Der kleine Mann. Erich Kastner
Erich Kästner
Der kleine Mann
Illustrationen von Horst Lemke
Das erste Kapitel
Meine erste Begegnung mit dem kleinen Mann / Pichelstein und die Pichelsteiner / Mäxchens Eltern wandern aus / Wu Fu und Tschin Tschin / Geburtsort: Stockholm / Vom Eiffelturm geweht / Zwei Chinesenzöpfe werden begraben / Professor Jokus von Pokus hält eine schöne Rede.
Er wurde der kleine Mann genannt und schlief in einer Streichholzschachtel. Eigentlich hieß er ja Mäxchen Pichelsteiner. Doch das wussten die allerwenigsten. Und auch ich wüsste es nicht, wenn er mir’s nicht selber erzählt hätte. Das war, wenn ich mich nicht irre, in London. In Garlands Hotel. Und zwar im Frühstückszimmer mit den vielen bunten Vogelbauern an der Decke. So ein Gezwitscher! Man konnte kaum sein eignes Wort verstehen.
Oder war es in Rom? Im Hotel Ambassadore an der Via Veneto? Oder im Speisesaal des Hotels Excelsior in Amsterdam?
Ich glaube, mein Gedächtnis lässt nach. Schade. Manchmal sieht es in meinem Kopf aus wie in einer unaufgeräumten Spielzeugkommode. Eines steht jedenfalls fest: Mäxchens Eltern und Großeltern und Urgroßeltern und sogar die Urururgroßeltern stammten, alle miteinander, aus dem Böhmerwald, wo er am waldigsten ist. Dort gibt es einen hohen Berg und ein kleines Dorf und beide heißen Pichelstein. Ich habe vorsichtshalber in meinem alten Lexikon nachgeschlagen. Dort steht klar und deutlich:
Pichelstein. Böhmisches Dorf. 412 Einwohner. Winziger Menschenschlag. Größte Körperlänge 51 Zentimeter. Ursachen unbekannt. Berühmt durch Turnverein (T.V.Pichelstein, gegründet 1872) und das sogenannte Pichelsteiner Fleisch (Näheres siehe Band IV unter »Eintopfgerichte«). Alle Einwohner heißen seit Jahrhunderten Pichelsteiner. (Empfehlenswerte Literatur: »Pichelstein und die Pichelsteiner« von Pfarrer Remigius Dallmayr, 1908, im Selbstverlag. Vergriffen.)
Ein seltsames Dorf, werdet ihr sagen. Aber ich kann’s nicht ändern. Was in meinem alten Lexikon steht, stimmt fast immer.
Als Mäxchens Eltern ein Jahr verheiratet waren, beschlossen sie, ihr Glück zu machen. Sie hatten, so klein sie waren, große Rosinen im Kopf. Und weil das Dorf Pichelstein im Böhmerwald für ihre Pläne und Wünsche nicht ausreichte, fuhr das Ehepärchen mit Sack und Pack, nein, mit Säckchen und Päckchen, in die weite Welt hinaus.
Sie wurden, wohin sie auch kamen, gewaltig angestaunt. Die Leute sperrten den Mund auf und brachten ihn kaum wieder zu. Denn Mäxchens Mutter war zwar eine bildhübsche junge Frau und sein Vater hatte einen prächtigen schwarzen Schnurrbart, aber sie waren nicht größer als zwei fünfjährige Kinder. Kein Wunder, dass man sich wunderte!
Was hatten sie vor? Sie wollten, weil sie so vorzüglich turnen konnten, Akrobaten werden. Und tatsächlich, nachdem sie dem Herrn Direktor Brausewetter vom ›Zirkus Stilke‹ am Reck und an den Schweberingen ihre Kunststücke vorgeführt hatten, klatschte er begeistert in die weißen Glacéhandschuhe und rief: »Bravo, ihr Knirpse! Ihr seid engagiert!« Das war in Kopenhagen. Im Tivoli. An einem Vormittag. In einem auf vier riesigen Masten errichteten Zirkuszelt. Und Mäxchen lebte damals noch gar nicht.
Obwohl seine Eltern in Pichelstein Vorturner gewesen waren, mussten sie noch viel lernen und hart trainieren. Erst ein Vierteljahr später wurden sie der chinesischen Akrobatentruppe ›Familie Bambus‹ zugeteilt. Eigentlich war das ja keine richtige Familie. Und richtige Chinesen waren’s schon gar nicht. Die zwölf geflochtenen Zöpfe, die ihnen an den zwölf Hinterköpfen baumelten, waren so echt wie falsches Geld. Doch als Artisten waren sie erstklassig und gehörten zu den geschicktesten Jongleuren und Akrobaten, die jemals in einem Zirkus aufgetreten sind.
