselben Angst heraus auch nie in ihre Schachtel geschaut. Ich bekomme eine Schachtel, über deren Inhalt bereits alle reden und die zum allgemeinen gesellschaftlichen Kulturgut gehört, sodass ich nicht meiner eigenen Erfahrung traue, vielmehr gleich mitrede, ohne zu verstehen, um was es überhaupt geht. So wie ich bislang über Wahrnehmungen gesprochen habe und jetzt noch einmal dazu gezwungen werde, anders über Wahrnehmungen nachzudenken, quasi aus einem Anliegen, einem Mangel heraus, weil mir etwas in der Selbstverständlichkeit meiner Wahrnehmung abhandengekommen ist. Ich habe das Gefühl, nur Worthülsen zur Verfügung zu haben, simulierte Begriffe, die ich mir irgendwann einmal mimetisch angeeignet und mit denen ich ein Leben lang auszukommen gemeint hatte. Vielleicht bleibt einem gerade die Muttersprache auf immer fremd, und es ist die Tragik des menschlichen Ausdrucks, sich gerade auf sie zu verlassen und sie für alle anderen Sprachen zum Vergleich heranzuziehen, während ich gerade dort, wo ich nach Worten suchen, um Worte ringen muss, viel eher zu einem wirklichen sprachlichen Ausdruck gelangen könnte. Das Eigenartige, beinahe schon Beängstigende aber ist der Umstand, dass ich gemeint hatte, »die« Sprache nicht unbewusst oder nachlässig zu benutzen, sondern, allein schon wegen meines Berufs, zu reflektieren. Jetzt erscheint sie mir als Fremdsprache. Das Fremde aber an ihr ist, dass ich mich in ihr zu gut, zu fließend ausdrücken kann. Diese Sprache fließt mir aus dem Mund und aus der Hand und reißt mich in ihrem Strom davon.

      Die Wörter erscheinen mir als eine Reihe kleiner leerer Schachteln. Der Käfer ist das Behauptete.

      Weil wir ohnehin imitieren, weil wir ohnehin so tun, als kennten wir den Käfer in unserer Schachtel, weil ohnehin alles Nachahmung ist, unsere Begierde nur mimetisch erzeugt wird, ist die bewusste Imitation, so wie die Imitatio Christi, womöglich der einzig gangbare Weg: mich bewusst dazu entscheiden, zu imitieren, damit ich nicht auf eine falsche Authentizität hereinfalle. Nicht im Sinne des popkulturellen Diskurses, der etwas Richtiges meint, es dann aber falsch zu einer reinen Oberflächenaffirmation verkürzt, sondern aus der schlichten Erkenntnis heraus, dass mich das vermeintlich Echte zwangsweise überfordert, überfordern muss, diese Suche nach einem identischen, authentischen Leben, das es nicht geben kann, schon deshalb unter Umständen nicht geben kann, weil mir schlicht und einfach die Möglichkeiten fehlen, seine Existenz wahrzunehmen – auch und gerade, weil ich im Strom meiner Sprache darüber hinwegrase.

      Wenn ich aber sage, ich imitiere mein Leben, dann nicht, um eine Persona, eine Maske, eine Hülle, um das Eigentliche herum zu erstellen, einen Kokon, sondern um eine Annahme zu formulieren. Um etwas annehmen (akzeptieren) zu können, muss ich annehmen (vermuten), was es ist. Aber ich kann nur dann annehmen (vermuten), was etwas ist, wenn ich es zuvor annehme (akzeptiere). In diesem Vorgang ist die Imitatio bereits eingeschrieben.

      Der Schwindel weist mich darauf hin, dass körperliche Zustände sich nicht imitieren lassen. Der Körper beantwortet meine Frage, löst sie aber nicht. Was aber ist der Grund, dass der (Dreh-)Schwindel (Vertigo) seine Bezeichnung mit der unwahren Aussage oder Handlung teilt? Wird mir schwindlig, wenn ich einen Schwindel entdecke? Weshalb?

      Ähnlich wie der Schwindel ist auch der Schmerz eine Gnade. Die Vorstellung, ohne Schmerzen, aber bei Bewusstsein zu sterben, erscheint mir schrecklicher, als mit Schmerzen zu sterben. Schwindel und Schmerz befreien mich von dem, was mich wirklich schwindeln lässt (und zum Schwindeln veranlasst) und schmerzt: dem Diktat des Bewusstseins.

