Lesekompetenz fördern. Christine Garbe
ein für Testzwecke entwickeltes Modell von Lesekompetenz nicht unbedingt geeignet ist, um den Erwerb von Lesekompetenz im Prozess des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen wirksam zu unterstützen, haben Leseforscher und Lesedidaktiker in Deutschland vielfach unterstrichen. Die Lesesozialisationsforschung hat darum ein anderes Modell von Lesekompetenz entwickelt, das sich einem ganzheitlichen Ansatz verpflichtet weiß und weitere Dimensionen umfasst. In der kritischen Auseinandersetzung mit der Konzeption von Lesekompetenz in PISA 2000 forderte Bettina Hurrelmann bereits kurz nach Erscheinen der ersten PISA-Studie, einen weiter gefassten Lesebegriff einzuführen, der die Beweggründe für das Lesen, die Gefühle beim Lesen und die Gespräche über Gelesenes selbst als Bestandteile von Lesekompetenz begreift und nicht nur als »Hintergrundvariablen« wie bei PISA (vgl. Hurrelmann 2002). Auch andere Leseforscher und Deutschdidaktiker haben sich in diese Diskussion eingeschaltet, und so entstand im Rahmen einer Forschungsgruppe zum Thema »Lesesozialisation in der Mediengesellschaft« ein alternatives Modell von Lesekompetenz, das das Verstehen von Texten in einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung verortet. Dieses Modell erweitert die kognitiven und reflexiven Aspekte der Lesekompetenz im PISA-Modell um drei weitere wichtige Aspekte, nämlich Motivationen, Emotionen und schließlich alle lesebezogenen Interaktionen, heute meist Anschlusskommunikation genannt (vgl. Hurrelmann 2007).
Abb. 3: Lesekompetenz im Sozialisationskontext (nach Hurrelmann 2002, S. 16)
Leitend ist hier die Idee eines allseits gebildeten »gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts«, dem das Lesen nicht nur zu instrumentellen Zwecken wichtig ist, also im Zusammenhang mit Ausbildung oder Arbeitsplatz oder anderen zweckorientierten Aufgaben, sondern darüber hinaus als Medium der [19]Persönlichkeitsbildung und Weltorientierung. »Es ist leicht zu erkennen, dass in diesem Ideal Annahmen über die Wirkungen speziell des literarischen Lesens eine erhebliche Rolle spielen, die uns aus Literaturtheorie und Literaturdidaktik vertraut sind – während sich das Literacy-Konzept eher auf die Folgefunktionen von Informationslektüre konzentriert.« (Hurrelmann 2007, S. 22 f.)
Über die kognitiven Anforderungen des Textverstehens hinaus betont das Modell der Lesesozialisation die Bedeutung von positiven Emotionen und Motivationen für eine gelingende Leseentwicklung bei Heranwachsenden. Die Lesemotivation ist elementar für die Bereitschaft zu lesen und den Leseprozess entsprechend den jeweiligen Textanforderungen zu gestalten. Dazu gehören auch die Fähigkeit, Lesen für unterschiedliche [20]subjektive Ziele einzusetzen, sowie die Fähigkeit, Lesebedürfnisse und -angebote aufeinander abzustimmen, oder die Entscheidung, einen aktuellen Leseprozess weiterzuführen oder abzubrechen. Die emotionale Dimension beschreibt die Fähigkeit zum Erleben positiver oder negativer Gefühle während der Lektüre sowie die Fähigkeit, mit diesen Gefühlen angemessen umzugehen und die Lesemotivation aufrechtzuerhalten. Es geht hier sowohl um Emotionen, die den Inhalt des Gelesenen betreffen, als auch um Emotionen, die mit der Wahrnehmung des eigenen Lesens und der eigenen Lesekompetenz zu tun haben.
Die Anschlusskommunikation zielt auf die soziale Dimension von Lesekompetenz: Das Aushandeln von Textbedeutungen in sozialer Interaktion ist von den frühen Vorlesedialogen zwischen Eltern und Kind beim gemeinsamen Bilderbuchlesen bis zum Literaturunterricht in der Schule ein zentrales Element der Lesekompetenz (vgl. Garbe 2010a). Einerseits geht es im Gespräch mit Freunden oder Eltern, aber auch im Deutsch- oder Fachunterricht um das Bewusstwerden und Überprüfen der eigenen Bedeutungskonstruktionen und Deutungen eines Textes, andererseits geht es auch um eine kritisch-wertende Auseinandersetzung mit Textinhalten und schließlich um Selbstreflexion durch Rückbezug des Gelesenen auf die eigene Lebenssituation.
