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1915 schwebte Deutschland ununterbrochen in der Gefahr einer vollständigen militärischen Niederlage. Die Hauptmasse der deutschen Streitkräfte war an die Westfront gebunden, ohne dort eine Entscheidung erreicht zu haben. Zur gleichen Zeit setzte das russische Millionenheer seine Offensive fort, um mit seiner Übermacht die österreichischen und die deutschen Osttruppen niederzurennen. Gelang dies den Russen, so war der Krieg für die Entente gewonnen. Die deutsche Kriegführung im Osten unter der Leitung Hindenburgs und Ludendorffs errang eine Reihe bedeutender Erfolge. Die Pläne des Generals Ludendorff, die zur Schlacht bei Tannenberg, zur Schlacht an den Masurischen Seen, zum Vorstoß auf Warschau im Oktober 1914, zu den Schlachten bei Lodz im November und Dezember 1914 und zur »Winterschlacht in Masuren« führten, waren militärische Meisterstücke. Je weniger es gelang, an den anderen Fronten Entscheidendes zu erreichen, um so stärker wuchs das Vertrauen in der Armee und im Volke zur Führung im Osten. Auf dem Schlachtfeld von Tannenberg wurden die Grundlagen zu der Diktatur geschaffen, die dann General Ludendorff von 1916 bis 1918 ausgeübt hat. Ebenso hat der hervorragende österreichische Generalstabschef von Conrad aus den österreichischen Armeen alles Menschenmögliche herausgeholt.
Trotzdem war keine Erleichterung geschaffen, weil die Kraft der russischen Offensive durch die örtlichen Niederlagen nicht zu brechen war. Noch im April 1915 bestand ernsthaft die Möglichkeit, daß die Russen über die Karpaten gegen Wien und Budapest vordrangen, Österreich niederwarfen und dann auch Deutschland den Todesstoß versetzten. Der ganze Ostkrieg seit Oktober 1914 war völlig planwidrig: Die Pläne des deutschen Generalstabs beruhten darauf, daß sechs bis acht Wochen nach Kriegsbeginn die deutsche Hauptarmee in Frankreich frei werden und gegen Rußland antreten würde. Davon war gar keine Rede mehr. Das deutsche Heer führte bis April 1915 einen Zweifrontenkrieg gegen große Übermacht, wobei eigentlich täglich eine Katastrophe möglich war. In der Heimat wußte man aber von der wirklichen Kriegslage so wenig, daß in denselben Monaten das deutsche Volk den Streit begann, wie viel oder wie wenig man beim Frieden annektieren solle.
Erst der Mai 1915 brachte eine Entlastung. Die deutsche Oberste Heeresleitung riskierte es, im Westen eine Anzahl Armeekorps fortzuziehen, um gegen die Russen eine Entscheidung zu suchen. In der Schützengrabenfront von Flandern bis zum Elsaß hielt das verkleinerte deutsche Westheer das ganze Jahr 1915 hindurch den Angriffen der Franzosen und Engländer stand und bot so die Grundlage für die Operationen im Osten. General von Conrad hatte den Plan, die russische Front im Gebiet von Krakau zu durchbrechen, so in den Rücken der großen russischen Karpatenarmee zu kommen und sie zum Rückzug zu zwingen. Falkenhayn nahm den Plan Conrads an und stellte zu seiner Durchführung mehrere deutsche Armeekorps zur Verfügung. Die Schlacht bei Gorlice im Mai 1915 hatte den Zusammenbruch der russischen Karpatenfront zur Folge und leitete die lange Reihe von Kämpfen ein, bei denen im Sommer 1915 die Russen aus Polen und Galizien vertrieben wurden. Die Kraft der russischen Offensive war für dieses Jahr gebrochen. Die Russen hatten ungeheure Verluste erlitten. Aber das russische Heer blieb kampffähig. Eine Entscheidung hatte die deutsche Armee im Osten nicht erkämpft.
General Ludendorff erkannte die Mängel der Falkenhaynschen Führung. Er schlug eine Operation vor, die eine Art von Übertragung des Schlieffenschen Plans nach dem Osten bedeutete, nämlich eine großzügige Umfassung des russischen Heeres von Norden her, über Kurland und Wilna, um so eine Vernichtungsschlacht zu liefern. Falkenhayn verweigerte dem Plan Ludendorffs seine Zustimmung. So blieben die ganzen Anstrengungen des deutschen Heeres im Jahre 1915 umsonst. Deutschland hatte Schlachten gewonnen und Land erobert, war aber der Entscheidung um keinen Schritt näher gerückt. Im Jahre 1916 war ein neues russisches Millionenheer zur Offensive bereit. Die Franzosen waren nicht besiegt. Inzwischen ging England zur allgemeinen Wehrpflicht über und stellte ebenfalls ein Millionenheer an der Westfront auf. So war die militärische Lage für Deutschland im Jahre 1916 noch schlechter als 1915. Deutschland sollte im wesentlichen aus eigener Kraft gegen drei feindliche Millionenheere kämpfen.
