MUSIK-KONZEPTE 192-193: Sándor Veress. Группа авторов
handelte es sich um Veress’ initiale Begegnung mit Bartóks Divertimento und einem Werk Luigi Dallapiccolas für Frauenchor und Kammerorchester: »ein hervorragendes Stück, das ich sogar noch mehr genoss als den Bartók«26 (welch bemerkenswertes Urteil!). Über das zweite Ereignis berichtet prospektiv – ob der Plan verwirklicht wurde, lässt sich anhand der erhaltenen Korrespondenz nicht zweifelsfrei belegen – ein Brief an Alfred Schlee bei der Universal Edition:
»Ende dieses Monats fahre ich nach Florenz um Busonis Doktor Faust und die von Dallapiccola neulich bearbeitete Oper von Monteverdi ›Il ritorno di Ulisse‹ anzuhören. Kommen Sie nicht hin? Es wäre schön, ein wenig Zeit zusammen mit unseren Freunden in Florenz zu verbringen.«27
Es steht stark zu vermuten, dass Dallapiccola von Veress als zu dem hier erwähnten »Freundes«-Kreis gehörig mitgemeint ist. Der Florentiner Kollege schreibt jedenfalls gut drei Wochen früher ebenfalls an Schlee, dass er Veress seine Canti di prigionia anlässlich eines Besuchs in Budapest Anfang März überlassen habe und fest damit rechne, dass jener nach Florenz komme und ihm die Partitur dieses Werks zurückbringe, er wolle sie nämlich Anton Webern schicken.28 Andreas Traub vermutet zu Recht, dass eine solche Überlassung eines frischen Manuskripts – noch dazu eines politisch so klar Stellung beziehenden – nicht unter Kollegen hätte stattfinden können, die nicht in einem Vertrauensverhältnis zueinander standen.29 Leider gibt die Rom-Korrespondenz – und geben auch andere bisher bekannte Dokumente dieser Periode – keine weiteren Aufschlüsse über einen engeren Austausch zwischen Veress und Dallapiccola. Hätte es einen gegeben, dürften wir ihn möglicherweise zu den frühesten kollegialen Auseinandersetzungen zu Fragen der Reihentechnik in Veress’ Entwicklung als Komponist zählen.30
Was im Falle Dallapiccolas – zumindest bis auf Weiteres – vage bleiben muss, lässt sich im Fall des oben schon erwähnten Goffredo Petrassi wesentlich besser belegen.31 Schon kurz nach Veress’ Ankunft kam es hier zu einer ersten Begegnung:
»Freitag (a)bends war ich bei Petrassi eingeladen. Ich schätze ihn sehr hoch, als Künstler ebenso wie menschlich. Es ist in diesem Manne etwas so rein und unverdorben, was man heutzutage sehr selten finden kann. Dabei ist er ein ernster und hochbegabter Musiker. Es ist bemerkenswert, dass er vom Lande kommt, seine Eltern waren Bauern. Er ist also die erste Generation, welche immer so fein und stark ist.«32
In Petrassi lernte Veress einen Kollegen kennen, der neben verwandten ästhetischen Idealen auch seine eigenen musikethnografischen Interessen teilte. Dies geht u. a. aus dem Schlussbericht hervor, den er dem Nationalen Stipendienrat im Sommer 1943 einreichte, wo er die von Petrassi und Giorgio Nataletti 1930 herausgegebene Sammlung Canti della campagna romana besonders lobt.33 Dabei verrät der Hinweis auf Petrassis bäuerliche Herkunft viel über Veress’ eigenes ästhetisches Ideal, das er in der Person des anderen – in scharfem Kontrast zur Situation seiner eigenen »sentimentalischen« Vermitteltheit34 – geradezu verkörpert sehen konnte. Aus anfänglichen Sympathien scheint sich über die Wochen ein recht eigentlich freundschaftliches Verhältnis entwickelt zu haben (»Petrassi ist sehr liebenswürdig mit mir und ich habe ihn sehr gerne.«35) – und im Frühsommer kam es sogar seitens des Italieners zu einem professionellen Sukkurs, der für Veress’ künftige Laufbahn als Komponist von entscheidender Bedeutung werden sollte – einer Empfehlung an das Mailänder Verlagshaus Edizioni Suvini Zerboni:
»Ich habe gute Nachrichten. Es scheint, dass ich hier in Mailand durch einen sehr guten Verleger publiziert werden soll, der sich sehr für die Musik unserer Zeit interessiert und sehr schöne Editionen von modernen italienischen Komponisten wie Dallapiccola, Petrassi, Malipiero etc. herausbringt. Er kannte meinen Namen, aber es ist eigentlich Petrassi, der seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt hat, dass ich noch nicht verlegt bin, und ich habe ihn hier in Rom getroffen.«36
Was sich hier anbahnte, konnte sich zwar erst volle sieben Jahre später in größerem Umfang zu entfalten beginnen – Veress sollte Rom und Italien erst 1949 wiedersehen –, markiert jedoch nichtsdestoweniger die Grundlegung dessen, was im Sommer 1939 in London noch versäumt worden war, nämlich die stabile Bindung an ein seriöses, an neuer Musik substanziell interessiertes und international tätiges Verlagshaus.
