Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Arthur Rosenberg
Man erzählte den Abgeordneten auch einiges von der Außenpolitik.
Trotzdem wäre es ganz falsch, in diesem Verhältnis der führenden Reichstagsfraktion zur Regierung einen Schritt zur Parlamentarisierung Deutschlands zu sehen. Erstens durfte der Reichstag niemals an die Kommandogewalt des Kaisers rühren. Zweitens blieb die Außenpolitik Deutschlands, trotz der gelegentlichen Information der Abgeordneten, völlig in der Hand des Kaisers und des Reichskanzlers. Es ist bezeichnend, daß der Reichstag 1914 von den gesamten diplomatischen Verhandlungen zwischen dem Mord in Sarajewo und den Kriegserklärungen keinerlei Kenntnis erhielt6. Selbst die führenden Abgeordneten wußten nicht mehr als das, was in den Zeitungen stand. Unter solchen Verhältnissen war selbst von einer teilweisen Parlamentarisierung Deutschlands keine Rede.
Der Einfluß des Zentrums im Reichstag war viel größer als das Gewicht der Zentrumswähler im Lande. Das Zentrum hatte damals die katholische Minderheit der Landwirtschaft und die christlich organisierte Minderheit der Industriearbeiter hinter sich. Das Bürgertum war nur spärlich im Zentrum vertreten. Die politische Forderung der Parlamentarisierung Deutschlands bedeutete in Wirklichkeit nicht so sehr die Verschiebung der Macht vom Kaiser zum Reichstag, sondern von der preußischen Aristokratie zum deutschen Bürgertum. Wenn aber das Zentrum in den Jahren von 1895 bis 1906 und nachher von 1909 bis 1914 zusammen mit den Konservativen im Reichstag die Regierungsmehrheit bildete, wurde durch diese im Wesen antibürgerliche Kombination die Parlamentarisierung nur gehindert.
Die führende Gruppe des Zentrums unter Wilhelm II. hat eine Parlamentarisierung Deutschlands gar nicht gewollt. Der Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich und der Katholischen Kirche, der unter Bismarck zustande gekommen war, trug jetzt seine Früchte. Der Kreis hoher katholischer Staatsbeamter, der unter Wilhelm II. das Zentrum führte, war gegenüber den bestehenden Zuständen durchaus konservativ gestimmt. Dieselbe Staatsauffassung hatte zum Teil die hohe katholische Geistlichkeit. In Männern wie den Abgeordneten Spahn und von Hertling und Kardinal Kopp traf sich die nationalkonservative Grundüberzeugung mit der Auffassung, daß das bestehende Deutsche Reich die bestmögliche Situation für den deutschen Katholizismus biete. Wie weit war man da von der Stimmung der Zentrumsführung in der Kulturkampfzeit entfernt!
Die konservative Zentrumsgruppe konnte sich unter Wilhelm II. in normalen Zeiten auf die agrarischen Interessen der Zentrumsanhänger stützen. Aber schon der katholische Bauer Süddeutschlands war auch jetzt, bei aller vaterländischen Gesinnung, durchaus nicht an die Existenz des Hohenzollern-Kaisertums gebunden. Dasselbe galt noch stärker von den christlichen Arbeitern. Unter der Regierung Wilhelms II. war die Sozialdemokratie auch in den katholischen Gegenden in siegreichem Vordringen. Vor Kriegsausbruch war in Städten wie München, Köln, Düsseldorf, Mainz bereits die große Mehrheit der Arbeiter sozialdemokratisch. Stärkeren Widerstand gegen die Sozialdemokratie leisteten der christliche Bergarbeiterverband im Ruhrgebiet sowie die christlichen Arbeiterorganisationen im Bezirk von Mönchengladbach. Seitdem das Zentrum die Mitverantwortung für den agrarkonservativen Kurs der Reichspolitik zu tragen hatte, wurde seine Position unter den Arbeitern immer mehr erschüttert. Die oberschlesischen Bergarbeiter liefen in denselben Jahren meistens zur radikal-polnischen Partei über.
Der scharfe Konkurrenzkampf mit den Sozialdemokraten und den freien Gewerkschaften nötigte die christlichen Organisationen, das Trennende gegenüber den Sozialdemokraten stark zu betonen. Aber der gemeinsame Gegensatz zum Unternehmertum und zur preußischen Staatsgewalt führte den sozialdemokratischen und den christlichen Arbeiter wieder zusammen. Charakteristisch ist es, daß der Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, den die Sozialdemokratie führte, bei den christlichen Arbeitern volle Zustimmung fand7. Das Zentrum als Partei war durch das preußische Wahlsystem nicht geschädigt. Mit Hilf e seiner Wähler aus dem ländlichen und städtischen Mittelstand konnte das Zentrum prozentual im preußischen Landtag ebenso stark auftreten wie im Reichstag. Aber die Entrechtung des Arbeiterwählers in der dritten Abteilung empfand der christliche Arbeiter ebenso stark wie der Sozialdemokrat.