      Ich weiß nie, wohin ein Werden führt, gebe mich aber im Allgemeinen einer Art nützlichem Irrtum hin, indem ich so tue, als wüsste ich, worauf etwas hinausläuft, oder könnte es zumindest vermuten. Wahrscheinlich ist es noch nicht einmal ein Irrtum, sondern eine Lüge, eine nützliche Lüge, weil jedes Werden natürlich letztlich ein Werden zum Tod ist, weil es lediglich eine Illusion ist, irgendein Zwischenziel auf diesem Werden zum Tod als Endziel anzusehen, um sich damit über die im Werden angelegte Verunsicherung hinwegzutäuschen.

      Ferit Güven: »We will see that madness is that which cannot be spoken or written about in its own terms. One cannot correct this situation by trying to give a voice to madness, because madness would thereby become something other, something rational. Hence, one has to distinguish two seemingly different questions concerning the relationship between madness and rationality. One can say that madness itself does not have a truth, that the madman is quite simply wrong concerning the external world. Yet there is also a truth to madness, one that is accessible only to reason. Unfortunately, the difficulty is that these questions cannot be easily separated. What we designate as truth seems already to be defined by what we designate as rational. This is not as strong a claim as Hegel’s statement that what is rational is the real. It only suggests that the terms of rationality seem to be parallel to the terms of truth. It is rational to believe what is true, and it is not rational not to believe in what is true – unless of course one’s judgment concerning what is true is mistaken. Hence, even if the mad establishes the truth of madness this truth does not belong to madness; one cannot explain the truth of madness if one is mad.«

      Derrida: »Je ne philosophe que dans la terreur, mais dans la terreur avouée, d’être fou.«

      18.12.2018

      Es gibt einen Gedanken, der mich seit sehr vielen Jahren begleitet: Ich stelle mir vor, mich mit einem einzigen Buch zu begnügen, einem umfangreichen beziehungsweise komplexen Buch natürlich, und über einen längeren Zeitraum nur noch dieses Buch zu lesen, langsam, sehr langsam, sehr genau, bis ich seine Sprache und seinen Inhalt völlig verinnerlicht habe, weil ich hoffe, dadurch einen anderen Zugang zur Welt, die mich umgibt, oder meinem Leben in mir und bestenfalls beidem gleichermaßen zu finden. Es erscheint wie eine leichte Übung, doch sobald ich damit anfange, stoße ich auf andere Autoren, Bücher, Begriffe, und meine, zuerst diese klären zu müssen, um das eine Buch auch wirklich in seiner ganzen Tragweite verstehen zu können. Zumindest sage ich mir das, auch wenn ich weiß, dass es sich dabei nur um eine Ausrede handelt. Natürlich habe ich mich immer wieder über Monate mit einem einzigen Autor beschäftigt, aber diese wirkliche Beschränkung auf das eine Buch ist mir nie über einen längeren Zeitraum gelungen. Eher konnte ich Zeit mit einer Suite von Bach, einem Satz daraus, ein, zwei Takten daraus, verbringen, und je länger und langsamer ich sie übte, desto befriedigender war das Gefühl, was ich dabei empfand, weil es sich immer weiter von dem Gedanken an ein Resultat entfernte. Auch darin liegt bei diesem imaginierten eingeschränkten Lesen natürlich meine Hoffnung: mich von einem Resultat, überhaupt einem Verstehen-Wollen, weg- und auf etwas zuzubewegen, das von mir bislang gar nicht oder nur in dürftigen Ansätzen erfahren wurde. Eher war es mir gelungen, über einen längeren Zeitraum hinweg gar nicht mehr zu lesen, nur noch dazusitzen und meine Atemzüge zu zählen. Auch hier hoffte ich, etwas Grundlegendes in meinem Leben zu ändern, und tatsächlich gab es auch eine Änderung, die sich über ein halbes, einmal sogar über ein ganzes Jahr erstreckte, um mich dann doch wieder zu dem zurückkehren zu lassen, was ich zu verlassen versucht hatte. Die Frage, die sich natürlich unmittelbar aufdrängt, ist die, warum ich nicht alles beim Alten belasse, es einfach so laufen lasse,


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