Umbruch. Paul U. Unschuld
sind. Dort wird schließlich die christliche Vergangenheit weiter Teile des heute türkischen Territoriums geleugnet. Zielstrebig wird die «islamische Festung» errichtet, einhergehend mit der Auslöschung auch der letzten noch verbliebenen Spuren christlicher Präsenz; all dies mit Billigung und tatkräftiger Unterstützung der politischen Kreise, die Herrn Davutoğlu an die Regierung gebracht haben. Die Frage für die nicht-türkischstämmigen Deutschen lautet: Wer wird in Zukunft das Zusammenleben der nicht-islamischen Bürger Deutschlands mit den türkischen Migranten bestimmen: Die 59 % Erdoğan/AKP-Wähler oder die 41 % der in Deutschland lebenden Türken, die sich nicht für Erdoğan und seine AKP-Islamisierungspolitik begeistern können? Im Frühjahr 2015 besuchte der türkische Staatspräsident und vormalige Vorsitzende der AKP die Bundesrepublik, um seine in Deutschland lebenden Mitbürger zur Wahl der AKP zu bewegen. Zum Auftakt der Kundgebung in der Messehalle in Rheinstetten bei Karlsruhe begrüßte Erdoğan die Tausenden Türken, die gekommen waren, um ihm zu huldigen, mit den Worten: «Ihr seid für uns nicht Gastarbeiter, sondern unsere Stärke im Ausland.» Die Türken in der Bundesrepublik seien «die Stimme der Nation». Die Anhänger skandierten: «Wir lieben dich, Erdoğan, wir sind stolz auf Dich», und auf Erdoğans Aufforderung riefen sie die Formel: «Eine Nation – eine Fahne – ein Vaterland – ein Staat».
Als am 17. November 2015 in allen Fußballstadien Europas die letzten Ausscheidungsspiele für die Europameisterschaft 2016 in Paris stattfanden und zugleich zahlreiche internationale Freundschaftsspiele angesetzt waren, bestand allerorten Einigkeit, die Spiele im Gedenken an die islamistischen Verbrechen in Paris nur wenige Tage zuvor mit einer Schweigeminute einzuleiten. In Istanbul war ein Spiel der Türkei gegen Griechenland angesetzt. Ein Großteil der Fans nahm die Schweigeminute wahr, um ihre Sympathie für die Schlächter von Paris zu demonstrieren. Sie sangen die Hymne der Nationalisten: «Die Märtyrer sind unsterblich; das Vaterland ist unteilbar!» Mit solchen Bildern und Berichten in den deutschen Medien werden Gefühle nicht nur der hier lebenden Türken, sondern auch der hier lebenden Nicht-Türken angesprochen. Und diese Gefühle wirken sich aus.
Wie tiefgreifend die Distanz zwischen den einheimischen Deutschen und einer Vielzahl der in Deutschland lebenden Türken geblieben ist, zeigte sich auch Ende Mai/Anfang Juni 2016 im Vorfeld der für den 2. Juni geplanten Resolution des Deutschen Bundestags zum Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren. Zehntausende wütender E-Mails, abgesandt aus Deutschland und der Türkei, überschwemmten die Server des Deutschen Bundestags. Tausende Türken demonstrierten auf der Straße gegen die Verabschiedung der Resolution. Mit Drohungen und Erpressungsversuchen wurde Druck nicht zuletzt auf Abgeordnete mit türkischem Migrationshintergrund ausgeübt.
Die deutsche Kultur der Selbstbesinnung und der uneingeschränkten Schuldeingeständnisse der gesamten deutschen Bevölkerung angesichts der Verbrechen der NS-Zeit begegnet jedem, der in Deutschland lebt, auch mehr als 75 Jahre nach Kriegsende noch tagtäglich in den Medien, im gesamten öffentlichen Leben, an ungezählten Gedenkorten, einschließlich der vielen Stolpersteine vor den ehemaligen Wohnungen der Opfer. Offenbar hat dieses kulturelle Umfeld überhaupt keinen Einfluss auf das Denken derjenigen neuen Mitbürger gehabt, die auch 100 Jahre nach den Verbrechen an den Armeniern der historischen Wahrheit nicht zu begegnen wünschen.
Man möchte meinen, sie hätten genügend Zeit und Gelegenheit gehabt, an dem Beispiel Deutschlands einzusehen, dass das Eingeständnis auch schwerster Verfehlungen nicht das Ende des Staates und der Gesellschaft ist – im Gegenteil als Befreiung von großer Last empfunden werden kann. Aber zu dieser Art von Integration in die deutsche Kultur der kollektiven Erinnerung sind diejenigen offenbar nicht fähig, die sich auch in Deutschland an des Präsidenten Erdoğans Mahnung halten, allerorten «die Stärke der Türkei» zu repräsentieren. Selbst Aydan Özoğuz, die Beauftragte des Bundestags für Integrationsfragen, eine SPD-Politikerin türkischer Herkunft, distanzierte sich öffentlich von der Resolution.4
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EU als europaweite Vergesellschaftung
Der Weg in die Gesellschaft als politische Struktur, die das Zusammenleben von Fremden als notwendig, sinnvoll und daher wünschenswert ansieht und durch entsprechende staatliche Institutionen ordnet, wird in der Türkei nicht eingeschlagen. Auch das muss im Grunde als innerstaatliche Eigenart betrachtet werden. Dennoch ist der türkische Weg allgemein wichtig aus zumindest zwei Gründen. Da ist zum einen das von der Türkei eröffnete und von manchen westlichen Politikern geförderte Aufnahmeverfahren in die EU. Hier muss man sich fragen, ob die Türkei Europa-«gesellschafts»-fähig ist. Die EU ist die nach den Nationalstaaten logische nächsthöhere Ebene der Vergesellschaftung.
