Die Alpen. Werner Bätzing
als Wachstumszentren
Die Alpen – das „Wasserschloss“ Europas
Naturschutz als neue Realität in den Alpen
AKTUELLE SITUATION UND ZUKUNFT DER ALPEN
Rückzug der Menschen aus den peripheren Lagen
Verwilderung der Landschaft und Klimawandel
Verstädterung und Zersiedlung der Tallagen
Bilanz: Die Alpen verschwinden
Literatur und Informative Internet-Seiten
Bildnachweise und Über den Autor
4 In den Alpen verzahnen sich Natur- und Kulturlandschaften kleinräumig ineinander wie hier im Rheinwald, dem obersten Talabschnitt des Hinterrheins. Unten die „alte Landbrugg“ aus dem Jahr 1693 in 1600 m Höhe, die dem Saumverkehr über den San-Bernardino-Pass diente, oben der Piz Uccello, 2724 m (September 2003).
Vorwort
Da es bereits viele Alpenbildbände gibt, ist es sinnvoll zu begründen, warum dieser Alpenbildband etwas völlig Neues darstellt.
Die meisten der bisherigen Alpenbildbände enthalten Fotos von grünen Wiesen, alten Bauernhäusern und steilen Gipfeln bei strahlendem Sonnenschein, zeigen die Alpen also als ländliche Idylle, oder sie bringen spektakuläre Stimmungsfotos mit einem dramatischen Zusammenspiel aus Wolken, Sonne, Wiesen und Felsen.
Seit knapp zehn Jahren gibt es einen neuen Typ Alpenbildband: Die Bilder werden bei schlechtem Wetter gemacht, es dominieren gedeckte Farben und Grautöne, die Motive stammen aus dem obersten Höhenstockwerk der Alpen, wo es keine Menschen mehr gibt, oder der Mensch und seine Bauwerke werden so fotografiert, als wären sie Naturphänomene.
Beide Typen von Alpenbildbänden bedienen Sehnsuchtsvorstellungen von Städtern, die in den Alpen nach einer nicht-städtischen Gegenwelt suchen: Das ältere Sehnsuchtsbild ist die ländliche Idylle, also die Harmonie zwischen Natur und Mensch, und dieses wird seit kurzem vom neuen Sehnsuchtsbild der Wildnis – die Natur ohne den Menschen – abgelöst.
Diese modische Ausrichtung ist deswegen bedauerlich, weil dadurch das Spannendste der Alpen gar nicht vorkommt: Hier zeigt sich nämlich das Mensch-Umwelt-Verhältnis in seiner gesamten Bandbreite von Nicht-Eingriffen und Veränderungen über Aufwertungen bis hin zu Zerstörungen so anschaulich wie nirgendwo sonst in Europa. Und hier kann man ganz konkret und sehr eindrücklich erleben, wie Menschen früher und heute mit Natur umgehen, welche Konsequenzen bestimmte Naturveränderungen durch den Menschen haben oder wie sich das Erleben von Natur ändert.
All das kann man in den Alpen überall sehen, wenn man sehen gelernt hat. Deshalb besteht das Ziel dieses Bildbandes darin, seine Betrachter auf eine unterhaltsame Weise in das „Lesen“ von Alpenlandschaften einzuführen – die Faszination der Alpen erhöht sich dadurch ungemein.
Die meisten Fotos in diesem Band stammen von mir, und ich habe sie in den letzten vierzig Jahren gemacht, in denen ich mich intensiv mit den Alpen auseinander gesetzt habe. Darüber hinaus haben mir Jörg Bodenbender (Grafenaschau/D) Luftbilder, Lois Hechenblaikner (Reith im Alpbachtal/A) Bilder vom Wintermassentourismus und Erika bzw. Irmtraud Hubatschek (Innsbruck/A) historische Bilder bergbäuerlicher Arbeiten zur Verfügung gestellt, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Weiterhin möchte ich mich bei Gion Caminada (Vrin/CH), Josef Essl (Innsbruck/A), Gerhard Fitzthum (Lollar/D), Urs Frey (Soglio/CH), Marco Giacometti (Stampa/CH), Fritz Grimm (Bremen/D), Sylvia Hamberger (München/D), Beat Hug (Spiez/CH), Michael Kleider (Leinburg/D), Willi Pechtl (Tarrenz/A), Lukas Stöckli (Stans/CH) und Matthias Wenzel (München/D) für die Überlassung von Fotos bedanken.
