Wirksam werden im Kontakt. Mechtild Erpenbeck
auf unserer inneren Bühne beim Zuhören? Zunächst einmal gilt es, gewahr zu werden, ob sie überhaupt angemessen frei ist. Oder ob dort vielleicht noch ein ganz anderes Stück in vollem Gange ist: turbulente Gedanken und Gefühle aus meinem privaten Erleben, die nachdenkliche Beschäftigung mit der vorhergehenden Coachingsitzung, tiefe Sorge um den Weltfrieden – was immer es sei. Etwas davon ist eigentlich immer da. Schließlich können wir den Strom unserer inneren Bilder, Gedanken und Gefühle nicht abschalten. Wir können nicht nicht denken, solang wir nicht tot sind oder im Koma liegen.
Um das Gewahrsein aus der Beschäftigung mit anderen Dingen herauszuholen, und möglichst plastisch in die Begegnung mit dem Klienten hineinzulenken, hilft es, die Erscheinung dieser Person aufmerksam zu betrachten. Das heißt, von Kopf bis Fuß hinzuschauen. Was strahlt die Person für eine Energie aus? Welchen Unterschied zur letzten Sitzung/zum ersten Händedruck nehme ich wahr? Wie würde ich die Person heute mit einer Metapher beschreiben? Stiller Bergsee, öde Landschaft, brodelnder Vulkan, trauriger Clown, verschreckte Prinzessin, Panzerschrank, zerlaufende Uhr – was auch immer als Erstes kommt. Selbst wenn sich in dieser kleinen gesteuerten Hinwendung zu meinem Gegenüber kein klares Bild formt, so habe ich mich doch wenigstens einen intensiven Moment lang mit meiner Wahrnehmung der Person beschäftigt und kann mir sogar schon mal meine ersten Fantasien bewusst machen. Sich eine solche Betrachtung des Menschen zu erlauben – so, wie man auch ein Kunstwerk aufnehmend betrachtet, es für sich weiterspinnt, es intuitiv für sich übersetzt, sich inspirieren lässt, unwillkürlich Vergleiche und Assoziationen bemüht –, das ist eine vortreffliche mentale und emotionale Rutsche in die angemessene offene Aufmerksamkeit einer Person gegenüber.
Manchmal scheint es, als wenn in Systemikerkreisen die Abneigung gegen jedwede Deutung und Diagnostik dazu führt, dass man den Nutzen der Fantasie und den Reichtum der inneren Resonanz auf Wahrgenommenes tendenziell aus dem Blick verliert – nicht unbedingt in Bezug auf die Klienten, wohl aber in Bezug auf die Professionellen, die Beratenden, Coachs und Therapeuten selbst.
Folgendes ließe sich dazu denken: Wenn man die Sache mit der nicht wirklichen Wirklichkeit ernst nimmt, wenn also all das, was wir für gegeben halten, lediglich unsere Sicht der Dinge spiegelt, dann, ja dann fällt auch bereits dieser Gedanke darunter, denn er konstruiert in seiner Schlüssigkeit eine Realität. Dann gilt das für alle gedachten Gewissheiten – auch die systemischen! Dann sind all unsere »Erkenntnisse« nichts weiter als das, was wir aus unserer jeweiligen Welterfahrung zusammenbauen, um uns zu der Welt unseres Gegenübers ins Verhältnis setzen zu können. Nichts von dem, was wir zu erkennen glauben, hat in diesem Sinne Anspruch auf Gültigkeit. Auch wenn wir gerade besonders schlau darüber nachdenken können. Wie in diesem Moment zum Beispiel. So funktioniert doch konsequent angewandte Rekursivität. Das mag verwirrend und paradox klingen, gleichzeitig haben diese Gedanken etwas sehr Tröstliches: Auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, komme ich aus der omnipräsenten Klemme nicht raus. Was tun? Machen wir was daraus! Seien wir so kreativ wie möglich, spielen wir mit Ideen und teilen sie einander mit, erfinden wir, spinnen wir, brauen wir etwas zusammen und prüfen dann gemeinsam, ob’s zu was taugt. Wenn nicht, dann nicht. Diese Haltung in Verbindung mit einem grundsätzlich achtungsvollen Umgang im professionellen Tun kann nur fruchtbar und zieldienlich ist.
In jeder Begegnung wird uns eine Fülle an »Material« geliefert. Von der ersten Sekunde an erhalten wir von unserem Gegenüber eine große Menge an Signalen, sprachliche wie körpersprachliche. Wobei die sprachliche Seite in der Regel relativ bewusst von der Person gesteuert wird, die körperliche hingegen weniger. Es ist für uns also besonders interessant, die Körpersprache der Coachees wahrzunehmen. Der körperliche Ausdruck mit all seinen Bewegungsfeinheiten und die Stimme mit ihrer Modulationsfähigkeit bilden – bezogen auf den Versuch, einen Menschen zu »lesen« – die mit Abstand verlässlichste Datenbasis. Nicht der Text ist wichtig, sondern der Subtext, denn darin ist die wichtigere Botschaft verborgen. Nun machen sich die ganz Eifrigen mit großer Konzentration und Akribie an diese Aufgabe heran. Jedes Wort, jeder Ton in der Stimme, jeder Blick, jedes Augenzucken oder Fußwippen wird genauestens registriert und klassifiziert,2 damit bloß keine verschlüsselte Information verloren geht. Das führt in der Regel dazu, den Kontakt zu der Person eher zu verlieren, als zu gewinnen. Nicht detailversessene Fokussierung, sondern eine gelenkte Defokussierung könnte zieldienlich sein. Gerade weil wir unwillkürlich geneigt sind, in einem Aufmerksamkeitsfokus »einzurasten«, braucht es als Gegenmittel einen entspannten, eher unscharfen Blick, eine weite, schweifende, gleichsam periphere Wahrnehmung. Nicht die einzelnen Bäume sind wichtig, sondern der Wald. Nicht die einzelnen Töne, sondern die gesamte Melodie.
