MUSIK-KONZEPTE 192-193: Sándor Veress. Группа авторов
und in jedem Fall, mindestens, deutlich auf Distanz zu Budapest zu gehen.59
Die ersten Wochen zeitigten Ermutigendes: Kontakte zur BBC, insbesondere zu den Dirigenten Adrian Boult und Stanford Robinson, die Konzertprojekte für den Herbst anstießen, aber auch Aufnahmetermine als Interpret eigener Werke – der 20 Klavierstücke (1938) und der Klaviersonatine (1932) –, den Beginn der Freundschaft mit Gwynn Williams, Mitinspirator und künstlerischer Leiter des 1947 erstmals durchgeführten Llangollen International Musical Eistedfodd, an dem Veress von 1948 bis 1984 mit ganz wenigen Ausnahmen jährlich in der zweiten Juliwoche als Juror der Chorwettbewerbe amten sollte. Die seit 1939 in der Schwebe befindliche Verbindung zu Boosey & Hawkes hingegen wurde 1947 formell beendet.60
Trotz dieser Ansätze musste Veress realistischerweise bis Mitte März damit rechnen, innert Monatsfrist wieder zurück in Budapest zu sein (»danach verlasse ich England, es sei denn, inzwischen geschieht etwas – was ich mir in der Tat erhoffe«61). Das erhoffe Ereignis in between, das niemand voraussehen konnte, trat aber tatsächlich zuhause am 14. März mit dem Ausscheiden des der NPP angehörenden Religions- und Unterrichtsministers Dezső Keresztury, seines Zeichens Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und enger Vertrauter Kodálys, aus der Regierung des Ministerpräsidenten Ferenc Nagy ein.62 Sein Nachfolger wurde der Ethnograf Gyula Ortutay, ein Vertreter des linken Flügels der Kleinlandwirtepartei und mit Veress seit spätestens Ende der Dreißigerjahre gut bekannt.63 Dieser sah seinen Kairos gekommen und unterbreitete dem frischgebackenen Minister mit Datum des 28. März den Vorschlag der Schaffung einer Musik-Attaché-Funktion ad personam an der ungarischen Vertretung in London:
»Seit ’38 erkläre ich zuhause, dass nichts so wichtig für das geistige Ungarn ist wie die Nutzbarmachung der Gegebenheiten, die eine internationale Anerkennung und das Gewicht der neuen ungarischen Musik in sich bergen. Nun ist der richtige Moment da, und es wäre – wie oben erwähnt – ein großer Fehler, ihn zu versäumen. Es ist ja nicht sicher, dass eine solche Konstellation noch einmal entsteht. Nun treffen nämlich Nachfrage und Angebot, unsere internationale Position, die auf uns gerichtete Aufmerksamkeit, das gesunde Kunstleben zuhause, viele neue Initiativen, die geeigneten Leute auf den entsprechenden Posten, das hiesige hungrige Interesse sowie resonanzfähige Führungskräfte zusammen. Du bist frisch und flexibel genug, all das zu erkennen. So frage ich Dich also, ob Du mir einen Auftrag für ein, zwei Jahre erteilen kannst, um hier einen Posten aufzubauen und zu halten. Die glückliche Konstellation ist auch bei mir gegeben, weil man bereits vor 12 Jahren von mir gehört hat und meine Kontakte noch bestehen und freundschaftlich geblieben sind. Und sie sind überdies, das ist wichtig, langsam, allmählich und nicht mit propagandistischem Ziel aufgebaut worden. Das heißt auch, sie sind aufrichtig und überzeugend. Ungeschickte ›professionelle‹ Kulturattachés verrichten nirgendwo solche Arbeit. Ich weiß durchaus, dass meine Tätigkeit auch zuhause benötigt wird. Ich selbst sollte daheim auch hunderte Sachen erledigen. Doch habe ich das Gefühl, infolge der skizzierten glücklichen Sternpositionen, dass ich jetzt und hier mehr für Ungarn tun kann als zuhause, wo letztlich meine Stellvertreter die akademische Arbeit genauso gut (wie ich) verrichten, während diese, hier, an meine Person gebunden ist. Denn, man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«64