1.3 Das didaktische Mehrebenenmodell der Lesekompetenz
Cornelia Rosebrock und Daniel Nix bauen in ihren »Grundlagen der Lesedidaktik« (2008, 8. Aufl. 2017) auf dem sozialisationstheoretisch fundierten Modell auf. Auch sie betonen, dass man für das Messen von Leseverstehensleistungen (bei PISA, IGLU u. a.) ein anderes Modell benötigt als für die Diagnose von Leseschwächen und die Gestaltung von Leselernprozessen [21]im Unterricht. Gerade im Hinblick auf eine Systematisierung der Handlungsdimensionen von Leseförderung wird ein detailliertes Modell benötigt, das eine Zuordnung einzelner Fördermethoden zu den verschiedenen Aspekten von Lesekompetenz erlaubt.
Abb. 4: Mehrebenenmodell des Lesens (nach Rosebrock & Nix 2017, S. 15)
Rosebrock & Nix stellen ein »Mehrebenenmodell des Lesens« vor, das visualisiert ist als kegelförmiger Ausschnitt aus drei konzentrischen Kreisen: Der Innenkreis beschreibt die Prozessebene des Lesens und umfasst vor allem die kognitiven [22]Anforderungen des Leseaktes. Dazu gehören insgesamt fünf Anforderungsdimensionen, die von den hierarchieniedrigen zu den hierarchiehöheren Prozessen voranschreiten: a) Buchstaben-, Wort- und Satzerkennung; b) lokale Kohärenzbildung durch Verknüpfung von Satzfolgen sowie Einbezug von Sprach- und Weltwissen; c) globale Kohärenzherstellung über Thema und Inhalt des gesamten Textes; d) Einordnen eines Textes in »Superstrukturen«, das heißt Textsortenmuster, die zum Verständnis des Textes herangezogen werden, und e) Aufbau eines mentalen Modells und Identifikation von (formalen) Darstellungsstrategien und Erzählkonventionen (vgl. Rosebrock & Nix 2017, S. 17 ff.).
Der mittlere konzentrische Kreis(ausschnitt) beschreibt die Subjektebene, der äußere konzentrische Kreis(ausschnitt) die soziale Ebene (vgl. ebd., S. 20 ff.). Die Subjektebene umfasst vor allem die Dimensionen, die im sozialisationstheoretischen Modell Motivationen, Emotionen und Reflexionen heißen; an die Stelle des Terminus »Emotionen« tritt hier der Terminus »innere Beteiligung«, der eine umfassendere Bedeutung hat. Ferner ist ergänzt die Dimension des subjektiven Weltwissens und das »Selbstkonzept als (Nicht-)Leser/in«, in dem sich alle Aspekte der Subjektebene bündeln. Die aktuellen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen eines Subjekts – zum Beispiel im Hinblick auf das Lesen – sind das Ergebnis einer langen Lerngeschichte, bei der positive wie negative Erfahrungen in einer bestimmten Weise interpretiert (»attribuiert«) wurden. Dieses Selbstkonzept als (Nicht-)Leser/in dürfte einen starken Einfluss auf die je aktuelle Lesemotivation haben; dies haben insbesondere Möller & Schiefele (2004) hervorgehoben (vgl. Kap. 3 in diesem Band).
Die soziale Ebene umfasst verschiedene Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule, Peergroup) sowie im weitesten Sinne das kulturelle Leben und beschreibt die Dimension der [23]Anschlusskommunikation (vgl. ebd., S. 23 ff.). Damit ist gemeint, dass der gesamte Prozess des Erwerbs von Lesekompetenz in Kindheit und Jugend besonders intensiv auf stützende soziale Kontexte angewiesen ist. Von den frühen Vorlesegesprächen im Kleinkindalter bis zum »Literarischen Gespräch« im Deutschunterricht, von der Buchempfehlung im Freundeskreis bis zum Lektürezirkel im akademischen Betrieb gilt: Lesen ist keine »einsame Tätigkeit«; die lebensgeschichtliche Ausbildung einer stabilen Lesepraxis ist auf personale Beziehungen angewiesen.
Im Vergleich mit dem sozialisationstheoretischen Modell von Hurrelmann systematisieren Rosebrock & Nix stärker unter didaktischen Aspekten, an welchen Dimensionen von Lesekompetenz einzelne Maßnahmen der Leseförderung ansetzen. In ihrem Buch »Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung« beschreiben sie sechs Verfahren der Leseförderung im weiterführenden Leseunterricht5, die geeignet sind, jeweils eine oder mehrere Dimensionen der in dem Modell ausdifferenzierten kognitiven, subjektiven und sozialen Aspekte der Lesekompetenz gezielt zu fördern. Für ein systematisches Lesecurriculum in der Schule ist zu beachten, dass diese Verfahren einander ergänzend eingesetzt werden müssen, um alle Aspekte der Lesekompetenz, Lesefreude und Lesemotivation angemessen zu fördern.
[24]1.4 Die drei Säulen der Leseförderung
Nach dem PISA-Schock von 2001 war das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) eine der ersten Lehrer(fort)bildungseinrichtungen der Bundesrepublik, die sich intensiv dem Thema Leseförderung als Bestandteil von Schulentwicklung gewidmet haben. In diesem Zusammenhang wurde das Modell der