Niemals hatte der Berliner Generalstab vor 1914 eine solche verzweifelte Lage in seinen Plänen für möglich gehalten. Eigentlich war jeder Monat, in dem die deutschen Fronten weiter standen, militärisch ein Wunder. Aber in der Heimat ging der Streit um die Annexionen weiter. 1915 hatte sich Italien der Entente angeschlossen und band damit einen großen Teil des österreichischen Heeres. Die Mittelmächte waren durch Bulgarien und die Türkei verstärkt, die dafür eine Anzahl englischer und französischer Truppenteile auf sich zogen. Eine deutschösterreichischbulgarische Expedition besetzte Serbien, und nach dem Fall von Antwerpen war fast ganz Belgien in deutscher Hand. An den Grundfragen des Krieges änderte all dies nichts. Für das Frühjahr 1916 plante Falkenhayn überhaupt keine kriegsentscheidende Operation, obwohl bei der verzweifelten militärischen Lage Deutschlands mindestens der Versuch dazu, sei es im Osten oder in Italien, hätte gemacht werden müssen. Denn die Zeit arbeitete für die Entente und gegen Deutschland. Statt dessen begann Falkenhayn den Angriff auf Verdun, ohne operativen Plan, in der Einbildung, er könne damit das französische Heer zermürben. In Wirklichkeit haben die grauenhaften Kämpfe vor Verdun das deutsche Heer zumindest ebenso zerrüttet wie das französische.
Zur See stand von Anfang an die Überlegenheit der Entente ganz fest. Denn die Schlachtflotte der Entente war dreimal so stark wie die deutsche, und die Seeherrschaft hängt von den Großkampfschiffen ab und nicht von den U-Booten. Die englische Panzerflotte brauchte gar keine Schlacht zu liefern, durch ihre bloße Existenz sicherte sie der Entente die Herrschaft über die Meere und blockierte Deutschland mit den furchtbarsten Folgen für die deutsche Volkswirtschaft. Die Versuche, durch den U-Boot-Krieg die feindliche Schiffahrt zu schädigen, führten sofort zu ernsten Konflikten zwischen Deutschland und den Neutralen, besonders den Vereinigten Staaten. So war die Frage des U-Boot-Krieges von Anfang an viel mehr ein politisches als ein militärisches Problem.
Je länger der Krieg dauerte, um so deutlicher zeigten sich im Innern Deutschlands wieder die politischen und die Klassengegensätze. Das politische Hauptresultat des 4. August war ein äußerlicher Friedensschluß zwischen dem Hohenzollern-Kaisertum und der in Deutschland regierenden militärischen Aristokratie auf der einen Seite und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auf der anderen Seite gewesen. Was der Friedensschluß praktisch bedeuten würde, darüber waren sich beide Teile noch völlig im unklaren. Einen festen Plan, wie man organisch die Arbeiter und selbstverständlich auch das Bürgertum in den Rahmen der Bismarckschen Verfassung einfügen sollte, hatte damals niemand. Bethmann-Hollweg versprach, im besonderen Hinblick auf die Sozialdemokratie, eine »Neuorientierung« Deutschlands nach dem Kriege. Aber darunter konnte sich jeder denken, was er wollte.
So viel war der regierenden preußischen Schicht klar, daß die Arbeiterschaft nach dem Kriege, vielleicht schon im Kriege, verstärkte politische Forderungen stellen würde3. Wenn die Millionen proletarischer Kriegsteilnehmer aus den Schützengräben zurückkehrten, dann ließen sie sich nicht mehr mit den alten Polizeimethoden einschüchtern. Das war sicher, ganz gleich wie der Krieg ausging. Noch im Jahre 1914 tauchte die preußische Wahlrechtsfrage wieder auf. Aber der konservative preußische Grundbesitz war auch jetzt nicht bereit, etwas von seinen Privilegien zu opfern. In der preußischen Wahlrechtsfrage wurden allerlei Akten geschrieben, Projekte entworfen und Sitzungen abgehalten4. Die alte Mehrheit des preußischen Landtags hatte kein Interesse daran, sich selbst zum eigenen Schaden zu »reformieren«, und die regierende Bürokratie hatte erst recht keine Eile. So kam die Wahlreform erst im Jahre 1917 stärker in Fluß. Auf jeden Fall fühlte sich der preußische Adel durch eine neue Zeit, deren Entwicklungsmöglichkeiten er nicht übersah, bedroht, und er sann auf Abwehr. Dabei traf er sich mit den Bestrebungen der Industrie.
Auch die Industriellen rechneten unter der Neuorientierung zumindest mit einer Stärkung der Gewerkschaften und mit einer Erschwerung ihrer eigenen Position in den Wirtschaftskämpfen der Zukunft. Wenn das alte Preußen ins Wanken geriet, so war die starke Staatsgewalt gefährdet, die bisher dem Unternehmer Beistand gegen die Arbeiter geleistet hatte. So bekämpfte die preußische nationalliberale Landtagsfraktion, in der die Einflüsse der rheinisch-westfälischen Industrie überwogen, die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen. In den Jahren vor Kriegsausbruch hatten sich die industriellen Kreise immer mehr von der agrar-konservativen Politik getrennt. Beim Sturze Bülows, bei den Reichstagswahlen 1912 und in der Zabern-Angelegenheit standen die Nationalliberalen gegen die Konservativen. Seit Kriegsbeginn setzte eine rückläufige