Nicht nur aus deutscher Sicht hat die Nationalstaatlichkeit ihre Grenzen erreicht. Die verschiedenen Stufen der Vergesellschaftung in Deutschland, ob es die Gründung des Norddeutschen Bundes war, dann die Gründung des Deutschen Reiches, waren stets notwendig, um die kontinuierliche Ausweitung existenzsichernder Handelsbeziehungen in feste politische Strukturen einzubinden. Jede neue, höhere Ebene der Vergesellschaftung bedeutete, dass immer größere bisherige «Gemeinschaften» mit eigenem komplexem Innenleben gezwungen waren, den kontinuierlichen Umgang mit den bislang Fremden, vielleicht sogar vormals feindlich gesinnten Nachbarn als Normalität anzusehen und durch Institutionen zu stabilisieren, die über den Teil-Gemeinschaften standen. Die Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Beziehungen zwischen den ehemaligen «Erzfeinden» Deutschland und Frankreich, von der Montan-Union bis zu einer gemeinsamen Deutsch-Französischen Brigade ist eines der schönsten Beispiele für diese Entwicklung. Sie wurde zur Keimzelle der europäischen Einigung. Der Verlust bisheriger Souveränität war in dieser Dynamik stets inbegriffen.
Und nun die EU. Sie bildet im europäischen Raum die höchstmögliche Ebene der Vergesellschaftung. Die bis zum erfolgreichen Brexit-Referendum britischer Wähler am 23. Juni 2016 28 und in Zukunft nur noch 27 EU-Mitglieder nehmen auf dieser Ebene die Rolle von «Gemeinschaften» ein, die den Umgang mit den einzelnen, zuweilen höchst unterschiedlichen übrigen «Gemeinschaften», also den mehr oder weniger «Fremden», als vorteilhaft ansehen. Die enge Verbindung mit den Nachbarn ist wiederum der Ausweitung des Handels geschuldet, und – so die Erwartung – sie ist für alle Teilnehmer von Nutzen, wenn sie bereit sind, die Spielregeln zu befolgen, die der «Vergesellschaftung» bereits von der niedrigsten Ebene an zugunde lagen. Diese Spielregeln verlangen, dass alle Beteiligten ihre eigenen Partikularinteressen ein Stück weit zurückzustellen und sich unter neutrale, übergeordnete Instanzen begeben, die darauf angelegt sind, das Vertrauen aller zu genießen.
Die Gründung der EU ist ungleich komplizierter als die Schaffung früherer Ebenen der Vergesellschaftung. Der Norddeutsche Bund, das Deutsche Reich – die «Gemeinschaften», die dort zusammenfanden, man denke an die Animositäten etwa zwischen Preußen und Bayern, waren nicht zu vergleichen mit der europaweiten Zusammenführung von unterschiedlichen Völkern wie der Finnen mit den Italienern, der Balten mit den Portugiesen, selbst der Deutschen mit den Franzosen. Die europäischen Nationalstaaten in einer neuen, übergeordneten «Gesellschaft» zusammenzuführen, ist deshalb so schwierig, weil einige Staaten intern, auf der eigenen, niederen «Gesellschafts»-Ebene, noch nicht die Stabilität im Zusammenleben ihrer eigenen Teil-«Gemeinschaften» erreicht haben. Die sollen sie aber nun auf der nächsthöheren Ebene einbringen und mittragen, auf der sie zukünftig als Nationalstaat den Status einer «Gemeinschaft» unter vielen einnehmen.
Die Situation ist insbesondere dort nicht dem Ideal nahe, wo die «Vergesellschaftung» – zumeist bereits vor Jahrhunderten – nicht durch Einsicht aller Beteiligten in das gesteigerte Gemeinwohl auf höherer Ebene zustande kam, sondern durch einseitige Machtansprüche und Herrschaftsausübung. Ein solches historisches Erbe spiegelt noch heute die Lage auf dem Balkan wider, wo noch 1995 mit dem Massenmord an 8000 bosnischen Muslimen durch bosnische Serben – der jüngste Völkermord in Europa – das althergebrachte Ziel einer ethnisch-religiösen Homogenität eines Territoriums angestrebt wurde. Eine harmonische Eingliederung der dort lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften in ein Staatswesen, das in eine gesamteuropäische Gesellschaft überführt werden könnte, ist momentan kaum vorstellbar.
Nicht mit vergleichbar gewalttätigen Auseinandersetzungen,