Der König und sein Spiel. Dietrich Schulze-Marmeling
als Ajax mit Johan Cruyff zu einem der besten und denkwürdigsten Teams der Weltfußballgeschichte avancierte.
Das Thema wird auch im Klubmuseum „Ajax Experience“ am Amsterdamer Rembrandtplein angesprochen. Unter der Überschrift „Wie Zijn We? Ajax, Jodenclub?“ heißt es, Ajax würde „fälschlich“ als solcher bezeichnet. Zu keinem Zeitpunkt habe Ajax mehr jüdische Spieler in seinen Reihen gehabt als andere Amsterdamer Klubs. Was niemand je behauptet hat und was deshalb das Thema ein wenig verfehlt.
1964 wurde der Amsterdamer Jude Jaap van Praag Präsident von Ajax. Auch sein Vater Mozes war ein Ajaciede gewesen. Mozes van Praag hatte zunächst in der Diamantenindustrie gearbeitet, einem traditionell von Juden dominierten Gewerbe. Später eröffnete er ein Klaviergeschäft. Die van Praags lebten im „jüdischen“ Osten Amsterdams, in der Pretoriusstraat. Seit 1912 war Mozes van Praag ein Gönner des Klubs. Und natürlich pilgerte er mit seinem Sohn Jaap zu jedem Spiel von Ajax im nur 1,5 Kilometer von seinem Wohnhaus entfernten De Meer.
Der spätere Ajax-Präsident begann seine berufliche Karriere im Musikgeschäft seines Vaters. Früh erkannte er die Zukunft von Vinylscheiben und eröffnete am Spui, einem heute von vielen Buchläden umgebenen Platz im Zentrum von Amsterdam, den ersten Schallplattenladen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Jaap van Praag Besitzer einer Reihe von Elektro- und Schallplattenläden und ein wohlhabender Mann. Krieg und Besatzung hatte er unter dem Decknamen Jaap van Rijn in einem Haus in Overtoom, das er kaum verlassen konnte, überlebt. Seine Eltern und seine kleinere Schwester wurden von den Nazis ermordet. Im November 1945 bedankte sich Jaap van Praag in einer Veröffentlichung des Ajax-Vorstands bei „allen Ajax-Freunden, die mir, nach meiner langen Zeit des Verstecktseins, mit so viel Freundlichkeit begegnet sind“.
Van Praag war der Kopf eines Netzwerks von Holocaust-Überlebenden, die am Aufstieg von Ajax zu einer europäischen Topadresse entscheidend mitwirkten. Simon Kuper: „Das große Ajax-Team der 1970er wurde in gewisser Weise in Teilen vom Holocaust geformt.“ Eine Reihe von Gönnern in den goldenen Jahren waren Juden, so der Immobilien-Tycoon Maup Caransa (zuweilen bezeichnete die Presse Ajax als „Caransajax“), dessen Hauptrivale auf dem Immobilienmarkt, Jaap Kronenberg, außerdem der Textilhändler Leo Horn, ein ehemaliger Weltklasseschiedsrichter, in dessen 31 Geschäften zeitweise auch die Ajax-Spieler Piet Keizer und Ruud Krol arbeiteten. Auch Rob Cohen zählte dazu, Besitzer einer Kette von Fleischerläden und des berühmten jüdischen (aber nicht koscheren) Sandwich-Shops „De Kuil“, in den er das Ajax-Team nach Titelgewinnen zum Dinner einlud. Rob Cohens gleichnamiger Sohn ist Schwiegervater und Manager des Nationalspielers und heutigen Ajax-Trainers Ronald de Boer.
Simon Kuper bemüht zur Charakterisierung der jüdischen Geschäftsleute, die zum Aufstieg von Ajax beitrugen, eine Figur aus Leon de Winters 1996 erschienenem Roman „SuperTex“. Der jüdische Textil-Tycoon Simon Breslauer ist der einzige Holocaust-Überlebende seiner Familie. Nach dem Krieg stürzt er sich in den Aufbau eines florierenden Textilunternehmens mit dem Namen SuperTex, das billige Massenware produziert. Leute wie Breslauer wollen nicht darüber nachdenken, geschweige denn darüber sprechen, was ihnen und ihrer Familie zugestoßen ist. Gleichzeitig ist es ihnen unmöglich, das Geschehene zu bewältigen. Sie gründen Unternehmen, um nie wieder in die Abhängigkeit eines Mitmenschen zu geraten und Demütigungen zu erfahren. Sie häufen ein Vermögen an, damit ihre Kinder für den „worst case“, die Rückkehr der Nazis, gewappnet sind. Am Ende landet die Romanfigur Simon Breslauer mit seinem Mercedes 560 SEL nahe der Stadt Loodsrecht in einem Graben und ertrinkt. Im richtigen Leben war es Jaap van Praag, der 1987 seinen Wagen in der Nähe von Badhoevedorp in einen Graben fuhr und an den Folgen des Unfalls starb.
Auf dem Feld wurde die jüdische Community in der bis 1974 währenden Ära van Praag nur durch zwei Spieler repräsentiert: Sjaak Swart, von dem später noch die Rede sein wird, und Bennie Muller. Für viele Ajax-Fans waren Swart und Muller aber vor allem typische „Amsterdamer Jungs“, mehr als alle anderen Spieler.
