Die verlorene Vergangenheit. Stefan Bouxsein

Die verlorene Vergangenheit - Stefan Bouxsein


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was er zum Ausdruck gebracht hatte, das war in ihren Augen erbärmlich gewesen. Der Zweite hätte ihr Vater sein können, er war nicht sehr gebildet, das war in seinen Briefen deutlich zum Ausdruck gekommen. So manchen Rechtschreibfehler hätte sie ihm ja verziehen, andere aber waren so gravierend gewesen, dass sich ihr beim Lesen die Haare gesträubt hatten. Aber er musste Zeit und Geld gehabt haben, denn er schien ihr viel hinterher gereist zu sein, wenn sie durch die Welt getingelt war. Immer als unsichtbarer Geist, im Publikum, vielleicht im gleichen Hotel, vielleicht im gleichen Restaurant, am Tisch nebenan. Jedenfalls hatte er ihr viele Dinge geschrieben, die er nicht hätte wissen können, wäre er nicht in ihrer Nähe gewesen. Egal, ob sie in Rom auf der spanischen Treppe Werbung für ein Parfüm gemacht hatte oder auf dem Londoner Flughafen auf ihren Flug nach Warschau hatte warten müssen. Doch sie hatte nie Angst vor diesem Briefeschreiber gehabt, er war ein angenehmer Begleiter gewesen, wenn auch ein Unsichtbarer. Er hatte sie auf eine kindliche Art und Weise verehrt, ihr kleine Geschenke gemacht, manchmal hatte sie gedacht, er wünschte sich, sie wäre seine Tochter. Der dritte Briefeschreiber war ihr von Anfang an unheimlich gewesen. Seine Art zu schreiben hatte sie oft erschauern lassen. Er hatte anscheinend in ihr tiefstes Inneres blicken können. Und was er dort gesehen hatte, hatte er mit schwarzer Tinte auf rotes Papier geschrieben. Er hatte sie verehrt und er hatte sie besitzen wollen. Er hatte ihre geheimsten Fantasien manchmal derart schonungslos offenbart, dass ihr beim Lesen seiner handgeschriebenen Zeilen der Atem gestockt war. Dabei hatte sie sich auf eine unerklärliche Weise zu ihm hingezogen gefühlt. Er hatte etwas Geheimnisvolles, etwas Unheimliches, etwas Teuflisches an sich gehabt. Etwas, mit dem es ihm immer wieder gelungen war, sie in seinen Bann zu ziehen. Es hatte sie manchmal viel Kraft gekostet, sich seinen Briefen zu entziehen, aber die Angst vor dem Mann, dessen Zeilen oft mit animalischer Triebkraft auf sie gewirkt hatten, war stets größer gewesen, als das Verlangen, sich intensiver mit ihm auseinanderzusetzen. Seine Briefe, alle mit schwarzer Tinte auf rotem Papier geschrieben, waren ihr gut gehütetes Geheimnis geblieben, verpackt in einem Karton. Vielleicht hätte sie ihm irgendwann einmal mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte ihm die dunkle Seite ihrer Seele zugewandt, wäre ihm gefolgt in seinen abartigen Fantasien, doch dann war dieser Wohltätigkeitsball gewesen und sie hatte Sebastian Tetzloff kennengelernt. Einen Mann, dem die Welt zu Füßen lag, der sich genommen, was er begehrt hatte und der immer bekommen hatte, was er haben wollte. Nur ein paar Monate später waren sie verheiratet gewesen, die Welt der Mode war Vergangenheit geworden, und die Briefeschreiber schienen keine Tinte mehr gehabt zu haben.

      

      Tetzloff hatte sich die Latex-Handschuhe übergezogen und den Brief aus dem Umschlag gezogen. Er warf nur einen kurzen Blick darauf und reichte ihn dann an Siebels weiter. Staatsanwalt Jensen stand auf Zehenspitzen hinter Siebels und versuchte über dessen Schulter einen Blick auf die Nachricht des Entführers zu werfen. Siebels spürte den Atem von Jensen im Nacken, las die Nachricht dann laut vor, damit Jensen ihm nicht noch dichter auf die Pelle rückte.

       HERR TETZLOFF,

       IHRER FRAU GEHT ES DEN UMSTÄNDEN ENTSPRECHEND GUT. SIE BEFINDET SICH IN MEINER OBHUT. ICH GEHE DAVON AUS, DASS SIE IHRE FRAU LEBENDIG UND RECHT BALD WIEDERSEHEN WOLLEN. ALSO MACHEN SIE SICH GEDANKEN, WAS SIE IHNEN WERT IST. ICH MELDE MICH IN KÜRZE WIEDER, BIS DAHIN SOLLTEN SIE IN DER LAGE SEIN, MIR EIN ANGEBOT ZU UNTERBREITEN.

      

      Keiner der Männer sagte etwas, sie schauten sich ratlos an. Jensen nahm den Brief an sich, lief damit in der Küche auf und ab und schaute abwechselnd zu Charly, zu Siebels, zu Till und zu Tetzloff, der sich eine Zigarette anzündete. Till meldete sich schließlich zu Wort.

