Umbruch. Paul U. Unschuld
geschlossen bleiben können, während wir gleichzeitig unsere Produkte der gesamten Welt anbieten. Gelegentlich wird die Unvermeidlichkeit der wachsenden gegenseitigen ethnischen und kulturellen Durchdringung aller Länder in Worte gefasst, etwa, wenn die Bundeskanzlerin von einer Politik spricht, die «alternativlos» ist. Das ist sie in der Tat. Aber die Beweisführung, die solche Aussagen unterstützt, ist auf breiter Ebene erforderlich – und hieran fehlt es.
Es sind zahlreiche Bücher und Medienereignisse, von den Talkshows im Fernsehen bis hin zu öffentlichen Reden verantwortlicher Politiker, im Umlauf, die darauf angelegt sind, die Sorgen eines Teils der Bevölkerung mit Blick auf den Übergang Deutschlands in eine ungewisse Zukunft zu beschwichtigen. Aber es sind kaum seriöse Analysen vorhanden, die sich den Begleiterscheinungen und Reizen widmen, die diese Gefühle hervorrufen. Nur wenn man sich dieser Begleiterscheinungen und Reize bewusst ist, kann eine Debatte entstehen, ob sie beachtet werden müssen, ob sie abzumildern sind, ob sie erklärt werden müssen oder ob sie ganz abgestellt werden können. Erst auf dieser Grundlage kann man möglicherweise auch die negativen Emotionen kontrollieren, die öffentlich zum Ausdruck kommen.
Die mit der Flüchtlings- und Migrantenproblematik befasste öffentliche Debatte kennt kaum Zwischentöne. Jeder scheint gefordert, sich für eine Seite deutlich zu entscheiden: für diejenigen, die im akademischen und politisch korrekten Rampenlicht stehen und jeden an der offenen Grenzpolitik und der Integrierfähigkeit hunderttausender fremdkultureller Zuwanderer Zweifelnden als Ausländerfeind und Rassisten kennzeichnen, oder für diejenigen, die sich stetig radikalisierend einem veralteten Nationalismus verpflichtet fühlen. Dass unter den Zweiflern viele, vielleicht sogar in der Mehrheit, sind, die den verständlichen Wunsch hegen, auch weiterhin ein Leben führen zu können, das ihren wohlbegründeten Wertvorstellungen entspricht, findet in der medienwirksamen Auseinandersetzung nur selten Ausdruck, so etwa in einem Leserbrief in einer Berliner Tageszeitung vom 21./22. Mai 2016 als Reaktion auf einen der üblichen pauschalisierenden Berichte über die angeblich aus bestimmten Lebensläufen resultierende fremdenfeindliche Einstellung ganzer Bevölkerungsgruppen:
«Ja, ich gehöre zu den Rentnern mit dem angeblichen ‹extremen Schwarz-Weiß-Denken› und dem ‹stark materiellen Sicherheitsbedürfnis›, die als Kriegskinder Schlimmes erlebt haben. Und nein, wir waren keine Nazi-Familie, unser Opa hat keine Kriegsverbrechen in Russland begangen, er verstarb sehr früh. Ich habe keinen Hass gegenüber Flüchtlingen, die aus Kriegsgebieten unter unsäglichen Strapazen flüchten mussten. Soweit es mein Geldbeutel erlaubt, beteilige ich mich an vielen Spendenaktionen. Ich habe aber etwas gegen Zugewanderte, die ständig herummotzen, die mit ihren kriminellen Familien ganze Stadtviertel beherrschen, die nur fordern, sich ständig als Opfer fühlen und die uns ihre Religion überstülpen wollen. Ich mag keine Einwanderer, die es nur auf unsere Sozialleistungen abgesehen haben, die unsere Kultur, unsere Werte verachten, die junge Frauen begrapschen und unsere Polizisten verprügeln. Und ich mag keine Experten, die nicht den Mut haben, die wirklichen Ursachen für die Erfolge der AfD zu benennen, die gegen Ostdeutsche und ehemalige deutsche Heimatvertriebene hetzen und kritische Bürger als Flüchtlingshasser verunglimpfen.» 4
In der hier vorgelegten Betrachtung stehen daher nicht die intellektuellen Analysen im Vordergrund, die in kleinen akademischen Zirkeln die Problematik von Migration und gesellschaftlichem Wandel erläutern. Vielmehr sollen die Emotionen gegenüber diesem gesellschaftlichen Wandel deutlich werden, die aus historischen Gegebenheiten, dem Festhaltenwollen an langfristigen Gewohnheiten und nicht zuletzt aus den Informationen entstehen können, die täglich in den Medien der Bevölkerung dargeboten werden.