Sie jonglierten mit zerbrechlichen Tellern und Tassen auf dünnen, wippenden Stäben aus gelbem Bambus so rasch, dass den Zuschauern Hören und Sehen verging. Die Kleineren kletterten wie die Wiesel an glatten armdicken Bambusstangen empor, die von den größten und kräftigsten Chinesen hochgestemmt wurden, und machten hoch oben Handstand und, bei gedämpftem Trommelwirbel, Kopfstand. Ja, sie drehten sogar, zehn Meter über der Manege, Saltos! Sie überschlugen sich in der Luft, als sei’s ein Kinderspiel, und schon standen sie wieder mit beiden Füßen auf den schwankenden Bambusspitzen und winkten lächelnd ins Publikum hinunter. Die Kapelle spielte einen dreifachen Tusch, und die Leute klatschten, bis sie dicke rote Hände kriegten!
Mäxchens Eltern hießen jetzt, auf den Plakaten und in den Programmheften, Wu Fu und Tschin Tschin und trugen falsche Zöpfe und bunt bestickte Kimonos aus knisternder Seide. Sie reisten mit dem zusammengerollten Zirkuszelt, den Elefanten und Raubtieren, den Feuerschluckern, Clowns und Trapezkünstlern, mit den Araberhengsten, Stallburschen, Dompteuren, Balletteusen, Mechanikern, Musikanten und Herrn Direktor Brausewetter aus einer Großstadt in die andere, hatten Erfolg, verdienten Geld und freuten sich mindestens zwanzigmal am Tag, dass sie nicht mehr in Pichelstein waren.
In Stockholm kam dann Mäxchen zur Welt. Er war so winzig klein, dass ihn die Krankenschwester um ein Haar mit dem Waschwasser in den Ausguss geschüttet hätte. Glücklicherweise brüllte er wie am Spieß und so ging noch einmal alles gut. Der Stationsarzt betrachtete ihn lange durch ein Vergrößerungsglas, lächelte und sagte schließlich: »So ein hübscher und gesunder Junge! Ich gratuliere!«
Als Mäxchen sechs Jahre alt war, verlor er seine Eltern. Das war in Paris und es geschah ganz plötzlich und unerwartet. Die beiden fuhren mit dem Lift auf den Eiffelturm, um die schöne Aussicht zu bewundern. Doch kaum dass sie auf der obersten Plattform standen, erhob sich ein Sturm, der sie in die Luft zerrte und im Nu fortwehte!
Die anderen Besucher konnten sich, da sie größer waren, an den Gittern der Brüstung festklammern.
Aber um Wu Fu und Tschin Tschin war es geschehen. Man sah noch, dass sie sich fest an der Hand hielten. Dann waren sie auch schon am Horizont verschwunden.
Tags darauf schrieben die Zeitungen: ›Zwei kleine Chinesen vom Eiffelturm geweht! Trotz Einsatz von Hubschraubern unauffindbar! Schwerer Verlust für Zirkus Stilke!‹
Am schwersten war der Verlust freilich für Mäxchen, der seine Eltern sehr, sehr lieb gehabt hatte. Er weinte viele winzige Tränen in seine winzigen Taschentücher. Und zwei Wochen später, als man auf dem Friedhof, in einem Elfenbeinkästchen, die zwei schwarzen Chinesenzöpfchen begrub, die ein portugiesischer Dampfer hinter den Kanarischen Inseln aus dem Ozean gefischt hatte, da wäre Mäxchen vor lauter Kummer am liebsten mitgestorben.
Es war ein seltsames Begräbnis. Alle Zirkusleute nahmen daran teil: die Familie Bambus in ihren Kimonos, der Dompteur der Löwen und Tiger mit einem Trauerflor an der Peitsche, der Kunstreiter Galoppinski auf seinem Rapphengst Nero, die Feuerschlucker mit brennenden Fackeln, der Herr Direktor Brausewetter mit Zylinder und schwarzen Glacéhandschuhen, die Clowns mit ernst geschminkten Gesichtern und vor allem, als Redner, der berühmte Zauberkünstler Professor Jokus von Pokus.
Zum Schluss seiner feierlichen Ansprache sagte der Professor: »Die zwei kleinen Kollegen, um die wir trauern, haben uns ihr Mäxchen als Vermächtnis hinterlassen. Kurz vor ihrem verhängnisvollen Ausflug auf den Eiffelturm brachten sie den Jungen in mein Hotelzimmer und baten mich, auf ihn gut aufzupassen, bis sie wiederkämen. Heute wissen wir nun, dass sie nicht wiederkommen können. Deshalb werde ich auf ihn achtgeben müssen, solange ich lebe, und ich will es von Herzen gerne tun. Ist dir das recht, mein Kind?«
Mäxchen, der aus der Brusttasche des Zaubererfracks herausschaute, rief schluchzend: »Jawohl, lieber Jokus! Es ist mir recht!«
Da weinten alle anderen vor