Umbruch. Paul U. Unschuld
und Zwängen ausgesetzt, die sich auf die innere Verfasstheit dieser Staaten auswirkt.
Der Titel des hier vorgelegten Essays lautet «Umbruch». Er verweist darauf, dass Deutschland sich in einem tiefgreifenden Übergang befindet, der nicht als Alleingang stattfindet und bewerkstelligt werden kann. Der Untertitel «Deutschland auf dem Weg in eine neue Identität» verdeutlicht noch einmal, worum es geht. Es gibt Kräfte, die an einer wie auch immer willkürlich definierten, althergebrachten Identität festhalten möchten. Für sie ist es offensichtlich, dass eine Zukunft ohne diese Identität bedrohliche Schatten vorauswirft. Es spielen in dieser Übergangsphase andere Kräfte mit, denen die Entwicklung zu mehr Vielfalt sinnvoll, erfreulich oder auch schlicht unausweichlich erscheint und die eine harmonische Zukunft erwarten, wenn man nur mit Vernunft die anstehenden Probleme angeht.
Genau hier zeigt sich ein Defizit. Eine Identität, sei es das Selbstbewusstsein eines jeden Einzelnen oder aber die Sicht einer größeren Gruppe von Menschen auf sich selbst, ist nicht allein mit Vernunft und Fakten zu erklären. Ein gefühlter Identitätsverlust berührt zutiefst die Emotionen der Beteiligten. Diese Emotionen lassen sich nicht so einfach durch Vernunft und Fakten beruhigen und in eine von außen gewünschte Richtung lenken. Eine Argumentation, die sich über die Emotionen der Beteiligten hinwegsetzt und nur auf Vernunft und Fakten gründet, ist zum Scheitern verurteilt.
Letztlich geht es um die Frage, ob das so wichtige Vertrauen der Bürger untereinander und die vielen Menschen so wichtige Solidarität in der zunehmend heterogenen Gesellschaft erhalten bleiben werden. Oder müssen die Menschen dieses Landes Abschied nehmen von liebgewordenen Vorstellungen des Miteinanders und sich auf neue Formen gesellschaftlichen Lebens einstellen? Wie können Tradition und Wandel in Einklang gebracht werden?
Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen wäre verfrüht. Aber die Komplexität der Herausforderung in Betracht zu ziehen, das darf von allen Beteiligten eingefordert werden.
Berlin, Februar 2021
Paul U. Unschuld
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Worum geht es?
Im August und September 2018 erregte ein Tötungsdelikt an einem Einwohner in Chemnitz durch zwei oder drei junge Asylbewerber landesweit die Gemüter in der Gesellschaft. Die öffentlichen Reaktionen auf diese Tat bieten ein gutes Beispiel dafür, wie oberflächlich eine Entwicklung, die in engem Zusammenhang mit der weitgehend ungeregelten und unvorbereiteten Aufnahme von Migranten seit dem Jahr 2015 steht, von Politikern und Interessengruppen aller Seiten bewertet und für ihre jeweiligen Weltanschauungen und Ziele ausgenutzt wird.
Unbestreitbar ist, dass in Städten wie Chemnitz und Frankfurt/Oder, um nur zwei Beispiele zu nennen, denen medial besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde, jeweils zwischen eintausend und zweitausend Migranten aus dem Nahen Osten, dem Iran und Nord-Afrika leben, von denen ein sehr kleiner Teil als wiederholt straffällig und verhaltensauffällig polizeibekannt ist.
Unbestreitbar ist auch, dass die unguten Verhaltensweisen dieser vergleichsweise geringen Zahl von Migranten von einem Teil der Bevölkerung in direktem Kontakt wahrgenommen und als überaus störend und unangenehm empfunden werden. Die unbescholtene Rentnerin, die es wagt, einen jungen Mann mit offensichtlichem Migrationshintergrund darauf hinzuweisen, dass man leere Flaschen nicht einfach auf der Straße zerschellen lässt, und die dann – so ihre Schilderung – mit den Worten «Halt die Schnauze, du deutsche Sau» bedacht wird, schaut nicht darauf, dass sie nur mit einem Bruchteil der Migranten solche Erfahrungen macht. Sie vergleicht dieses Verhalten mit den Berichten in den Medien über andere Vergehen von Menschen aus dieser Gruppe und fühlt sich persönlich bedroht und verletzt.
Damit ist sie keineswegs allein, denn nicht wenige ihrer Mitbürger in Chemnitz, in Frankfurt/Oder, in Berlin und anderenorts haben ähnliche Erfahrungen gemacht, ohne dass darüber in den Medien berichtet wird. Von dieser Rentnerin und ihren Mitbürgern zu erwarten, dass sie im Sinne einer Vernunft handeln, wie sie die Logik eines Universitätsseminars in den Politischen Wissenschaften verlangt, wo sie wahrscheinlich erführen, dass auch manche einheimische junge Männer aggressiv und verletzend auf solche Zurechtweisungen reagieren, ist schlicht realitätsfern.