Veress hat in späteren Jahren nur sehr sparsam über seine Rom-Erlebnisse der frühen 1940er Jahre gesprochen. Wenn er aber darüber sprach, malte er ein Ereignis in lebendigsten Farben aus – die italienische Erstinszenierung von Bergs Wozzeck, die am 3., 7, und 11. November 1942 unter der musikalischen Leitung Tullio Serafins in der Regie Aurél von Milloss’ am Teatro dell’Opera über die Bühne ging.37 Für Petrassi aus der Rückschau Schlüsselbeispiel des nicht nur unabhängigen, sondern sogar antifaschistischen Geistes der damaligen Römer Musikszene,38 hatte für Veress das Erlebnis dieser Aufführungen – er hörte sie alle und verfolgte auch die Proben – die Bedeutung einer ästhetischen Initiation.39 Die Werke der Wiener Schule hatten in seiner bisherigen künstlerischen Entwicklung so gut wie keine Rolle gespielt – im Ungarn der 1920er und 1930er Jahre gab es auch keine nennenswerte Rezeption dieser Impulse.40 Mit dem Wozzeck ging ihm eine neue Welt auf, wie er in einem nach der Rückkehr nach Budapest geschriebenen Brief an Schlee freimütig gesteht:
»Wie geht es Ihnen nach den schönen, vom Wozzeck gekrönten Tagen, die wir in Rom verbrachten? Ich höre noch immer diese wunderbare Musik, die mich so gefesselt hat, wie nur wenige zwischen den modernen Werke(n), die ich in den letzten Jahre(n) kennenlernte. Künstlerischer Stil und die Art, auf welche() Berg seine Gedanken in dieser Partitur dem Zuhörer mit(zu)teilen weiss – nichts zu sagen von seinem ungeheuren musikalischen Können – erscheinen mir in so einer vollkommenen Harmonie, die nur bei den grössten Künstler(n) vorhanden ist. Es ist eigentlich merkwürdig, dass ein musikalischer Stil wie die Schönbergische Schule in so kurzer Zeit mit Berg sich zu dieser Verfeinerung – Plastizität und Elastizität des künstlerischen Materials – entwickeln k(o)nnte. – Oder ist es vielleicht nicht einmal so merkwürdig; d(as) Genie braucht nur die Sprache – die immer zeitgenössische Sprache – um sich ausdrücken zu können und dann erfüllt e(s) die Form mit jenem unfassbaren, latenten Geist, der das Wesen alles wahren künstlerischen Schaffen(s) ist. War es nicht derselbe Fall mit den Mannheimer(n) und Mozart?«41
III Budapest 1945 – und einige der Folgen
Ende 1943 wurde Veress als Nachfolger Kodálys auf dessen Kompositionslehrstuhl an der Liszt-Akademie berufen. Kurz danach setzten in Ungarn jene Entwicklungen ein, die Budapest zu einem der entsetzlichsten Schauplätze des letzten Kriegsjahres auf europäischem Boden werden ließen: die Besetzung durch die deutsche Wehrmacht im März 1944, die unter Adolf Eichmanns persönlicher Überwachung und mit Beteiligung ungarischer Gendarmerie erfolgenden Deportationen von gegen einer halben Million jüdischer Menschen in die Vernichtungslager (bis internationaler Druck Anfang Juli bewirkte, dass Horthy die Transporte vorläufig wenigstens für den Großraum Budapest stoppte), das offen-faschistische Terrorregime der Pfeilkreuzler nach Horthys Sturz Mitte