MUSIK-KONZEPTE 192-193: Sándor Veress. Группа авторов
67 SV an EV, London, 15.5. und London, 11.6.1947 (PSS, SSV). — 68 SV an EV, London, 15.7.1947 (PSS, SSV). — 69 Thomas Gerlich, »Neuanfang in der ›Wahlheimat‹? Zu Sándor Veress’ Hommage à Paul Klee«, in: ›Entre Denges et Denezy …‹, Dokumente zur Schweizer Musikgeschichte 1900–2000, hrsg. von Ulrich Mosch in Zusammenarbeit mit Matthias Kassel, Mainz et al. 2000, S. 399–406. Ferner: Thomas Schacher, 75 Jahre Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern 1921–1996, Bern 1996, S. 30–37. — 70 István Borsody an SV, Pittsburgh, 15.6.1949 (PSS, SSV). — 71 SV an Anna Müller-Widmann, Rom, 1.8.1949 (PSS, Fonds Annie Müller-Widmann). — 72 SV an einen ungenannten Adressaten der Universität Bern (Entwurf, Typoskript), (Rom,) 23.9.1949 (PPS, SSV). — 73 Ferenc Bónis, »Three Days with Sándor Veress the Composer, Part III« (Anm. 1), H. 111, S. 209. – Zum Rajk-Prozess: https://de.wikipedia.org/wiki/László_Rajk [letzter Zugriff: 20.1.2021]. — 74 SV an einen ungenannten Adressaten der Universität Bern (hs. Entwurf), Rom, 4.10.1949 (PSS, SSV). — 75 »érkezés Bernbe / Hotel Post e(t) France« (Archiv Claudio Veress).
CLAUDIO VERESS
Zu einem unerwarteten Fund in der Musiksammlung der Budapester Széchényi-Nationalbibliothek (OSZK)
Sándor Veress’ Bühnenmusik zu Imre Madáchs Az ember tragédiája (Die Tragödie des Menschen)
Ein kürzlicher Quellenfund soll hier genauer angezeigt werden, da er ein zumindest außerhalb Ungarns lange verschollen geglaubtes Werk betrifft, das Veress während seiner Londoner Monate 1947 intensiv beschäftigt hat: die Bühnenmusik zur Neuinszenierung von Imre Madáchs Az ember tragédiája (Die Tragödie des Menschen) am Budapester Nationaltheater (Nemzeti Színház) unter der Regie von Béla Both, die am 26. September 1947 Premiere hatte und während der folgenden Wintersaison insgesamt 89 Mal gegeben wurde.1 Es war die letzte Inszenierung des Stücks vor der stalinistischen Wende, danach wurde es – weil angeblich unrettbar durchtränkt von reaktionärem Ungeist – bis zum vorrevolutionären Tauwetter des Jahres 1956 auf den Index gesetzt.2
Nichtsdestotrotz handelt es sich bei diesem 1862 erschienenen Text um einen Klassiker, eine Art ungarischen Faust, der sich als »dramatisches Gedicht« in 15 Bildern – zumeist in Blankvers – entfaltet. Die Bilder 1 bis 3 sowie 15 bilden eine an die Wette des Buches Hiob und die Sündenfallerzählung der Genesis angelehnte, im Paradies bzw. außerhalb des Paradieses spielende Rahmenhandlung, in die ein Adam und Eva durch Luzifer eingegebener menschheitsgeschichtlicher Traum über elf Stationen eingewoben ist – insgesamt eine Antwort auf Adams Frage nach der Zukunft der Menschheit, die nach einem Panoptikum immer wieder erneuerten Strebens und Scheiterns in der Dystopie einer »eisigen Gegend« nahe dem Äquator (!) endet. Nach dieser luziferisch-zynischen Belehrung erwacht und radikal desillusioniert, steht Adam im 15. Bild kurz davor, sich in einer Aufwallung verzweifelter Selbstermächtigung von einem Felsen zu stürzen, als ihm Eva eröffnet, sie sei schwanger. Das ist der Augenblick, in dem Luzifer seine Wette um die Menschheit gegen Gott verliert, dieser das sündige Paar wieder in seinen Gnadenkreis aufnimmt und ihm das Gebot auf den Weg gibt: »Mensch, dein Gebot sei: kämpfen und vertrauen.«3
Das Stück ist kein reines Sprechdrama. Vielmehr zeigt es mit seinen vielen (vokalen und instrumentalen) Einlagen einen – letztlich in Mysterienspiel-Tradition stehenden – Hang zum Gesamtkunstwerk. Daher wurde es seit seiner Budapester Uraufführung 1883 stets unter Beizug von Bühnenmusik inszeniert. Veress steht mit der seinigen zwar äußerlich in dieser Tradition, war aber anscheinend der erste Komponist, der im Aufbruchsklima der Nachkriegszeit einen Traditionsbruch im Sinne seines Verständnisses von neuer ungarischer Musik herbeiführen konnte.
