Reds. Dietrich Schulze-Marmeling

Reds - Dietrich Schulze-Marmeling


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wird es in diesem Moment vermutlich nicht anders ergehen …) Der Autor war irritiert. Auf der Strecke von Dover nach Liverpool war das Bezahlen mit EC-Schecks kein Problem gewesen. Also versuchte er dem Tankwart zu erklären, dass das Papier ein auch in England zulässiges und bekanntes Zahlungsmittel sei und er mit seinen Schecks bislang noch an keiner englischen Tankstelle Probleme gehabt hätte. „Dies ist ein EC-Scheck. EC steht für European Community. Und England ist Mitglied der European Community.“ Der Tankwart blieb unbeeindruckt: „England? Sorry, wir sind hier in Liverpool!“

      Ob der Tankwart die Europäische Gemeinschaft mochte oder nicht, weiß ich nicht. Von spürbar größerer Bedeutung war aber, dass er eines überhaupt nicht mochte: dass ich der Auffassung war, Liverpool sei eine englische Stadt.

      Nirgendwo in England findet man eine so stark ausgeprägte Loyalität gegenüber der eigenen Stadt wie in Liverpool. Diese übertrifft bei Weitem die Identifikation mit England und der britischen Monarchie. Liverpool pflegt einen Blick auf den Rest Englands, der von Skepsis bis unverhohlener Ablehnung der nationalen Autoritäten und der zentralen Macht geprägt ist.

      Das war schon immer so. Im 19. Jahrhundert war Liverpool eine Stadt der Extreme: Hochkultur und Welthandel auf der einen Seite, Kriminalität, Bandenwesen, soziales Elend auf der anderen. In den 1880ern tauften die US-Medien die Stadt „Chicago of England“. Die London Illustrated News strapazierten ebenfalls einen Vergleich mit einer amerikanischen Stadt: Liverpool sei das New York von Europa, „eher eine Weltstadt als nur eine britische Provinzmetropole“. In Großbritannien und Irland hieß es, Liverpool sei die „größte irische Stadt“, „Englands Dublin“, „Irlands zweite Hauptstadt“ oder „Irlands eigentliche Hauptstadt“.

      Liverpools Verhältnis zu London ist ähnlich dem von Marseille zu Paris oder von Neapel zu Rom. Liverpools Bürger werden nach ihrem Dialekt „Scousers“ genannt und nennen sich auch selber so. Das Wort Scouse kommt ursprünglich von „Lobscouse“, einem traditionellen seemännischen Gericht, in Deutschland als Labskaus bekannt. Mit der Zeit erfuhr dieser Dialekt Veränderungen, bedingt durch die Einwanderung von Iren und Walisern.

      In den Jahren der konservativen und extrem marktliberalen Regierung von Margaret Thatcher erfuhr die Scouse Identity einen Aufschwung. Damit einher ging der Abstieg der in Liverpool einst auch unter der Arbeiterschaft starken Tories in die Bedeutungslosigkeit. Der Niedergang der Tories hatte allerdings schon mit den Lokalwahlen 1973 begonnen. Damals erreichten die Liberalen und Labour jeweils 35 % und verwiesen die Konservativen mit 27 % auf Platz drei. 1987 saß im Stadtparlament erstmals kein einziger Tory.

      Anti-Thatcherism und Liverpool wurden Synonyme. Der von Militant, einer trotzkistischen Gruppe innerhalb der Labour Party, dominierte Stadtrat spielte erfolgreich auf dieser Klaviatur, schürte eine Liverpool-Identität, die mit der Ideologie des Thatcherismus schlichtweg nicht vereinbar war. „Real Scousers don’t vote Conservative“, hieß es fortan. Thatcherismus bzw. Konservativismus waren nun etwas Fremdes, das mit Liverpool nichts zu tun hatte. Das Muster, Katholiken wählen Labour, Protestanten Tories, galt nicht mehr.

      Bei den Bürgermeisterwahlen 2012 landete der Kandidat der Konservativen mit 4,49 % auf Rang sieben. Der Kandidat der Labour Party, Joe Anderson, Sohn einer Putzfrau und eines Seemannes sowie eingefleischter Everton-Fan, verbuchte 59,33 %.

      Heute tragen Fans des FC Liverpool stolz T-Shirts mit der Aufschrift „Scouse not English“. Auf der Hintertortribüne „The Kop“ hängt ein großes Banner mit der Aufschrift „WE’RE NOT ENGLISH WE ARE SCOUSE“. Fans feiern ihre Mannschaft und deren Trainer Jürgen Klopp mit Bannern, auf denen geschrieben steht: „JURGEN’S REDS – SCOUSE NICHT ENGLISCH“. Das Champions-League-Finale 2019 in Madrid nahmen einige Fans zum Anlass, ihre Ablehnung des Brexits zu demonstrieren. „BREXIT MY ARSE, WE LOVE EUROPE“, hieß es auf einem der Banner.

      Liverpool und seine Iren

      Ein Grund für Liverpools Andersartigkeit und Abneigung gegenüber dem Süden Englands sind die vielen walisischen, schottischen, vor allem aber irischen Einwanderer. Liverpool unterhält historische Verbindungen zu Schottland, Wales, Irland und den USA. Alle prägten und prägen die Stadt in unterschiedlicher Weise, aber am stärksten wirkt sicherlich die irische Connection.