Der emsige Mittelfeldspieler Muller (Jg. 1938) bestritt von 1957 bis 1970 für Ajax 341 Erstligaspiele (30 Tore). Beim ersten Europapokalfinale der Amsterdamer 1969 war der 43-fache Nationalspieler noch dabei, nicht aber beim folgenden Triumphzug der Jahre 1971 bis 1973. Den Aufstieg der niederländischen Nationalelf verpasste Muller total. In seinen 43 Länderspielen verließ Muller nur zwölfmal als Sieger den Platz. Nach dem Ende seiner Karriere eröffnete er im Jordaan-Viertel einen Tabakladen.
Mullers Sohn Danny ging 1988 knapp 19-jährig mit dem Trainer Johan Cruyff zum FC Barcelona, wo er ein Jahr im B-Team verbrachte. Anschließend spielte er u. a. für die Eredivisie-Klubs AZ Alkmaar und RKC Waalwijk. Danny Muller galt als sehr großes Talent, wurde aber von chronischen Achillessehnenproblemen geplagt.
Prosemitismus kontra Antisemitismus
Laut „Ajax Experience“ hat die Stigmatisierung von Ajax als „jodenclub“ mit einem Zwischenfall begonnen, an dem Bennie Muller unfreiwillig beteiligt war. Am 17. Januar 1965, einem Sonntag, wurde im Amsterdamer Olympiastadion das Lokalderby zwischen Ajax und DWS angepfiffen. Dabei soll DWS-Keeper Jan Jongbloed, der 1974 mit den Niederlanden Vize-Weltmeister wurde, den jüdischen Ajacieden Bennie Muller als „vuile rot-jood“ („dreckiger verrotteter Jude“) beschimpft haben. Der Vorfall schlug hohe Wellen. Jongbloed wurde für einige Spiele gesperrt, wodurch DWS möglicherweise die Meisterschaft verpasste. Denn Jongbloed-Ersatz Leo Heeres griff einige Male daneben.
Ende der 1970er, so das Ajax-Museum, hätten die antisemitischen Schmähungen gegen Ajax zugenommen. Als Reaktion darauf hätte sich unter den Ajax-Fans ein Prosemitismus entwickelt, dessen Träger aber in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit Nicht-Juden waren und sind. Neben dem Text steht ein Foto, dass die berühmt-berüchtigte F-Side, eine militante Gruppe von Ajax-Fans, bei einem Derby gegen Feyenoord Rotterdam mit einer riesigen israelischen Fahne zeigt. (Als der Autor im Februar 2012 das Europa-League-Spiel zwischen Ajax und Manchester United besuchte, wehte an den zahlreichen Ständen mit Fanartikeln auch die Fahne Israels. Zudem gab es Ajax-Schals zu kaufen, die neben dem Klubsymbol auch ein Davidstern schmückte.)
Das jüdische Image des Vereins hat möglicherweise auch damit zu tun, dass Jaap van Praag nicht Ajax’ einziger Präsident jüdischer Herkunft blieb. Von 1989 bis 2003 saß dem Klub sein Sohn Michael van Praag vor. Somit wurde Ajax ca. 28 Jahre von van Praags geführt, und sämtliche bedeutenden internationalen Trophäen – viermal der Europapokal der Landesmeister bzw. die Champions League, zweimal der Weltpokal – wurden in ihren Amtszeiten errungen.
Ein weiterer jüdischer Ajax-Präsident folgte 2008 mit Uri Coronel. Von 1989 bis 1998 war er beim Klub für wirtschaftliche Angelegenheiten zuständig gewesen. Auch Uri Coronel stammt aus einer typischen Ajax-Familie, bereits sein Vater war Mitglied des Klubs. Seit seinem fünften Lebensjahr wurde Uri Coronel mit seinem Bruder vom Vater zu den Spielen des Klubs mitgenommen: „Wir atmeten Ajax in unserer Familie. Heute umfasst unsere große Familie rund 60 Mitglieder, und wir alle, egal ob orthodox oder liberal, Männer, Frauen und Kinder, sehen uns sämtliche Spiele von Ajax an.“
Ein Jude an der Spitze von Ajax ist in Amsterdam so selbstverständlich und normal wie ein Jude als Bürgermeister. Von 1977 bis 2010 wurde Amsterdam die meiste Zeit von jüdischen Bürgermeistern regiert (Wim Polak: 1977-83, Ed van Thijn: 1983-94, Job Cohen: 2001-2010, Lodewijk Asscher). Der prominenteste von ihnen war der Sozialdemokrat Ed van Thijn, der die Verfolgung durch die Nazis in 18 verschiedenen Verstecken überlebte. Über Ajax blieb van Thijn mit seinem Vater in Verbindung. Van Thijn senior ging bei Ajax ein und aus und war mit vielen Spielern persönlich bekannt.
Ajax ist kein jüdischer Klub, aber Ajax ist unverändert das Thema, das Amsterdams Juden miteinander verbindet. Auch Uri Coronel will nicht bestreiten, dass Ajax „zweifellos eine große Rolle im Leben der Juden von Amsterdam spielt“. Der Businessclub von Ajax setze sich zu zehn Prozent aus Juden zusammen, „was überdurchschnittlich viel ist angesichts des Anteils von Juden in der holländischen Bevölkerung“. Von den 600 Ajax-Mitgliedern (Mitglied wird man nur auf Einladung) seien 30 Juden, also fünf Prozent. „An diesem Verein gibt es absolut nichts Jüdisches, abgesehen vielleicht von der Tatsache, dass sich bei einem Match ein Häuflein von 750 Juden wacker in der Masse von 45.000 bis 50.000 Zuschauern behauptet. (…)