      »Lasst uns erst einmal im Jaguar nachsehen, ob die Einkäufe nun da sind oder nicht. Dann können wir uns Gedanken über den Brief machen.«

      Da keiner der Anwesenden einen besseren Vorschlag hatte, wurde einstimmig genickt. Bis vor ein paar Minuten schien diese Frage ja auch noch von größerer Bedeutung gewesen zu sein. Tetzloff ging voran, Jensen und seine Männer hinterher. Sie durchquerten die Eingangshalle, Bogner wartete an den wasserspuckenden Engeln auf sie und ging dann voraus. Gegenüber der Küche befand sich die Tür, die zur Garage führte. Ein schmaler Gang von etwa fünf Metern Länge verband das Haus mit der Garage, die für vier Autos Platz bot. Der Jaguar stand neben einem Jeep, Bogner öffnete den Kofferraumdeckel. Zwei vollgepackte Einkaufstüten standen im Kofferraum, der letzte Beweis der Existenz von Frau Tetzloff. Mit den Tüten begaben sich die Männer wieder zurück ins Haus. In der Küche packte Tetzloff alles aus und legte die Sachen auf den Küchentisch. Zwei Flaschen Saft, Badesalz, vier Orangen und fünf Bananen. Nicht viel, um sich dafür am Samstagmittag ins Getümmel zu stürzen. Siebels wurde an seinen letzten Einkauf erinnert. Vielleicht hatte sie das Klopapier ja auch einfach vergessen? In der anderen Tüte befanden sich eine Flasche Parfüm, verschiedene Mode- und Frauen-Zeitschriften, ein Negligé und zwei Slips. Die Kassenbons waren auch vollständig, das würde die Sache vereinfachen.

      »Wir benötigen ein aktuelles Foto Ihrer Frau. Damit gehen wir morgen in die Geschäfte, vielleicht erinnert sich jemand an sie?« Die Einkäufe waren ein erster Anhaltspunkt, um die Sache anzugehen. Siebels war erleichtert.

      »Kommen Sie mit nach oben, dort habe ich viele Fotos meiner Frau. Tausende, um genau zu sein, schließlich war sie Model.«

      Sie saßen wieder dort, wo sie am Abend zuvor gesessen hatten, tief versunken in den weichen, schwarzen Ledersesseln und in die Fotos von Simone Tetzloff vertieft. Die meisten Aufnahmen waren für Modemagazine gemacht worden und wenig geeignet für eine Befragung in den Läden. Doch schließlich fanden sie ein Foto, Simone Tetzloff lächelte freundlich auf dem Bild. Sie wirkte wie ein Mensch, nicht wie eine makellose Diva, so wie auf den Fotos von Vogue oder Madame. Es war ein Foto aus den Flitterwochen, aufgenommen in einem Café in Venedig.

      »Was halten Sie von dem Brief ?«, wollte Tetzloff jetzt endlich von den Beamten wissen. Jensen holte Luft, doch Siebels kam ihm zuvor.

      »Der Brief wirft einige Fragen auf, wie ich meine. Erstens: Es wird keine Summe genannt. Entweder weiß der Täter nicht, wie viel Sie zahlen können oder er will Sie mit einem kleinen Spielchen noch etwas zermürben, bevor er zur Sache kommt. Im ersten Fall würde ich auf einen Anfänger tippen, im zweiten Fall auf einen Profi. Und zwar auf einen, der sich viele Informationen über Sie besorgt hat. Da der Brief in der Ich-Form geschrieben ist, gehe ich zunächst davon aus, dass es sich nur um einen einzelnen Täter handelt. Er kann natürlich auch Helfer und Mitwisser haben, das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Zweitens: Er erwähnt mit keinem Wort, dass Sie die Polizei aus dem Spiel lassen sollen. Ich gehe fast davon aus, dass er bereits weiß, dass wir hier sind. Immerhin hat er den Brief in Ihrem Briefkasten deponiert, während wir hier auf einen Anruf gewartet haben. Trotzdem ist es bei Erpressungsversuchen üblich, dass die Opfer mit Drohungen davon abgehalten werden sollen, die Polizei zu alarmieren. Nichts davon in unserem Fall. Entweder ein blutiger Anfänger oder ein eiskalter Profi. Drittens: Er scheint es nicht eilig zu haben. Die Zeit spielt aber im Allgemeinen gegen einen Entführer. Er muss die Geisel an einem sicheren Ort verwahren und er muss mit jedem Kontakt zu Ihnen einen sicheren Weg der Kommunikation finden. Je länger er die Geisel in seiner Gewalt hat und je öfter er Kontakt zu Ihnen aufnehmen muss, bis er schließlich seine Forderungen erfüllt sieht, desto größer wird die Gefahr, dass er auffliegt. Ehrlich gesagt, glaube ich eher an einen eiskalten Profi als an den blutigen Anfänger.«

      »Wenn Sie recht haben, was bedeutet das für die Sicherheit meiner Frau?«

      »Das kommt darauf an, welchen Plan der Kerl ausgeheckt hat. Wenn wir ehrlich sind, können wir nicht einmal sagen, ob Ihre Frau überhaupt noch am Leben ist. Wenn es sich aber um einen Profi handelt und die Freilassung Ihrer Frau ein Bestandteil seines Planes ist, dann können wir davon ausgehen, dass Sie Ihre Frau unversehrt wiedersehen werden.«

      »Und wenn nicht? Wenn es überhaupt nicht zu seinem Plan gehört, meine Frau am Leben zu lassen? Was dann? Und was, wenn es doch ein Anfänger ist? Was, wenn er in Panik gerät, weil die Polizei in meinem Haus ist, was dann?«

      »Das sind jetzt


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