Fettnäpfchenführer Großbritannien. Michael Pohl
Briten, wie sie es womöglich vom Spanien-Urlaub am Pool im Gedächtnis haben, vom Fußballspiel im Ausland, von Erzkonservativen in der jahrelangen Brexit-Debatte. Diese Engländer sind genauso wenig repräsentativ für ihr Land wie es die Deutschen am Ballermann für das ihre sind.
Aber ich schreibe und schreibe, und Sie wollen einfach nur lesen. Also: links einordnen – viel Spaß in Großbritannien!
Michael Pohl
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PETER FLIEGT EIN
STANSTED, 28. JULI, 13.43 UHR
Express nennen sie das. Unfassbar! Seit drei Minuten ist Peter im Stansted Express auf der Suche nach einem freien Sitzplatz – aber vorwärts kommt er kaum. Ständig ruckelt der Zug. Dreimal schon wäre er beinahe bei anderen Fahrgästen auf dem Schoß gelandet. Und das bestenfalls bei Tempo 50. Wie wird das erst, wenn der Zug auf freier Strecke – hoffentlich – Gas gibt?
Bei einer Weiche gleich zu Beginn der Fahrt am Flughafen Stansted hat es den nichts Böses ahnenden Peter mit einem Ruck glatt gegen die Tür gehauen. Schon bei der Fahrt in der Flughafenbahn vom Flugzeug zum Terminalgebäude musste er sich an ein Fenster klammern – die sympathische Automatenstimme hatte ihren Satz »Bitte halten Sie sich gut fest« noch nicht zu Ende gesprochen, da schwenkte der Waggon wie von Geisterhand in eine 45-Grad-Kurve nach rechts ein. Aber dafür musste er auch nicht 17 Pfund bezahlen wie für den Stansted Express. Daheim in Deutschland werden Züge dieser Art bestenfalls noch für den Regionalverkehr entlegener Küstenregionen genutzt, ärgert sich Peter. Hier verbinden sie einen der wichtigsten Flughäfen des Landes mit der Hauptstadt London. Und suggeriert das Wort Express nicht auch ein gewisses Maß an Geschwindigkeit? Am Flughafen hatte man ihm beim Fahrkartenverkauf gesagt, dass der Zug sage und schreibe 46 Minuten bis zur Liverpool-Station im Zentrum Londons benötige. In dieser Zeit bringt ihn ein ICE von Hannover nach Bielefeld, überlegt Peter. Gut, nicht dass er je nach Hannover oder Bielefeld gewollt hätte, aber Express – ha!
Peter ist sauer. Auf die Zugbetreiber, auf den Flughafen, auf Hannelore, eine gute Freundin, die ihm den Tipp gegeben hatte, den Zug zu nehmen. Und irgendwie auch auf sich selbst. »Gatwick oder Stans-ted?«, hatte ihn die reizende Dame im Reisebüro bei der Buchung gefragt. Der Flughafen Gatwick liegt weit von London entfernt, das wusste Peter und hatte sich deswegen sofort für Stansted entschieden. Er konnte doch nicht ahnen, dass sich dieser Flughafen noch weiter draußen befindet.
BAHNHÖFE IN LONDON
Londons Eisenbahnnetz ist – wie in vielen großen europäischen Städten – von Kopfbahnhöfen bestimmt. Und da Großbritannien, ähnlich wie etwa Frankreich, jahrhundertelang sehr zentralistisch ausgerichtet war, spiegelt sich dies auch in den Bahnstrecken wieder: Sie sind von London aus sternförmig in jede Richtung gebaut worden. Das führt bis heute dazu, dass man nicht von jedem Bahnhof in jede Himmelsrichtung reisen kann – wer in London umsteigt, muss deswegen mitunter per U-Bahn den Bahnhof wechseln. Und er muss überhaupt erst einmal den richtigen Abfahrtbahnhof herausfinden. Die wichtigsten Hauptbahnhöfe im Überblick:
King’s Cross: Der vermutlich bekannteste der Londoner Bahnhöfe. Die Pet Shop Boys besangen ihn 1987 in ihrem gleichnamigen Song, Harry Potter reist hier in den Büchern von Joanne K. Rowling von Gleis 9 ¾ mit dem Hogwarts-Express ins Internat (ein Gleis dieser Nummer gibt es in der Realität natürlich nicht, wenn auch ein entsprechendes Schild, das zum absoluten Selfie-Hotspot geworden ist). King’s Cross wurde 1852 in Betrieb genommen und ist Endpunkt der East Coast Main Line, die London unter anderem mit York, Newcastle und Edinburgh im Norden der Insel verbindet. Der Bahnhof befindet sich in der Euston Road.