Niemand nimmt die Sorgen dieser Menschen ernst. Sie sind nicht notwendig «fremdenfeindlich» oder «ausländerfeindlich». Sie sind in erster Linie besorgt, dass eine vertraute Umgebung durch Menschen bedroht ist, die einen anderen Glauben, den Islam, und andere zwischenmenschliche Verhaltensweisen hierzulande mit Nachdruck einführen möchten. Die etablierten Parteien scheuen sich, die Erfahrungen dieser Menschen und ihre Wünsche differenziert zu diskutieren. So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch Menschen, die keiner Neo-Nazi-Gesinnung verdächtig sind, auf Demonstrationen zeigen, die ihnen eine Stimme verleihen, auch wenn sie dabei mit Menschen gemeinsame Sache zu machen scheinen, deren allein rückwärtsgewandte gesellschaftliche Vorstellungen sie gar nicht teilen.
Schaut man nun auf die politischen Kommentare, so sieht diese Entwicklung freilich ganz anders aus. Da wird behauptet, dass Populisten durch die Lande ziehen und den Menschen eine nationalistische Fremdenfeindlichkeit einreden, denen sich rasch tausende Bürger anschließen – also nach den Worten der ehemaligen SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles «der rassistisch motivierte Mob» –, die es bisher nur nicht gewagt haben, ihre (neo-)nazistische Gesinnung laut hinauszubrüllen.
Derartige Bewertungen verkehren den Gang der Ereignisse. Sie tragen nicht zur Lösung der Probleme und zur Beruhigung der Lage bei. Im Gegenteil. Sie verhindern eine angemessene Bewältigung der Vorkommnisse.
Am 1. September 2018 führte der Deutschlandfunk ein Interview mit Esra Küçük, der neuen Leiterin der Kulturstiftung der Allianz in Berlin, zur Migrationsproblematik im Allgemeinen und den Vorgängen in Chemnitz im Besonderen. Frau Küçük sprach nicht von den «Sorgen» der Menschen in Chemnitz und anderswo, sondern von den «vermeintlichen Sorgen». Als der 35-jährige Familienvater Daniel H. von Migranten aus dem Nahen Osten durch Messerstiche getötet wurde, sahen nicht wenige Chemnitzer in dieser Tat eine weitere Eskalation der Straffälligkeit von Migranten und gingen auf die Straße, um ihren Protest auszudrücken, weil von keinem der etablierten politischen Entscheidungsträger irgendein Zuspruch kam. Diesen Menschen insgesamt zu unterstellen, dass sie Populisten gefolgt seien, die ihnen etwas eingeredet hätten, was in Wirklichkeit nur «vermeintlich», also bedeutungslos sei, darf man entweder als eine Unverschämtheit bezeichnen oder aber als ideologisch bedingte Blindheit der bisherigen Geschäftsführerin der Jungen Islam Konferenz.
Das Interview des Radiosenders steht als ein Beispiel für eine umfassende Übereinstimmung darin, die Verantwortung und die Schuld an den Vorkommnissen einseitig deutschen Akteuren anzulasten. Welchen Anteil das Verhalten einer kleinen, aber umso auffälligeren Teilmenge der Migranten an den Ereignissen hat, das kommt in diesem Interview wie auch in der politischen Kommentierung durch die etablierten Parteien nicht zur Sprache. Jeder hat seinen eigenen Schuldigen dort gefunden, wo er seinen politischen Gegner ohnehin verortet. Ein führender FDP-Politiker sieht die Verantwortung bei der Bundeskanzlerin. Ein führender Grünen-Politiker bezichtigt den CSU-Chef Seehofer als Schuldigen. Der sächsische Ministerpräsident sieht die Ursachen gar im «Verhalten des Bundes», was immer das bedeuten soll.
So bleibt der Eindruck, dass die Vorkommnisse in Chemnitz von allen Seiten instrumentalisiert wurden. Es sind mitnichten «vermeintliche Sorgen», sondern aus realen Vorkommnissen erwachsene Sorgen, die einen Teil der Bürger antreiben. Diese Sorgen werden in der Tat von denjenigen Ewiggestrigen aufgenommen und wiederum auf einer nationalistischen Meta-Ebene vervielfältigt und dramatisiert, die hier eine weitere Chance kommen sehen, die unumgänglichen Veränderungen, die auf die deutsche Gesellschaft zukommen, vielleicht noch aufzuhalten.
Die andere Seite, sie bezeichnet sich pauschal als «die Linken», nutzt die Ereignisse in Chemnitz und anderswo, um allgemein von einem «Rechtsruck» der deutschen Gesellschaft zu sprechen und auf diese Weise ihre eigenen politischen Ziele zu verfolgen. Von den wenigen hundert oder gar tausend Menschen in Chemnitz, die tatsächlich einem rechtsextremistischen Block zuzuordnen sind, auf die Bevölkerung von ganz Chemnitz oder Sachsen oder