Marathon in Gummistiefeln?. Manuel Stockinger
Umgebung bewusst und mit der erforderlichen Aufmerksamkeit wahrnehmen, machen wir Fortschritte. Nur dann laufen wir nicht Gefahr, dass unser Verstand strikt nach Programmierung vorgeht. Nur dann übersehen wir nicht wichtige Abzweigungen, und vergeben uns keine Chancen und Möglichkeiten, die vor uns liegen. Denn: Unsere Möglichkeiten sind unbegrenzt; wir sind nur zu blind, um sie zu erkennen.
Lieber Leser. Dieses Buch ist anders. Es ist randvoll mit ungewöhnlichen und neuen Gedanken, unbekannten Ideen, außergewöhnlichen Sichtweisen, großartigen Geschichten und unrealistischen Zielen, die mit etwas Beharrlichkeit gar nicht mehr so ungreifbar erscheinen.
Dieses Buch bewegt sich fernab der Normalität. Es entfaltet bei konsequenter Anwendung gewisse Risiken und Nebenwirkungen.
Doch genau so soll es sein. Andere Sichtweisen einzunehmen und den bewährten Weg zu verlassen, ist gefährlich. Nur wenn wir die Grenzen des konventionellen Denkens überwinden, die alten Trampelpfade verlassen und in neue Fahrgleise treten, erzielen wir andere Ergebnisse. Bessere Ergebnisse. Es wäre reinster Irrsinn, alles wie gewohnt zu handhaben und zu hoffen, dass sich daraus etwas Herausragendes ergibt.
Wir würden nur dort landen, wo die Masse landet. Im Mittelmaß.
Bei auftretenden Risiken und Nebenwirkungen frage daher lieber nicht Deinen Arzt oder Apotheker. Oder Deinen Nachbarn, Deinen Lehrer, Deinen Chef usw.
Höre einfach nur auf Dein Bauchgefühl. Es zeigt Dir schon die Richtung. Dann geht es beherzt und mit Hirn, und vor allem mit Anlauf, hinein in das Abenteuer.
In diesem Sinne viel Spaß beim Lesen, denn den wird es garantiert machen ;)
Westfield, Sidney. Wir schreiben das Jahr 1983. Mehr als einhundert Sportler befinden sich mitten unter der brennenden Morgensonne. Einhundert perfekt vorbereitete Topathleten im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die noch ein letztes Mal konzentriert durchatmen, bevor sie an die Startlinie drängen und ihre Herausforderung antreten.
Ein kleiner, um deren Oberkörper befestigter Stofffetzen flattert leicht im Wind. Darauf befindet sich eine groß gedruckte Nummer. Darüber ist zu lesen „Ultramarathon“.
Die Herausforderung, die es zu bestehen gilt, nennt sich also Ultramarathon; einer der brutalsten Laufbewerbe der Welt. Die Ziellinie befindet sich im 900 Kilometer entfernten Melbourne. 900 000 Schritte, die in den nächsten paar Tagen zu bewältigen sind. 900 000 Schritte, und bei jedem einzelnen Tritt werden die Füße der Läufer nur Wüstenboden, Schotter und Kies spüren.
Die ausgefeilte und bis ins kleinste Detail geplante Strategie der Profiathleten, um diese Tortur zu überstehen: 16 Stunden laufen und 6 Stunden Pause für Massagen, Schlaf und Regeneration.
Plötzlich gesellt sich ein älterer Herr unter die Sportler. Sein Äußeres gleicht dem eines Bauern. Seine Statur wirkt alles andere als sportlich. Er trägt Gummistiefel und Arbeitskleidung. Klarer Fall, dieser Mann muss wohl versehentlich unter die Läufer geraten sein. Man bittet ihn daher, beiseite zu treten. Er teilt jedoch mit, am Rennen teilnehmen zu wollen und löst zur Belustigung seiner Konkurrenten und der Zuschauer seine Startnummer. Der Name des 61-jährigen Rennläufers: Cliff Young
Die Wahrheit hat nichts zu tun mit der Zahl der Leute, die von ihr überzeugt sind.
Paul Claudel
Die Welt ist so, wie wir sie sehen
Denken ist irgendwie dumm. So dumm, dass uns unsere Gedanken nur zu gerne eine Welt vorgaukeln, die nicht real ist. Eine Wahrnehmungstäuschung folgt der nächsten. Denn die Dinge um uns herum, all die Ereignisse, sind nicht wirklich so, wie sie sind. Sie sind genauso, wie wir sie betrachten, so, wie wir sie interpretieren. Unsere Wahrnehmung ist nämlich situationsabhängig, einzelfallbezogen und stark von unseren angelernten Erwartungen, Wertvorstellungen und unserem Fokus geprägt. Wir erzeugen unsere Wahrheit selbst.