Dieser Band ist erstmals im Jahr 2005 erschienen. Für diese erweiterte Neuausgabe habe ich den gesamten Text neu geschrieben, mehr als drei Viertel der Bilder ausgetauscht oder aktualisiert und besonders in Kapitel 5 bei der Darstellung der aktuellen Situation der Alpen – die sich seit 2005 spürbar verändert hat – relevante Veränderungen vorgenommen.
Ich wünsche mir, dass dieser Bildband nicht nur gefällt, sondern das Alpenerlebnis vieler Menschen vertieft und bereichert.
Bamberg, im Januar 2018
Werner Bätzing
5 Das Varaita-Tal in den Cottischen Alpen gehört zu den Entsiedlungsregionen der Alpen. Die Gemeinde Pontechianale zählte 1871 1542 Menschen, heute sind es nur noch 169. Die Erträge der Wasserwirtschaft – vorn der Stausee Lago di Castello, 1575 m – bleiben nicht im Tal, sondern fließen nach Rom; links oben der Monte Viso, 3841 m, der höchste Berg der Cottischen Alpen (August 2016).
Einleitung
Üblicherweise geht man bei einem solchen Bildband davon aus, dass seine Bilder auf manche Menschen schön, auf andere dagegen hässlich oder nichtssagend wirken, und dass man über die Schönheit von Bildern und Landschaften – genauso wie über Geschmack – nicht diskutieren oder streiten könne, weil dies rein subjektive Empfindungen seien. Damit folgt man unbewusst derjenigen Konzeption von Ästhetik, wie sie der Philosoph Immanuel Kant entworfen hatte.
Mit einer solchen Ästhetik sieht man allerdings in den Alpen nichts Relevantes, und man kann ihre Landschaften nicht in Hinblick auf das Mensch-Umwelt-Verhältnis lesen, was sich in ihnen ausdrückt. Deshalb gehen dieser Band und die in ihm abgedruckten Bilder von der Ästhetik-Konzeption des Philosophen G. W. F. Hegel aus, für den Ästhetik den unmittelbaren, sinnlich-emotionalen Ausdruck vom „Wesen“ einer Sache oder eines Objekts bedeutet.
Das Wesen oder die wesentlichen Elemente einer Alpenlandschaft sind geologische Strukturen, eiszeitliche Formungen, Vegetations-, Siedlungs-, Wirtschafts- und Verkehrsstrukturen in ihrem wechselseitigen Zusammenwirken. Ästhetik bedeutet nach Hegel, diese Strukturen und ihr Zusammenspiel so darzustellen und ins Bild zu setzen, dass sie der Betrachter spontan wahrnimmt und erkennt, also ohne lange Erklärungen unmittelbar ein intuitives Verständnis davon bekommt.
Dies ist jedoch keineswegs identisch mit der Dokumentation des Ist-Zustands einer Alpenlandschaft, sondern erfordert eine bewusste Bildkomposition, einen angemessenen Bildausschnitt, eine spezifische Perspektive und ganz bestimmte Lichtverhältnisse, damit die wesentlichen Elemente und Strukturen überhaupt herausgearbeitet und sichtbar gemacht werden können.
Die Bilder, die auf diese Weise entstehen, unterscheiden sich deutlich von den Bildern, mit denen wir permanent im Alltag konfrontiert werden. Ihnen fehlt das Überraschungs- oder Überrumpelungselement (der „Wow-Effekt“), mit dem die Werbefotografie versucht, unsere Aufmerksamkeit für wenige Sekunden auf sich zu lenken. Stattdessen wirken diese Bilder auf den ersten Blick wenig