Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Arthur Rosenberg

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zu. Aber sein parlamentarischer Einfluß ging zurück. Im preußischen Landtag herrschten die Agrarier. Bei den Reichstagswahlen fielen die großstädtischen und industriellen Bezirke in steigendem Maße den Sozialdemokraten zu. Die liberalen Parteien behaupteten mit Mühe und Not eine Anzahl Mandate, vor allem aus kleinstädtischen Bezirken. Eine Parlamentarisierung Deutschlands hätte in erster Linie den Übergang der Macht von den Agrarkonservativen zu den bürgerlichen Liberalen bringen müssen. Aber die Schwäche der Liberalen im Reichstag, wo sie meistens kaum ein Viertel der Sitze hatten, machte den Gedanken der parlamentarischen Regierung damals noch aussichtsloser, als er schon an sich war.

      Der Einfluß des Bürgertums auf die Reichspolitik vollzog sich infolgedessen gar nicht durch das Parlament, sondern durch persönliche Bearbeitung des Kaisers. Wilhelm II. war persönlich zu den Führern von Industrie und Handel sehr entgegenkommend. Er zog sie an seinen Hof und gab ihnen Adel und Titel. Wenn eine große Firma in geschickter Weise ihre Auslandsinteressen beim Kaiser vertrat, konnte sie alles erreichen. Wilhelm II. war jederzeit bereit, die Autorität des Reichs für das Geschäft einer jeden großen Firma einzusetzen. Das bekannteste Beispiel ist die Beeinflussung der Reichspolitik durch das Bagdadbahn-Geschäft der Deutschen Bank. Wilhelm II. war hier wie auf allen Gebieten völlig planlos. Das Verhängnis für das Reich, das aus solchen Einzelunternehmungen und entsprechenden politischen Aktionen hervorgehen konnte, bedachte er nicht.

      Der persönliche Einfluß, den Männer wie Ballin beim Kaiser hatten, konnte aber die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß das Bürgertum als Klasse in der deutschen Politik keine Macht hatte. Deutschland wurde unter Wilhelm II. konservativ-agrarisch regiert, und das Bürgertum stand daneben. Die nationalliberalen Industriellen bewahrten freilich die aus der Bismarck-Zeit ererbte Loyalität. Um 1890 hatte es so ausgesehen, als beabsichtige der Kaiser einen entschlossenen sozialpolitischen Kurs auch gegen die Industrie. Aber als Wilhelm II. sah, daß er mit seinen Reden und mit kleinen Geschenken die Sozialdemokraten nicht gewinnen konnte, schlug seine Stimmung rasch um. Es wurde unter Wilhelm II. nicht mehr Sozialpolitik getrieben, als die Industrie ertrug. So blieben die Nationalliberalen eine feste Stütze der Regierung im Reichstag. Sie traten für die Flotten- und Kolonialpolitik ein und bildeten zusammen mit Konservativen und Zentrum die Mehrheit für die Schutzzölle. Die Fabrikanten sahen in der starken Regierungsgewalt einen willkommenen Schutz gegen die Arbeiter. Die »freisinnige« Kaufmannschaft hatte keine so scharfe Kampfstellung gegen die Arbeiter, und sie lehnte nach wie vor die Schutzzölle ab. Trotzdem war der Oppositionswille der »Freisinnigen« im Reichstag gering, und wenn die Regierung sich darum bemühte, konnte sie auch die freisinnigen Stimmen haben, zumal nach dem Tode Eugen Richters.

      Trotzdem wäre es verfehlt, die Stimmung des deutschen Bürgertums in der wilhelminischen Zeit nur nach der Haltung der liberalen Parlamentarier zu beurteilen. Zwar war das Bürgertum im ganzen durchaus verfassungstreu, und niemand strebte eine gewaltsame Umwälzung an. Es wirkte sich immer noch aus, wie in der Bismarck-Zeit der politische Machtwille des Bürgertums gebrochen worden war. Aber die Mißstimmung über das herrschende System trat doch bei den verschiedensten Gelegenheiten zutage.

      In den Jahren 1890 bis 95 häuften sich die Huldigungen für Bismarck, und zwar vor allem aus den Kreisen des Bürgertums und der akademisch gebildeten Schichten. Der preußische Adel hielt sich gegenüber Bismarck viel mehr zurück. Die Bismarck-Begeisterung war vielfach nur der Ausbruch der Reichstreue und nationalen Stimmung. Aber dabei war doch ein starker Unterton bürgerlicher Opposition gegen Wilhelm II. Bismarck selbst suchte die Opposition mit allen Mitteln zu schüren und benutzte dazu ihm nahestehende Zeitungen und Journalisten. Wäre das Parlament damals der wirkliche Ausdruck der Stimmung des Bürgertums gewesen, so wäre eine starke Bismarcksche Oppositionspartei im Reichstag eingezogen. Aber davon war keine Spur. Zwar haben die Nationalliberalen eines hannoverschen Kreises den alten Fürsten Bismarck in den Reichstag gewählt. Er nahm das Mandat an, übte es aber nicht aus. Ebenso erhielt Bismarcks Sohn, Fürst Herbert Bismarck, ein Reichstagsmandat3. Eine organisierte Bismarck-Partei entstand nicht.

