Lesekompetenz fördern. Christine Garbe
2019, S. 6).
Mit der rasanten Ausbreitung des Internets seit den 1990er Jahren wird immer deutlicher, dass Schriftsprache in alle Lebensbereiche eindringt und dass mittlerweile auch die einfachsten Lebensvollzüge – Geld abheben, eine Fahrkarte lösen, einkaufen, eine Reise planen usw. – hochentwickelte Lese- (und Schreib)kompetenzen verlangen.
Will die Schule ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden, so muss sie den systematischen und nachhaltigen Erwerb von Lesekompetenz und stabilen Lesegewohnheiten als eine ihrer grundlegenden Aufgaben anerkennen, und [12]diese Aufgabe kann, wie dieser Band zeigen will, nicht allein dem Deutschunterricht überantwortet werden. Vielmehr muss die Vermittlung fachspezifischer Lese- (und Schreib-)kompetenzen2 in allen Unterrichtsfächern und Klassenstufen verankert werden, und die Förderung von Lesefreude, Lesemotivation und stabilen Lesegewohnheiten sollte darüber hinaus ein fester Bestandteil der Schulkultur und der Kooperation von Schule und kulturellen sowie kommunalen Einrichtungen werden. Wie dies gelingen kann, möchte der vorliegende Band darlegen. Leitend für dessen Konzeption ist dabei die Idee, die Grundlagen für die Entwicklung eines systematischen Lesecurriculums im Rahmen von Schulentwicklung zu vermitteln: In den Kapiteln 1 bis 4 werden die wichtigsten Ansätze und Methoden für die Förderung aller Aspekte von Lesekompetenz vorgestellt, und in Kapitel 5 werden diese zusammengeführt zu Empfehlungen für die Erarbeitung eines systematischen und entwicklungsorientierten Leseförderkonzepts als Teil von Schulentwicklung.
[13]1 Was ist Lesekompetenz? Grundlagen einer systematischen Leseförderung in der Schule
In diesem Kapitel soll zunächst untersucht werden, was Lesen eigentlich ist und welche Teilkompetenzen involviert sind, damit ein Leseakt zu einem erfolgreichen Verstehen des Gelesenen führt. Anhand von drei Modellen von Lesekompetenz soll zugleich verdeutlicht werden, dass bei diesem Prozess keineswegs nur das Gehirn beteiligt ist, sondern das gesamte Subjekt, und dass der Erwerb von Lesekompetenz fundamental auf stützende soziale Kontexte angewiesen ist3. Erst wenn wir ein umfassendes Verständnis der involvierten Prozesse und Ebenen gewonnen haben, können wir uns der Frage widmen, in welcher Weise diese Prozesse in formellen (und informellen) Lernsituationen optimal und systematisch gefördert werden können.
1.1 Das kognitionspsychologische Lesekompetenzmodell der PISA-Studien
Der Lesebegriff, der den internationalen Leistungsvergleichsstudien PISA und PIRLS/IGLU4 zugrunde liegt, ist kognitionspsychologisch fundiert: »Lesekompetenz wird in PISA in Einklang mit der Forschung zum Textverstehen […] als aktive Auseinandersetzung mit Texten aufgefasst. In der psychologischen Literatur zum Textverstehen besteht Einigkeit darüber, [14]dass der Prozess des Textverstehens als Konstruktionsleistung des Individuums zu verstehen ist. Lesen ist keine passive Rezeption dessen, was im jeweiligen Text an Information enthalten ist, sondern aktive (Re-)Konstruktion der Textbedeutung. Die im Text enthaltenen Aussagen werden aktiv mit dem Vor-, Welt- und Sprachwissen des Lesers verbunden. Die Auseinandersetzung mit dem Text lässt sich als ein Akt der Bedeutungsgenerierung verstehen, bei dem das Vorwissen der Leser und die objektive Textvorgabe interagieren« (PISA 2000, S. 70 f., Hervorh. CG).
Dieser abstrakt formulierte Sachverhalt lässt sich an einem alltäglichen Beispiel gut veranschaulichen: Am Eingang kleinerer Ortschaften findet man häufig Schilder am Straßenrand, die an die motorisierten Verkehrsteilnehmer gerichtet sind. In [15]dem hier gewählten Beispiel finden sich auf dem Schild zwei Sätze. Satz 1: »Fahrt langsam«, Satz 2: »Wir lieben unsere Kinder«. Dazwischen ist ein Bild von einem spielenden Kind mit einem Ball zu sehen.