Der Oppositionsgeist der christlichen Arbeiter fand seinen Ausdruck in einem linken Flügel der Zentrumspartei, dessen jüngere Führer die Taktik der altkonservativen Parteispitze nicht billigten. Der aktivste und einflußreichste Mann im linken Zentrum wurde Matthias Erzberger. Er hat zwar in entscheidenden Fragen falsch geurteilt und wunderliche Schwankungen in seiner politischen Haltung durchgemacht. Aber Erzberger hatte dabei eine beispiellose Gabe, die Aktualität einer Situation zu empfinden und dann aus der Situation herauszuholen, was nur irgendwie möglich war. Es hätte Erzbergers Art nicht entsprochen, einen konsequenten Kampf auf lange Sicht gegen das preußische System zu führen. Im Gegenteil, er hat manchmal mit dem alten System und gerade mit seinen militärischen leitenden Persönlichkeiten harmonisch zusammengearbeitet. Aber kritische Situationen rissen ihn sofort, daß er dann zu den furchtbarsten Angriffen gegen die herrschende Ordnung befähigt war. Seine ungewöhnliche Aktivität sichert ihm den führenden Platz unter den Männern der deutschen bürgerlichen Revolution. Von dem linken Zentrumsflügel gilt dasselbe wie von der linksbürgerlichen Opposition: An sich bedeutungslos, wurde er ein lebensgefährlicher Feind des alten Systems, sobald er mit der Sozialdemokratie zusammenging.
Die Sozialdemokratie ist unter Wilhelm II. von eineinhalb zu viereinviertel Millionen Wählerstimmen gestiegen8. Zur Zeit des Kriegsausbruchs folgte ein Drittel des deutschen Volkes den Parolen des sozialdemokratischen Parteivorstandes. Seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes hat Wilhelm II. es nicht mehr gewagt, die Sozialdemokratie gewaltsam zu unterdrücken. Zwar haben die Gerichte immer wieder sozialdemokratische Führer und Arbeiter wegen Majestätsbeleidigung, Landfriedensbruchs usw. ins Gefängnis geschickt. Aber im ganzen vollzog sich der Ausbau der sozialdemokratischen Organisation ohne Störung durch die Staatsgewalt. Die sozialdemokratischen Vereine und Zeitungen, dazu das mächtige System der freien Gewerkschaften, umspannten ganz Deutschland. So war der sozialdemokratische Parteivorstand die heimliche Gegenregierung und August Bebel auf der Höhe seines Einflusses eine Art von Gegenkaiser. Auf der anderen Seite hielt sich aber die Sozialdemokratie im Rahmen der Gesetze. Seitdem sie durch Aufhebung des Ausnahmegesetzes die politische Bewegungsfreiheit erlangt hatte, wollte sie erst recht nur durch legale Propaganda ihre Anhängerschaft vermehren.
Das war durchaus kein Verzicht auf Revolution und Machtübernahme. Wenn das deutsche Kaisertum und die preußische Regierung sich nicht mehr stark genug fühlten, um ihren Todfeind niederzuwerfen, wäre es eine Dummheit gewesen, wenn die Sozialdemokraten vorzeitig den Entscheidungskampf heraufbeschworen und damit ein neues deutsches Seitenstück zur Kommune-Niederlage geschaffen hätten. Friedrich Engels, der einzige Staatsmann von Format, den die Sozialdemokratie in den neunziger Jahren besaß, hat die Situation in vollkommener Klarheit erfaßt9. Ein Straßenkampf der Arbeiter gegen die intakte preußische Armee wäre bei der modernen Waffentechnik hoffnungslos. Aber wenn die Sozialdemokratie in dem Tempo der Wahlen von 1887, 1890, 1893 weiter wuchs, drang sie in gleichem Umfang in die Armee ein. Auch bei friedlicher Weiterentwicklung der Partei mußte der Moment kommen, in dem es so viele sozialdemokratische Soldaten gab, daß die Truppe nicht mehr gegen die Arbeiter eingesetzt werden konnte. Kam es aber zum Krieg, dann würde Deutschland in derselben Lage sein wie Frankreich 1793. Dann würden auf den Trümmern des alten Systems die Arbeiter die Macht übernehmen, und dann würde das Arbeiter-Deutschland genauso siegreich den Zarismus und seine Verbündeten zurückwerfen, wie damals Frankreich das verbündete monarchische Europa schlug.
Friedrich Engels kommt an politischem Realismus und rücksichtslosem Machtwillen Bismarck gleich. Aber so wenig wie Wilhelm II. und seine Ratgeber im Geiste Bismarcks regierten, ebensowenig waren die Gedanken von Engels Gemeingut der sozialdemokratischen Arbeiterschaft Deutschlands. Die Arbeiter kamen zur Sozialdemokratie in erster Linie, um ihre gedrückte wirtschaftliche Lage zu bessern. In der Tat gelang es unter Wilhelm II. dem zähen Kampf der Gewerkschaften, die Lebenshaltung des deutschen Proletariats zu heben. Was die Regierung an sozialpolitischen Zugeständnissen machte, wurde auch nur durch den Druck der Sozialdemokratie abgerungen. Die Arbeiter verstanden ferner den Zusammenhang zwischen der Macht der Unternehmer und der militärisch-politischen Staatsgewalt. Sie kämpften gegen den preußischen »Militarismus« und gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht. Aber ein ernster politischer Machtwille war doch in den Massen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft nicht vorhanden. Das Proletariat ist eben geistig von dem Bürgertum