Die Psychoanalytiker nennen das »freischwebende Aufmerksamkeit«. Sie sind Meister in dieser Art des Zuhörens. Allerdings gleicht der Vollzug in der Praxis bisweilen eher dem Beuteflug des Adlers: still in großer Höhe schwebend kreisen und gelassen beobachten, was sich am Boden so bewegt, und plötzlich im Sturzflug nach unten und geschickt die Beute gepackt. Das ist dann eine sogenannte »Deutung«. Und die kann gegebenenfalls fast so sehr wehtun wie die Krallen des Adlers im Nacken der Maus – zumindest dann, wenn sie zu früh vollzieht, was im psychoanalytischen Sprachjargon »einen unbewussten Anteil bewusst machen« heißt.
Dennoch hat der Terminus »freischwebende Aufmerksamkeit« Charme und beschreibt das Gebot der Stunde ausgesprochen plastisch und genau. Es geht um ein achtsames Zuhören, das sich nicht eng und kognitiv auf die Inhalte und ihre Bedeutung konzentriert, sondern eher weit und assoziativ ist – alle Eindrücke einschließend, die mir in dem Moment durch die sprechende Person zuwachsen. Sprachliche und nichtsprachliche Eindrücke zeitigen eine Resonanz in mir. Diese Resonanz stetig wahrzunehmen ist ein wesentlicher Teil der freischwebenden Aufmerksamkeit. Was empfinde ich, wenn ich das höre? Welche Antwort in mir findet der Ton, in dem mein Gegenüber spricht? Welche Bilder, Gedanken, Körperempfindungen entstehen in mir, wenn ich das höre und sehe? Welche »unerhörte« Geschichte erzählen mir die Kopfbewegungen? Was davon möchte ich gern in ein Schatzkästchen bergen, um an geeigneter Stelle daran erinnern zu können? Wie spinne ich unwillkürlich die Geschichten weiter, die nur angedeutet werden? Wie fügt sich das jetzt Gehörte mit schon Vorhandenem zusammen?
Eine volle Aufmerksamkeit hat also genau genommen immer vier Dimensionen:
•Das über meine Sinneskanäle unmittelbar im Außen Wahrnehmbare: Was sehe/höre/rieche/taste/schmecke ich hier und jetzt?
•Die Resonanz in meiner eigenen Innenwelt: Was löst das in mir aus?
•Die Fantasien und Hypothesen zur abwesenden Außenwelt des Gegenübers: Wie stelle ich mir das Erzählte szenisch vor?
•Die Fantasien und Hypothesen zum inneren Erleben meines Gegenübers: Was haben die berichteten Szenen in meinem Gegenüber ausgelöst? Welche Empfindungen, Fantasien, Bewertungen sind wohl für sie/ihn damit verbunden?
Diese Art von »freischwebender Aufmerksamkeit« ist ein zugewandter, der sprechenden Person ergebener, und gleichzeitig sehr freier, kreativer Akt. Ein Oszillieren zwischen dem Abtauchen in die fremde Innenwelt bzw. dem »Mitträumen«3 und einem bewussten Beobachten, Erklären, Einordnen. Eine innere Verfasstheit, die mir alles erlaubt, selbst die schrägsten Assoziationen – sofern ich sie bewusst als Fantasie bzw. Hypothese betrachten und gegebenenfalls als solche zur Verfügung stellen kann. Später auf unserer Reise werden wir an einigen Möglichkeiten vorbeikommen, wie sich solche Interventionen gestalten lassen. Zunächst einmal gilt es, diese Aufmerksamkeit als ein stetes Training für das Bewusstsein zu verstehen, dass es hier zwar um Wahr-Nehmung, nicht aber um Wahr-Heit geht. Also, um mit Gunther Schmidt zu sprechen: um »Wahr-Gebung«.
1.2 Staunen
Kleine Kinder können es: vor einem Menschen stehen – z. B. im Gang der U-Bahn –, regungslos, mit großen Augen, völlig entspannten Gesichtszügen und offenem Mund, selbstvergessen in der Betrachtung des Gegenübers. Keinerlei eigene Regung, nicht die Spur einer Reaktion, eines mimischen Kommentars, eines eigenen Affekts. Das pure Staunen. Diese Ur-Form des Schauens ist noch radikaler, geht noch tiefer als die oben beschriebene Art der Aufmerksamkeit, die ja zu eigener Aktivität anregt,