      1846/47 waren geschätzt 580.000 Iren im Hafen Liverpools von Bord gegangen, 370.000 von ihnen allein zwischen dem 1. Januar und 1. Juni 1847. Das Gros der irischen Einwanderer kam aus dem Westen und Südwesten Irlands und war vor den Hungerkatastrophen („The Great Famine“) auf der Insel geflohen. Aber schon davor waren 17 % der Bevölkerung Liverpools irischer Herkunft. Für viele der Einwanderer hatte Liverpool zunächst nur die Funktion einer Transitstelle. Von hier aus sollte es über den Atlantik in die USA gehen. Der Höhepunkt der Emigration wurde 1852 erreicht, als über 1.000 Schiffe 299.099 Menschen in die „Neue Welt“ transportierten. (Im Zeitraum von 1840 bis 1935 brachen von hier schätzungsweise neun Millionen Menschen in die USA auf – natürlich nicht nur Iren.) Viele der irischen Auswanderer blieben aber in der Stadt am Mersey hängen, da ihr Geld nicht für die Schiffspassage reichte.

      Es wird geschätzt, dass mindestens die Hälfte der heutigen Einwohner Liverpools irische Vorfahren hat. Berühmte Liverpooler mit irischem Background sind u. a. Wayne Rooney, der in seiner Jugend und seinen ersten Profijahren beim FC Everton spielte, sowie die Beatles John Lennon, Paul McCartney und George Harrison. Lennon und McCartney beschäftigten sich in ihren Songs auch mit dem Bürgerkrieg in Nordirland. Nach dem sogenannten Blutsonntag von Derry, als britische Soldaten in der nordirischen Stadt 14 Bürgerrechtler erschossen, schrieben sie „Bloody Sunday“ (Lennon) und „Give Ireland back to the Irish“ (McCartney).

      Auch Anfield, der Name des berühmten Stadions des FC Liverpool, hat eine irische Quelle. Um 1860 wanderte der Ire Samuel Robert Graves nach Liverpool aus. Graves stammte aus New Ross in der irischen Grafschaft Wexford. Der Kaufmann und Reeder war Mitglied der konservativen Partei. 1861 wurde Graves Bürgermeister von Liverpool und war damit der erste Ire in England, der diese Position bekleidete. Von 1865 bis zu seinem Tod 1873 war er Mitglied des britischen Parlaments. Als Bürgermeister kaufte er in Liverpool Land, das er Annefield Farm taufte. Annefield war der Name einer Gemarkung bei New Ross, wo Graves’ Elternhaus – Rosbercon Castle – stand. Graves nannte die Straße zu seinem Liverpooler Landbesitz Annefield Lane, woraus mit der Zeit die Anfield Road wurde. Hier entstand 1884 das Stadion des FC Everton bzw. FC Liverpool.

      Liverpools Desinteresse an London und dem englischen Süden korrespondiert mit dem Desinteresse südenglischer Tory-Snobs am englischen Nordwesten, speziell an Liverpool. In den Thatcher-Jahren plädierten einige Tories dafür, Liverpools wirtschaftliche und soziale Probleme dadurch zu lösen, dass man die Stadt einfach untergehen lasse. Spätestens seit Ende der 1990er Jahre lässt sich in England beobachten, dass der britische Nationalismus mehr und mehr einem englischen weicht. (Ein britischer Nationalismus wird eigentlich nur noch von Nordirlands Protestanten und den schottischen Tories gelebt.) Als die Engländer 1996 gefragt wurden, ob sie sich eher als Engländer oder als Briten sehen, präferierte nur ein knappes Drittel der Engländer eine englische Identität. 2011 sahen sich dagegen nur 16 % in erster Linie als Briten. Aber eine Bevölkerung wie in Liverpool, die überwiegend irischen, schottischen und walisischen Ursprungs ist, kann sich mit einem englischen Nationalismus kaum anfreunden.

      Fußballstadt Liverpool

      Die Stadt Liverpool gewann seit Einführung der Football League 1888 27 englische Fußballmeisterschaften. Allein 18 gingen auf das Konto des FC Liverpool. Nur Manchester United konnte mit 20 noch mehr erringen. Lokalrivale Everton wurde neunmal Meister. Obwohl die Liverpooler Klubs seit 1990 keinen Meistertitel mehr holen konnten, hat die Stadt im englischen Fußball noch immer die Nase vorn. Aus Manchester kam der Meister bislang 26-mal, aus London 21-mal. Der FA-Cup wurde zwölfmal von den „Roten“ und den „Blauen“ gewonnen. Siebenmal triumphierte Liverpool, fünfmal Everton. Hier liegen London und Manchester klar vor Liverpool.

      Anders sieht es im Europapokal aus, wo Liverpool 13-mal einen Sieger stellte, das letzte Mal im Mai 2019, als man mit Trainer Jürgen Klopp zum sechsten Mal die begehrteste Trophäe im europäischen Klubfußball, den Europapokal der Landesmeister bzw. die Champions League, gewann und damit seinen zwölften europäischen Titel überhaupt. Kein anderer


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