      Der glänzendste Vertreter der Bismarckschen Gedanken wurde Maximilian Harden, der Herausgeber der »Zukunft«. Er verband die rücksichtslose Kritik an Wilhelm II., seinem Hof und seinen Ratgebern mit dem weltpolitischen Machtwillen des Großbürgertums. So war Harden, ganz im Sinne Bismarcks, zugleich der Todfeind des Kaisers und der Sozialdemokraten. Harden hat sich aus naheliegenden Gründen nicht formell zu einer deutschen Republik bekannt. Aber die ständige ungeheuer erfolgreiche Diskreditierung des Kaisers und seines Freundeskreises mußte allmählich republikanische Stimmungen erzeugen. Man kann sich fragen, wer der Vorläufer der heutigen deutschen Republik in der wilhelminischen Zeit gewesen ist. Den Anspruch darauf hätte in erster Linie Maximilian Harden, in viel geringerem Maße Erzberger, und gar nicht Karl Liebknecht.

      Ein wichtiger Träger der bürgerlichen Opposition unter Wilhelm II. war ferner die großstädtische Kaufmannschaft, vor allem in Berlin. Die Mißstimmung über die »Junker«herrschaft in Staat und Heer traf sich mit dem Ärger und Spott über die kulturelle Rückständigkeit des herrschenden Systems. Wilhelms II. lächerlicher Krieg gegen die moderne Kunst, gegen das naturalistische Drama und gegen die Sezession, trieb das Berliner Bürgertum um so entschiedener zu Hauptmann und Liebermann. Dem modernen Bürgertum war die Berliner „Siegesallee“ genauso unerträglich wie der die Stadt kommandierende Polizeipräsident. Die am Hofe Wilhelms II. herrschende protestantische Orthodoxie machte einige Versuche, um im Bunde mit dem Zentrum den Einfluß der Kirche in der Schule zu stärken und die sogenannte »unzüchtige« Literatur und Kunst zu treffen. Der moderne Flügel des Bürgertums leistete solchen Vorstößen entrüsteten Widerstand und ging dabei, wie im Kampfe gegen die »Lex Heinze«, mit den Sozialdemokraten zusammen.

      Der großstädtische bürgerliche Oppositionsgeist fand seinen besonderen Ausdruck in Organen wie dem »Berliner Tageblatt« und dem »Simplizissimus«. Diese Kreise strebten eine Reform des Deutschen Reiches etwa im Sinne, englischer Verfassungszustände an. Das Bündnis zwischen dem linken Bürgertum und der Sozialdemokratie beschränkte sich nicht auf das kulturelle Gebiet, wo die junge Schriftstellergeneration im Geiste der »Weber« die soziale Frage behandelte, sondern man glaubte auch politisch zur Niederkämpfung des halbabsolutistischen, aristokratischen Systems ein großes Stück Weges mit der Sozialdemokratie zusammengehen zu können.

      Die großstädtische, stark kulturell gefärbte, bürgerliche Opposition kam ebenfalls im Parlament kaum zum Ausdruck. Denn die freisinnigen Reichstagsabgeordneten vertraten meistens mittel- und kleinstädtische Kreise und Stimmungen4. Die freisinnigen Abgeordneten der wilhelminischen Zeit kamen in der Regel aus Niederschlesien, Württemberg, Oldenburg, Danzig, Nordhausen usw., während Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, München fast nur durch Sozialdemokraten vertreten wurden. Trotzdem übte die große linksliberale Presse einen Druck auf die Freisinnige Partei aus, der mindestens Wahlbündnisse zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen erleichterte. Die Freunde einer solchen Linkskoalition sahen ihr Vorbild in Baden, wo die Landtagswahlen ein Zusammengehen der Liberalen aller Richtungen mit den Sozialdemokraten brachten, wodurch Zentrum und Konservative in die Minderheit gedrängt wurden.

      Für sich allein genommen, war die Kraft der linksliberalen Opposition gering, zumal da die Industrie mit der Regierung ging. Die politische Bedeutung der Linksliberalen lag nur in der Möglichkeit des Zusammenwirkens mit der Sozialdemokratie. Wenn das Millionenheer der Sozialdemokraten in einer kritischen Situation auch noch die »öffentliche Meinung« des Bürgertums zur Seite hatte, war die Regierung zwar noch nicht besiegt, aber sie brauchte, um sich halten zu können, das Zentrum.

      Je stärker unter Wilhelm II. die Sozialdemokratie wuchs, um so mehr steigerte sich die Wichtigkeit des Zentrums als des Züngleins an der Waage. Das galt nicht nur für das Stimmenverhältnis im Reichstag, wo bis 1907 eine stabile Regierungsmehrheit ohne das Zentrum nicht möglich war, sondern noch viel mehr von den Kräfteverhältnissen draußen im Lande. Wenn die Millionenmassen des Zentrums und der Sozialdemokratie, gestützt von den Sympathien des oppositionellen Bürgertums, gemeinsam in den Kampf gegen die Regierung traten, entstand eine revolutionäre Situation. Die Bismarckschen Bedenken, die Existenz des Deutschen Reichs auf das Zentrum aufzubauen, bestanden für Wilhelm II. nicht. So wurde das Zentrum ungefähr von 1895 bis 1906 die Hauptstütze der kaiserlichen Regierung5. Die Zentrumsführer standen in diesen


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