Die Briefe vom ersten Halbjahr 1947 berichten an mehreren Stellen von Veress’ Schwierigkeiten, unter den in London obwaltenden Umständen mit der Komposition ins Reine zu kommen, von der Anfang April immer noch Ouvertüre und Schluss fehlten.4 Am 27. Juli notiert er entnervt: »Jetzt bekomme ich hässliche Briefe und Telegramme (vom Nationaltheater), die nach der Tragödie fragen – dieses ist also wieder meine eigene Tragödie geworden.«5 Da die Korrespondenz mit seiner Frau just nach diesem Brief abbricht und bislang auch sonstige Belege fehlen, wissen wir nicht, wann das Budapester Nationaltheater in den Besitz der noch fehlenden Teile gelangte. Das jüngst im OSZK zum Vorschein gekommene Aufführungsmaterial6 scheint aber vollständig, wenngleich (mit einer einzigen autografen Ausnahme) von mindestens zwei Kopisten-Händen geschrieben. Das Material umfasst lediglich die Orchesterstimmen, die Partitur scheint verschollen. Jedoch ließe diese sich aufgrund der Stimmen rekonstruieren. Die Besetzung des Orchesters umfasst 2 Flöten, 2 Oboen (2. auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte (2. auch Kontrafagott), 2 Hörner, 3 Trompeten, 2 Posaunen, Harfe, Pauken, Schlagzeug (kleine Trommel, Becken, große Trommel, Triangel), Streicher. Der Streicherkörper musizierte in der Besetzungsgröße 8 – 6 – 4 – 4 – 2.
Die Nummernfolge der Bühnenmusik folgt weitgehend der Bilder-Folge des Dramas, umfasst außer der Ouvertüre 14 Einheiten (Bild 10 bleibt als einziges ohne Musik), die wiederum je nach musikalischen Erfordernissen der Bilder mehr oder weniger stark untergliedert sind. Auf eine genauere Beschreibung muss im vorliegenden Rahmen verzichtet werden.
Einzig zwei besondere Befunde seien hervorgehoben: Erstens die Entdeckung des, wie es scheint, einzigen autografen Blattes im gesamten Stimmenmaterial (Abb.): einer Partiturnotation des Harfe-begleiteten Liedes der römischen Hetäre Hippia (Veress schreibt irrtümlich »Cluvia«) im Rom-Bild (Nr. 6). Der Text lautet in Übersetzung: »Liebe und Wein / Lass nimmer sein. / Andere Würze / Hat jeder Becher. / Der Rausch, die süße Wonne / Vergoldet unser Sein, / Wie versunkene Gräber die Sonne.«7 Die Kontur der Melodie ähnelt auf überraschende Weise einer authentischen Volksmelodie, schärft diese in T. 5 aber noch auffällig modal (a – a – f) aus.8 Beobachtungen dieser Art könnten die Hypothese stützen, dass dem – seinem ganzen Textcharakter nach schon so unverwechselbar ungarischen – Drama Madáchs durch Veress’ Bühnenmusik nochmals merkliche Zuwächse einer spezifisch musikalischen couleur locale beschert wurden, die erst auf dem Boden der »musikethnografisch informierten« Ästhetik der Bartók-Kodály-Schule möglich geworden waren. Erhärten ließe sich diese Vermutung freilich nur durch einen genauen Vergleich mit den ebenfalls in der Széchényi-Bibliothek aufbewahrten Vorgängern der Veress-Musik.
Die zweite Beobachtung besteht in der Merkwürdigkeit eines in die Innentitelseiten der meisten Stimmen montierten Textmottos, das Veress dem London-Bild (Nr. 11) der Tragödie entnommen hatte. Es lautet in Übersetzung: »Adam (zu einem der Musiker): ›Gefällt dir denn die Weise, die du spielst?‹ / Der Musiker: ›Beim Himmel, nein! Im Gegenteil, ’s ist grässlich / Tagtäglich eine Melodie zu geigen, / (…) Es hallt mir noch im Traume nach. Jedoch / Man muss ja leben (…)‹«