Der König und sein Spiel. Dietrich Schulze-Marmeling
hatte Favre den Gladbachern die Klasse erhalten – auf dem unkonventionellen Weg: Er verbesserte die Spielkultur des Teams. Anschließend absolvierte die Mannschaft ihre beste Hinrunde seit 15 Jahren. Nach einem souveränen 3:0-Sieg im rheinischen Derby beim 1. FC Köln taufte der englische „Guardian“ Favres Team „Borussia Barcelona“. Aber nicht der Blick auf die Bundesligatabelle, wo die Gladbacher nur drei Punkte hinter dem Spitzenreiter rangieren, führt mich zum Mönchengladbacher Borussia Park, sondern die Tatsache, dass Favre in seinen Interviews häufig auf Johan Cruyff zu sprechen kommt.
Die Schweizer Fußballannalen führen den 24-fachen Nationalspieler Lucien Favre als brillanten Techniker und intelligenten Spielmacher. Für die Medien war er der „Platini der Westschweiz“. Und wie Johan Cruyff hatte sich auch der schmalschultrige Favre mit überharten Gegenspielern zu plagen, die sein Spiel zerstören wollten. Seine Trainerkarriere begann er 1991 als Assistenztrainer bei den C-Junioren des FC Echellens. Der Ex-Profi wollte einen Fußballverein von der Basis aus kennenlernen.
Favre beschritt damit den „niederländischen Weg“. Anfang 2012 erklärt Jos Luhukay, der niederländische Trainer des Bundesligisten FC Augsburg, auf die Frage, warum niederländische Trainer so gefragt sind: „Ein Grund ist sicherlich, dass sich viele der sogenannten großen Trainer bereits sehr früh für ihren späteren Beruf interessiert haben. Sie fingen zunächst bei kleinen Vereinen an, waren im Jugendbereich tätig, lernten von der Pike auf. Sie haben dort die notwendigen Erfahrungen gesammelt. Und sich erst später für den nächsten Schritt entschlossen. Der führt dann in den Profifußball. Das ist, so glaube ich, sehr wichtig. Denn der Trainerberuf erfasst doch ein großes Spektrum.“
„Cruyff – das ist interessant, das macht Spaß“, eröffnet Lucien Favre das Gespräch. Spaß macht es aber vor allem, Favre zuzuhören. Der Mann lebt und denkt Fußball.
Ins Zentrum seiner Aussagen rutscht immer wieder der Begriff „Spielintelligenz“, wobei einem das berühmte Cruyff-Zitat „Fußball ist ein Spiel für den Kopf“ in den Sinn kommt. Spielintelligenz sei das erste Kriterium beim Cruyff-Kind FC Barcelona. „Ohne Spielintelligenz hast du keine Chance in Barcelona. Und natürlich Technik – aber Technik in und aus der Bewegung.“ „In und aus der Bewegung“, auch das kommt in Favres Ausführungen immer wieder vor und erinnert an Cruyff. Wer die Dinge „in und aus der Bewegung“ macht, der macht das Spiel mit dem Ball schneller, ohne deshalb mehr laufen zu müssen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die aber im Kindertraining häufig nicht beachtet wird. Da passt man sich den Ball gegenseitig zu, und der Beobachter hat den Eindruck, man habe die Beine der kleinen Kicker im Rasen eingepflockt.
Intelligenz und Bewegungsfähigkeit ermöglichen es, „den richtigen Moment zu finden, um zu beschleunigen. Du musst den Ball zirkulieren lassen und plötzlich nach vorne spielen, um deinen Gegner zu überraschen.“ Die Schnelligkeit sei „sehr, sehr wichtig. Aber Schnelligkeit meint für mich nicht nur laufen. Das ist auch eine Frage der Ballannahme, die mit der richtigen Bewegung erfolgen muss – die richtige Bewegung ist sehr wichtig.“
Barcelona, das ist Favres Idealbild vom Fußball. „Sie verkörpern eine Philosophie. Bei Barça hat sie Johan Cruyff installiert. Ballzirkulation, ein Wechselspiel von Tempo und Ruhe. Beschleunigen im richtigen Moment, um den Gegner aus seinen Positionen herauszuspielen. Spielintelligenz. Das ist auch meine Philosophie.“ Aber Barça zu kopieren, „das ist total unmöglich. Keine Mannschaft ist wie sie, sie sind einmalig.“ (Als Borussia Mönchengladbach am letzten Spieltag der Hinrunde 2011/12 beim FC Augsburg mit 0:1 unterliegt, ist es für Favre ein „kleiner Trost“, dass am Abend des selben Tages der FC Barcelona den Clásico gegen Real Madrid gewinnt.)