St. Pancras: Dieser Bahnhof wird gern in einem Atemzug mit King’s Cross genannt, da er sich unmittelbar nebenan befindet. Beeindruckend ist der mächtige Backsteinkopf des von George Gilbert Scott entworfenen und 1868 eröffneten neogotischen Komplexes. Früher beherbergte dieser Teil das Midland Grand Hotel – bis es 1935 schloss. Erst 2011 wurde es wiedereröffnet unter dem Namen St. Pancras Renaissance Hotel. St. Pancras war ursprünglich Endpunkt der Midland Main Line nach Leicester, Nottingham und Sheffield. Heute ist der Bahnhof in der Euston Road vor allem als Startpunkt des Eurostar ein Begriff, der von hier aus unter dem Ärmelkanal hindurch nach Paris, Brüssel und Amsterdam fährt.
Paddington: Nicht nur Miss Marple ist hier in Agatha Christies Roman 16.50 Uhr ab Paddington in Richtung Südwestengland gestartet – der Bahnhof Paddington in der Pread Street ist seit 1838 Endpunkt der Great Western Railway und damit Ausgangspunkt für Reisen nach Cornwall, Bristol und Südwales. Der bekannte britische Ingenieur Isambard Kingdom Brunel hat das erst 1854 eröffnete, heutige Bahnhofsgebäude ebenso entworfen wie die gesamte Strecke der Great Western Railway. Fluggäste schätzen den Bahnhof heute vor allem als Ziel des Heathrow Express, der Schnellverbindung zwischen dem Flughafen Heathrow und der Londoner Innenstadt. Kinder wissen: Hier kam Paddington Bear in London an, Star einer Kinderbuch- und Filmreihe.
Liverpool Street: Londons Bahnhof für den Osten Englands, 1874 in Betrieb genommen durch die Great Eastern Railway. Von hier aus starten Züge unter anderem nach Harwich, Cambridge und zum Flughafen Stansted. Züge nach Liverpool fahren trotz des Namens kurioserweise nicht hier ab, sondern vom Bahnhof Euston. Aber immerhin befindet sich der Bahnhof tatsächlich in der Liverpool Street.
Waterloo: Großbritanniens meist frequentierter Bahnhof. Sein Vorgänger wurde bereits 1848 in Betrieb genommen, das heutige Gebäude stammt in weiten Teilen aus dem Jahr 1922. Von Waterloo aus fahren heute Züge in den Süden und Südwesten Englands, unter anderem nach Portsmouth und Southampton. Anfangs hatte die London and South Western Railway hier ihren Endpunkt, bis Ende 2007 auch der Eurostar. Die Rockband The Kinks verewigte den Bahnhof in ihrem Song Waterloo Sunset. Und Jason Bourne alias Matt Damon wollte sich im Film Bourne Ultimatum mit einem Journalisten des Guardian in der Bahnhofshalle von Waterloo (York Road) treffen.
Victoria Station: Benannt nach der noch heute allerorten viel gewürdigten Königin Victoria ist dieser Bahnhof inzwischen einer der größten der Stadt. Nicht weit entfernt befindet sich auch der zentrale Busbahnhof, von dem aus Linienbusse in alle Himmelsrichtungen fahren. Ein Vorläufer der Victoria Station entstand 1851 zur Weltausstellung. Teile des heutigen Gebäudes sind seit 1860 in Betrieb. Heute fahren von Victoria Station in der Wilton Road aus Züge in den Süden Englands, unter anderem zum Flughafen Gatwick.
Euston Station: Zweifelsfrei einer der unattraktivsten Londoner Bahnhöfe. Sein Vorgänger war 1837 als Endpunkt der West Coast Main Line eröffnet worden. Es handelte sich um ein fürstliches Gebäude aus Stahlelementen und einem mächtigen Torbogen aus Stein. In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts jedoch entschied man sich für einen Neubau – im eher schlichten Baustil der damaligen Zeit. Teile des alten Torbogens wurden später in einem Kanal in East London entdeckt – das Interesse, die alte Bausubstanz zu bewahren, war zu jener Zeit offenbar gering. Ab Euston (Euston Road) fahren Züge heute unter anderem nach Liverpool, Manchester und Wales.
Achter Waggon. Peter traut seinen Augen nicht: endlich ein freier Platz, sogar gleich zwei nebeneinander! Er verstaut seinen Koffer am Eingang in einem Gepäckfach und nimmt Platz. Leicht angeekelt ruckelt sich Peter selbst zurecht auf dem dezent befleckten Sitzbezug. Der Ausdruck »bequem« trifft nicht ganz jenes Gefühl, das er gerade trotz des Zurechtruckelns verspürt, denkt Peter. Er schaut genervt nach rechts an die Wand: »Safety Instruction« ist da auf einem Schild zu lesen, darunter eine Abbildung des Zuges mit deutlich gekennzeichneten Notausgängen – die Sicherheitshinweise. Die Betreiber werden wissen, weshalb sie das aufhängen, murmelt Peter in sich hinein. Die ganze Zugstrecke scheint dringend sanierungsbedürftig zu sein, resigniert er.
Er schnappt sich seine Tageszeitung, die er noch am Flughafen gekauft hatte. Im Flugzeug war er zu müde gewesen, um einen Blick hineinzuwerfen, und hatte sie deswegen gar nicht zur Hand genommen. Und auch jetzt fallen Peter die Augen zu.