Stell Dir vor, zwei Personen entdecken bei einem Spaziergang durch Wald und Wiese ein niedliches, kleines Tierchen. Verdeckt von Gras ist nur das Köpfchen erkennbar. Der eine sagt: Dort drüben im Gebüsch schnattert eine Ente. Der andere starrt auf das gleiche Tierchen: Und sieht einen Hasen.
Wer hat jetzt Recht? Beide starren auf ein und dieselbe Sache. Also muss doch einer falsch liegen. Es können doch nicht beide Recht haben. Naja. Überzeug Dich selbst.
„Hasenente“ gezeichnet von Joseph Jastrow,
Psychologe († 1944)
Irre, oder? Je nach unserer Wahrnehmung sehen wir eine Ente oder einen Hasen. Zwei Menschen blicken auf ein und dasselbe und sehen dennoch zwei verschiedene Dinge. Und beide haben Recht!
Gut, dieser Enten-Hasen-Vergleich ist doch recht banal und die Auswirkungen dieser subjektiven Interpretation auf unser Leben sind relativ gering.
Allerdings funktioniert unser Hirn nicht nur bei simplen Bildern so, sondern auch bei der Beurteilung alltäglicher Situationen und unserer Umgebung. Situationen und Umgebung können aus völlig verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden.
Stell Dir vor, Du produzierst und verkaufst Schuhe. Und da im europäischen Raum die Konkurrenz groß ist, suchst Du nach neuen Märkten. Tansania zum Beispiel. Du begibst Dich auf Erkundungsreise. Vor Ort angekommen musst Du allerdings ziemlich schnell und mit Schrecken feststellen, dass dort kein Mensch Schuhe trägt. Wer bitte soll Dir hier also etwas abkaufen? Die Chance Deinen Absatz zu maximieren, ist aussichtslos: Also nichts wie weg hier.
Kurze Zeit später wird der afrikanische Markt von einem anderen Schuhhersteller ins Visier genommen. Auch er nimmt 9 Stunden Flugreise in Kauf, um zu sehen, ob sich seine Produkte fernab seiner Heimat verkaufen lassen. Schon kurz nach der Ankunft verfällt er in Begeisterung. Kein Mensch in Tansania trägt Schuhe. Genial, welche Absatzmöglichkeiten und welcher riesige Markt sich hier bietet!
Komisch.
Zwei Personen finden exakt dieselben Bedingungen vor, bewerten sie allerdings völlig unterschiedlich. Je nachdem, durch welche Brille sie sehen. Und je nachdem, welche Brille wir tragen, nutzen wir unsere Chancen.
Oder wir übersehen sie.
Vermutlich sehen die Zuschauer des Ultramarathons in Cliff Young nur einen alten Mann, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet, die falsche Kleidung trägt und ein falsches Ziel verfolgt. Die Kontrahenten sehen ihn nicht als Konkurrenz.
Warum ist das so? Ganz einfach, weil uns diese Glaubenssätze weitgehend von der Gesellschaft vorgegeben werden. Es ist eben so, dass man für ein Rennen jung und fit sein muss und Turnschuhe zu tragen hat. Eine reine Scheinwahrheit. Warum soll das so sein? Es muss nicht so sein. Es ist nur so, weil es bis heute so gehandhabt wurde, weil es bislang so der Fall war. Wer hinterfragt, gewinnt.
In einem Stamm von Ureinwohnern würde man auf Cliff Young wohl ganz anders reagieren. Die Zuschauer würden ihn aufgrund seines Alters und der damit einhergehenden Weisheit respektieren. Seine Kontrahenten würden ihn als Gegner schätzen und ernstnehmen.
Es ist also zunächst eine Frage des Blickwinkels. Eine Frage, wie wir gelernt haben, die Welt wahrzunehmen. Jede Veränderung unserer Sichtweise verändert unsere Welt. Und jeder neue, bislang nicht gedachte Gedanke verändert unsere Sichtweise. Und plötzlich kennt jede Wahrheit mindestens eine zweite Wahrheit.
Es ist eine Frage unseres Wissens.
Unsere Wahrheit und die Grenzen des Machbaren gestalten sich nach unserem Wissen. Wir glauben nur, was wir kennen. Und einen in die Jahre gekommenen Marathonläufer hat es eben noch nicht gegeben. Aber nur weil etwas bislang von niemandem gewagt wurde, bedeutet das noch lange nicht, dass es unmöglich ist. Einmal schnell zur Venus fliegen? Bestimmt.
Aber wurde nicht auch der Traum, einmal zum Mond und zurück zu fliegen, einst belächelt? Und irgendwie war die Reise zum Mond dann plötzlich doch möglich.
Ist es also wirklich so, wie es zu sein scheint? Befindet sich vor