Seine erste „Begegnung“ mit Cruyff war das Ajax-Team der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. „Alle Spieler sehr schnell, lange Haare, etwas arrogant. Und mit total viel Selbstvertrauen.“ Im Herbst 1978 darf der 20-jährige Favre im Trikot von Lausanne Sports selber gegen Ajax spielen. Aus dem großen Team der Amsterdamer, das von 1970/71 bis 1972/73 den Europapokal der Landesmeister dominierte, war nur noch der 28-jährige Ruud Krol dabei. Aber mit Spielern wie den Dänen Sören Lerby, später für den FC Bayern am Ball, und Frank Arnesen, heute Sportdirektor des Hamburger SV, stellte Ajax noch immer ein beeindruckendes Ensemble. Und die Philosophie des „Fußball total“ war auch noch zu erkennen. In Amsterdam unterlagen die Schweizer nur mit 0:1 – dank einer überragenden Vorstellung ihres Keepers. Favre: „Das Spiel hätte auch mit einem 8:0-Sieg für Ajax enden können. Die haben unglaublich viele Torchancen kreiert. Unsere Verteidiger wurden bis zur Eckfahne gepresst, wo sie den Ball nur noch wegschlagen konnten. Ein Team mit ganz viel Selbstvertrauen.“ (Im Kontext seiner Ausführungen über „Mut“ und „Selbstvertrauen“ erwähnt Favre beiläufig, dass er gerade eine Churchill-Biografie lesen würde. „Darf man das in Deutschland sagen?“ Natürlich darf man das.)
Lucien Favre begegnete Ruud Krol noch ein weiteres Mal. 1981 wechselt er zu Servette Genf, das von dem Niederländer trainiert wird. Krol habe den Spielern einmal erzählt, wie sie früher den Gegner bereits im Tunnel zum Spielfeld eingeschüchtert hätten – durch eine an Arroganz grenzende offensive Körpersprache.
Den „König“ selbst traf Favre erst elf Jahre später. 1992 hatte der FC Barcelona mit Johan Cruyff als Trainer den Europapokal der Landesmeister gewonnen. Die Medien sprachen von einem „Dream-Team“, Barça und Cruyff waren das Maß aller Dinge.
In der folgenden Saison durfte Lucien Favre bei Johan Cruyff in Barcelona 15 Tage hospitieren. 15 Tage, die den Trainer Favre prägten, der sich schon als Spieler in die Spielphilosophie von Cruyffs Barça verguckt hatte. „Es war phantastisch! Cruyff war eine faszinierende Persönlichkeit.“ Der „Spiegel“ schreibt später, die Tage bei Cruyff seien Favres „Erweckungserlebnis“ gewesen.
Und das Training? Cruyff habe nie Standards geübt und auch nicht das klassische Verteidigen. Stattdessen: „Viel Passspiel. Einfache Übungen, Vier-gegen-Vier plus zwei Neutrale auf der Hälfte des Strafraumes. Er hat intensiv an der Qualität der Pässe gearbeitet: flach, präzise in den Lauf. Für mich ist die Qualität der Pässe sehr wichtig. Wie soll ich schnell spielen, wenn der Ball unsauber gespielt wird? Ronald Koeman konnte kurz und lang spielen. Bei gegnerischem Pressing hat er sofort lange präzise Pässe in die Spitze gespielt.“
Außerdem habe Cruyff intensiv die Ballbehauptung geübt. De facto habe er ohne Innenverteidiger gespielt, denn die, die dort nominell postiert waren, agierten wie Mittelfeldspieler. „Es ging stets um Ballbesitz und um das Herstellen von Überzahl. Er hat nie ein Training vorbereitet, um das Verteidigen zu üben. Auch keine Standards. Daran hatte er kein Interesse.“
Auch die beidfüßige Ausbildung seiner Spieler sei für Cruyff sehr wichtig gewesen. Denn „Beidfüßigkeit“ beschleunige das Spiel. „Die Spieler konnten schnell spielen und gleichzeitig sehen, was auf dem Feld vorgeht. Es hat weniger interessiert, wo der Ball ist, sondern wo die anderen sich hinbewegen.“ Spielintelligenz eben.
Cruyff habe bei Barça das 3-4-3 erfunden. „Barça hat 3-4-3 gespielt, nicht 4-3-3 wie Ajax. Alle Jugendmannschaften spielten das System der Profis. Damals ein 3-4-3, nicht wie heute 4-3-3. Cruyff allein war es, der die Philosophie veränderte.“ (Cruyff hat häufiger sogar mit nur zwei Verteidigern gespielt, da sich Ronald Koeman im Mittelfeld herumtrieb.) Um so zu spielen, wie es Cruyffs Vorstellungen entsprach, müsse man über „eine unglaubliche Persönlichkeit“ verfügen: „Cruyff hat stur an seinem System festgehalten. Auch wenn der Gegner mit drei Stürmern antrat und somit außen einer fehlte.“
Pep Guardiola, der aktuelle Barça-Trainer, habe mit Cruyff viel gemeinsam. „Er war sein Spieler, die Nummer sechs vor der Abwehr. Aber er war vor allem ein fantastisch intelligenter Fußballer. Guardiola hat Cruyffs Philosophie perfekt verstanden.“ Auch Guardiola denke „keine Sekunde, wir müssen verteidigen.“
Ich frage Favre nach Cruyffs Definition eines „großen Klubs“. Für Cruyff muss ein „großer Klub“ über eine einheitliche Spielphilosophie verfügen und offensiv spielen. Der Kern des Teams muss aus im Klub ausgebildeten Spielern bestehen, deren Spielweise sich die „Zugekauften“ anzupassen haben. Favre: „Die Etablierung einer einheitlichen Spielphilosophie ist extrem schwierig. Dazu bedarf es