Abb. 1: Schild mit spielendem Kind. Foto: Christine Garbe
Zwischen diesen beiden Sätzen besteht bei genauerer Betrachtung kein logischer Zusammenhang und es gibt noch nicht einmal sprachliche Konnektoren (etwa: »Fahr langsam, denn wir lieben unsere Kinder«), und dennoch werden wir vermutlich keine Schwierigkeiten haben, den Zusammenhang zu verstehen. Denn aufgrund unseres Weltwissens stellen wir ihn automatisch her, das heißt, wir konstruieren den Sinn, indem wir das Nicht-Gesagte ergänzen: Wenn ein Auto mit hoher Geschwindigkeit fährt, ist die Gefahr, dass es zu einem Unfall mit einem spielenden Kind kommt, größer als bei langsamem Fahren, denn der Bremsweg ist bei hoher Geschwindigkeit länger. Kinder achten häufig nicht auf den Straßenverkehr, wenn sie spielen, und die »liebenden Eltern« möchten verhindern, dass ihre Kinder beim Spielen auf der Straße zu Schaden kommen, zum Beispiel wenn sie einen Ball zurückholen wollen, der vom Spielfeld abgekommen ist. Man sieht: Selbst bei diesem schlichten Beispiel muss die Leserin oder der Leser eine Fülle komplexer geistiger Operationen vornehmen, damit das Geschriebene »Sinn macht«. Dies ist gemeint, wenn es in der PISA-Definition heißt: »Die im Text enthaltenen Aussagen werden aktiv mit dem Vor-, Welt- und Sprachwissen des Lesers verbunden.«
Lesen wird im Rahmen der PISA-Studien vor allem pragmatisch oder funktionalistisch als »Informationslesen« bzw. als »Mittel zum Aufbau von Wissensstrukturen« verstanden und eben deshalb als unverzichtbare Basiskompetenz in schriftbasierten Informations- und Wissensgesellschaften. In der jüngsten PISA-Studie 2018 mit dem Schwerpunkt Lesekompetenz in der digitalen Welt wurde die in der Einleitung zitierte [16]Definition von »Lesekompetenz« noch einmal erweitert: Darunter wird nun die Fähigkeit verstanden, »Texte zu verstehen, zu nutzen, zu bewerten und über sie zu reflektieren sowie bereit zu sein, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um eigene Ziele zu erreichen, eigenes Wissen und Potenzial zu entwickeln und an der Gesellschaft teilzuhaben« (PISA 2018, S. 48).
Was in der deutschen Übersetzung heißt: »sich mit Texten auseinanderzusetzen«, wurde bereits in die PISA-Definition 2009 aufgenommen und heißt im Englischen prägnanter »engaging with texts«; es referiert somit auf das Konzept des »reading engagement« (vgl. Kap. 3 in diesem Band). Neu ist in PISA 2018 hingegen einerseits die Erweiterung des Textbegriffs, der nun nicht mehr auf geschriebene Texte eingeschränkt ist, und das Element des Bewertens von Textaussagen sowie der kritischen Einschätzung der Glaubwürdigkeit der genutzten Quellen – eine Fähigkeit, die vor allem in der Nutzung des Internets elementar ist.
Abb. 2: Modell der Leseprozesse in PISA 2018, Abbildung adaptiert nach OECD 2019, S. 33.
[17]Dieses – noch in einigen anderen Aspekten – erweiterte Verständnis von Lesekompetenz wird im Modell der Leseprozesse verdeutlicht, welches für PISA 2018 neu strukturiert wurde. Dieses neue Modell der Leseprozesse zeigt die Einbettung des Lesens in eine übergeordnete Aufgabe, indem es zwei wesentliche Komponenten unterscheidet, nämlich das Aufgabenmanagement und den eigentlichen Leseprozess (siehe Abb. 2). Das Aufgabenmanagement bildet – auch grafisch – den Hintergrund des Leseprozesses und umfasst andere Aktivitäten als der eigentliche Leseprozess. Es macht zugleich deutlich, dass der Leseprozess regelmäßig Teil eines größeren Handlungszusammenhangs ist. Das Aufgabenmanagement verlangt also Prozesse der Zielsetzung, der Selbstregulation und des Monitorings. Der Leseprozess selbst ist eine aktive zielorientierte Handlung und kann in mehrere Teilprozesse unterteilt werden. Aus dieser Rahmenkonzeption von PISA 2018 sowie dem angepassten Test ergeben sich drei Messbereiche der Lesekompetenz, für die Ergebnisse berichtet werden; sie weichen etwas von denen der bisherigen PISA-Studien ab, versuchen jedoch so weit wie möglich eine Kontinuität zu wahren: (1) »Lokalisieren von Informationen«, (2) »Textverstehen« und (3) »Bewerten und Reflektieren« (vgl. PISA 2018, S. 51).
Auch dieses neue Modell basiert auf der kognitionspsychologischen Leseforschung und trägt deren grundlegender Erkenntnis Rechnung, dass jedes Textverstehen auf dem Zusammenspiel von »textexternem Vorwissen« (des Lesers) und »textinternen Informationen« beruht. Als drittes entscheidendes Element für gelingende Leseprozesse werden jedoch nun auch der soziale und kulturelle Kontext des Leseaktes und die sich hieraus ergebende spezifische »Leseaufgabe« im Test selbst modelliert. Denn der Hauptzweck dieses Modells besteht darin, bei der PISA-Zielgruppe der Fünfzehnjährigen – das heißt Schüler*innen am Ende der Pflichtschulzeit – Lesekompetenz zu testen.
[18]1.2