Die Auffindung dieses Dokuments in den Aktenbeständen des Budapester Staatsarchivs leistet einen wesentlichen Beitrag zum genaueren Verständnis von Veress’ England-Aufenthalt des Jahres 1947, macht es doch deutlich, wie sehr der potenzielle Emigrant bestrebt war, trotz aller zuhause auf Sturm stehenden Zeichen nicht sämtliche Brücken zu seiner Heimat abzubrechen, sondern Alternativen, die zu diesem Zeitpunkt immerhin noch denkbar schienen, eine Chance zu geben. – Ortutay dürfte zwischen den Zeilen verstanden haben, dass sich bei seinem fachverwandten Kollegen eine Art Absprung anbahnte, sah sich jedoch außer Stande, dessen Ansinnen in der vorgeschlagenen Form zu entsprechen. Immerhin garantierte er ihm ad hoc zunächst eine Überbrückungsfinanzierung bis Ende April und danach sogar einen bezahlten Urlaub bis Ende Oktober – nicht ohne ihm Anfang Mai durch einen Emissär ausrichten zu lassen, man sei ängstlich bestrebt (»anxious«), ihn schlimmstenfalls mit der Kompromisslösung, ihm jährlich vier bis fünf Monate Auslandsabwesenheit zu bewilligen, zuhause, d. h. an der Liszt-Akademie, zu halten, da man ihn dort wirklich brauche. Wie tief die Entfremdung zwischen Veress, der Partei und dem »System« zu diesem Zeitpunkt schon fortgeschritten sein muss, zeigt freilich der Umstand, dass Veress dieses Werben Budapests im intimen Dialog mit seiner Frau rundweg als »nonsense« abtut.65
Mit der gewährten finanziellen Unterstützung ließ sich der von Anbeginn verfolgte Plan verwirklichen, Enid Veress – wohl spätestens Mitte August66 – nachreisen zu lassen und ihr so ein kurzes Wiedersehen mit London zu ermöglichen. Die Rückkehr beider nach Budapest erfolgte Ende Oktober, pünktlich zum Dienstantritt an der Akademie. Sie war freilich de facto eine weitere abgebrochene englische Emigration – die zweite nach 1939 –, denn Veress unternahm in den verbleibenden Monaten nach dem Scheitern der diplomatischen Option alles, im britischen Kulturkreis zu einer festen Position als Hochschullehrer zu gelangen. Unterstützung dafür erhielt er von Mitarbeitern des Council, die für ihn Fühler in Richtung einer Berufung an eine der Institutionen im engeren Bezirk des Vereinigten Königreichs (London, Edinburgh) und sogar in Übersee ausstreckten. Bereits Mitte Mai tat sich eine neuseeländische (University of Auckland) und Anfang Juni eine australische (University of Adelaide) Perspektive auf.67 Mitte Juli reichte Veress seine Bewerbungsunterlagen ein68, erhielt jedoch nach allem, was wir wissen, von beiden Seiten Absagen – womit auch die zweite, radikalere seiner beiden 1947 ins Auge gefassten Optionen, zu Budapest auf Distanz zu gehen, gescheitert war.
V Rom 1949
Das vorläufige Ende der Geschichte muss hier – weil gut erforscht und kommentiert69 – nicht im Einzelnen berichtet werden. Das Folgende mag deshalb genügen: Am 6. Februar 1949 reist Veress via Prag nach Stockholm, um der dortigen Uraufführung von Térszili Katicza (16.2.) beizuwohnen. Anschließend begibt er sich nach Rom, wo am 19. März die italienische Premiere des Balletts über die Bühne geht. Beide Produktionen knüpfen choreografisch und ausstattungsmäßig an die Zusammenarbeit mit Milloss und Pekáry im Römer Jahr 1942 an. Enid Veress kann ihrem Mann Ende Februar über Zürich, wo sie sich einer längeren medizinischen Behandlung unterziehen muss, nachreisen. Organisatorische, menschliche und finanzielle Unterstützung dazu leisten Paul und Maja Sacher sowie Oskar und Anna Müller-Widmann in Basel, die Veress im Herbst zuvor anlässlich des ersten Kongresses des International Folk Music Council kennengelernt hat. Mitte Juni trifft aus Pittsburgh die schlechte Nachricht Borsodys ein, dass die inzwischen gängige Immigrationspraxis des U. S. Department of Justice einen Stellenantritt am Pennsylvania College for Women im Herbst – und bis auf Weiteres – verunmögliche.70 Der Sommer wird in völliger Ungewissheit an der Via Corsini 12 im Trastevere verbracht, jedoch im festen Vorsatz, diesmal nicht mehr nach Budapest zurückzukehren (»[…] es ist auch klar, […] wenn wir nach Ungarn zurückfahren, können wir nie mehr heraus«71). Anfang September spitzt sich die Lage zu, unter anderem weil die italienischen Behörden Anstalten machen, die Aufenthaltsbewilligung nicht ein weiteres Mal zu erneuern. Da trifft in einem Schreiben mit Datum des 18. September ein völlig unerwarteter Ruf aus Bern ein: Das Musikwissenschaftliche Institut der dortigen Universität, an dem seit dem