Deutschland steht vor drei gewaltigen Herausforderungen: Das ist die zunehmende innere ethnische und kulturelle Vielfalt. Das ist die Integration Europas, in dem nun Länder unterschiedlicher, historisch bedingter innerer Verfassung eine Einheit, ja sogar eine «Gemeinschaft» bilden sollen. Das ist schließlich die Einbindung Deutschlands über Europa hinaus in ökonomische, militärische und somit politische Netzwerke, die unvermeidlich einen Souveränitätsverlust mit sich bringen. Das ist nicht etwa ein abstrakter Verlust, den man im Alltag nicht bemerkt. Im Gegenteil, der Souveränitätsverlust geht für jeden Einzelnen damit einher, immer weniger über die herkömmlichen demokratischen Regulierungsmöglichkeiten auf die Gestaltung des Alltags Einfluss nehmen zu können. Diese drei Herausforderungen sind eng miteinander verknüpft. Viele nachdenkliche Menschen sind bemüht, ihren Beitrag als Reaktion auf diese Herausforderungen zu leisten. Es fehlt allerdings eine politische Vision, die alle drei Herausforderungen gemeinsam benennt und zu meistern verspricht.
Die zentrale Frage, jetzt und für geraume Zeit lautet: Welche Zukunft soll Deutschland haben?
Die Bundeskanzlerin hat im Jahre 2015 verkündet: «Wir schaffen das!» Das mag so sein. Eine Bedingung dafür lautet, dass nicht nur die «zu kurz Gekommenen» ihren Unmut bis hin zur Wut angesichts einiger Formen äußern, die der Wandel annimmt. Tatsächlich ist Unmut in offenbar allen Schichten der Bevölkerung anzutreffen; es gehen nur nicht alle Schichten der Bevölkerung auf die Straße, um ihren negativen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Die Beschwichtiger übersehen auf diese Weise, dass sich ein Nährboden aufbaut, der für den Missbrauch fruchtbar ist. Das hat es schon einmal gegeben; es darf nicht wieder vorkommen.
Die Bundeskanzlerin hat im Jahre 2016 verkündet: «Deutschland bleibt Deutschland.» Das ist mit Sicherheit nicht so.
Welches Deutschland soll denn Deutschland bleiben? Das Deutschland von 2016 ist nicht das von 1968 und auch nicht das von 1950 oder 1933 oder gar 1870/71. Deutschland hat sich stets verändert. Es hat nicht zuletzt in den vergangenen Jahren Ballast der Vergangenheit abgeworfen, die Paragrafen 175 und 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein gutes Stück vorangebracht und vieles andere mehr. Vor allem, und dieser Tatsache gilt dieses Essay, hat sich die Bevölkerungsstruktur so sehr geändert, dass vielleicht nicht in jedem Dorf in Niederbayern, im Steigerwald oder in der Uckermark, aber doch in jeder größeren Ortschaft und in allen Städten eine Vielfalt der Menschen, ihrer Denkweisen, politischen Anschauungen und vor allem kulturellen Orientierungen eine Wirklichkeit angenommen hat, die das Wort «Deutschland bleibt Deutschland» als das offenlegt, was es tatsächlich ist: eine Beschwörung, die Beunruhigung dämpfen soll – aber genau dazu nicht geeignet ist, weil die Menschen die tiefgreifenden Veränderungen Deutschlands, wenn nicht aus eigenem Erleben, dann aus den Medien, tagtäglich wahrnehmen. Es geht nicht darum, eine Illusion aus vergangenen Zeiten zu stärken; es geht darum, sich dem Übergang mit offenen Augen zu stellen und das Beste für alle Beteiligten daraus zu machen.
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National ganz ohne Hymne
Wir erinnern uns an folgende Begebenheit, die sich seit Jahren vor jedem Länderspiel der Mannschaft des Deutschen Fußballbundes wiederholt: Die Spieler stehen angespannt auf dem Platz. Die Nationalhymnen werden gespielt. Die Fernsehkamera gleitet vor den Spielern entlang, die in wenigen Minuten für Deutschland Tore schießen oder im eigenen Netz verhindern sollen. Die Gesichter erscheinen in Großaufnahme. Der eine bewegt die Lippen, der andere nicht. Mit Sicherheit bewegen diejenigen ihre Lippen nicht, die im heutigen Sprachgebrauch einen Migrationshintergrund haben. Sie schauen starr nach vorne. Sind vielleicht mit ihren Gedanken bei der bevorstehenden Aufgabe. Sie wissen, dass sie von Millionen beobachtet werden. Mitsingen können sie nicht. Wie auch: «Deutschland, einig Vaterland» passt nicht. Da bleiben sie stumm – und das ist auch gut so.
Deutschland ist nicht das Vater- oder Mutterland derer, die in der Türkei, in Kroatien oder den USA geboren wurden, auch nicht, wenn sie von Müttern und Vätern in Deutschland auf die Welt gebracht wurden, die aus allen möglichen Ländern nach Deutschland gekommen sind, hier einen deutschen Pass erworben haben, und deren Kinder nun auf die eine oder andere Weise zum Wohlstand oder aber auch, mit umsichtigem Fußballspiel, zum Wohlbehagen der Bevölkerung beitragen. Einige mögen sich nach ein, zwei Generationen tatsächlich als Deutsche fühlen. Ihr ethnischer Hintergrund mag verblassen. So ist es in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder geschehen. Auch die Tilkowskis, die Juskowiaks, die Szymanskis und andere, die im 19. Jahrhundert aus Osteuropa nach Deutschland einwanderten, haben sich nach ein, zwei, spätestens