Die verlorene Vergangenheit. Stefan Bouxsein

Die verlorene Vergangenheit - Stefan Bouxsein


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allerdings ein sehr gutes Konkurrenzunternehmen. Bei weitem nicht so erfolgreich wie Business-Soft, aber sie haben ein sehr gutes und erfolgversprechendes Produkt-Portfolio. Für eine erfolgreiche Weiterentwicklung dieser Produkte benötigte das Unternehmen Cash. Die Banken gaben nicht genug, da Business-Soft bereits Weltmarktführer war und seine Fühler nach Osteuropa ausstreckte. Aber schließlich fand das Unternehmen einen zahlungskräftigen Investor. Eine Gruppe Rumänen. Ehemalige hochrangige Offiziere unter der Ägide Ceaucescus, denen es gelungen war, rechtzeitig abzutauchen und einige Millionen Dollar beiseitezuschaffen. Diese Leute haben viel Geld verloren, weil Business-Soft dabei ist, den osteuropäischen Markt zu dominieren. Und diesen Leuten würde ich auch die Entführung meiner Frau zutrauen. Aber das sind nur Spekulationen, es gibt keinerlei Hinweise.«

      Das Telefon klingelte. Wie auf Kommando blickten die fünf Männer gebannt darauf. Charly reagierte als Erster. Mit einem Schritt war er bei dem Telefon und den elektrischen Geräten, die er daran angeschlossen hatte. Er drückte ein paar Knöpfe, dann nickte er Tetzloff zu. Der nahm den Hörer ab und meldete sich mit ruhiger Stimme. Jensen fing an, nervös in seinem Sessel hin und her zu rutschen. Tetzloff hob die Hand, gab Entwarnung.

      »Hören Sie, Herr Dr. Schubert, ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen, Sie haben mein vollstes Vertrauen. Handeln Sie, wie Sie es für richtig halten. Nein, tut mir leid, ich muss das Gespräch beenden. Ja, ich verlasse mich auf Sie, auf Wiederhören.« Tetzloff legte den Hörer wieder auf, das Warten ging weiter.

      Siebels nahm das Gespräch wieder auf. »Wenn diese rumänischen Investoren dahinterstecken, was sollten die sich davon versprechen, Ihre Frau zu entführen?«

      Tetzloff zuckte mit den Schultern. »Einschüchterung. Du wilderst in fremdem Revier, also verpiss dich, sonst passieren schlimme Dinge. Das wollen sie damit vielleicht zum Ausdruck bringen. Das ist jedenfalls die einzige Erklärung, die ich habe. Vielleicht will aber auch irgendeine Drecksau mal auf die Schnelle ein oder zwei Millionen mitnehmen. Das ist doch wohl am wahrscheinlichsten, oder?«

      »Im Normalfall ja. Aber für gewöhnlich lassen solche Leute nicht lange mit einer Lösegeldforderung auf sich warten. Für die zählt jede Stunde. Wenn Sie sonst keine Hinweise für uns haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten. Früher oder später werden sie sich melden.«

       Meine Kopfschmerzen ließen von Tag zu Tag nach. Claude schaute jeden Abend zu mir herein. Wir wechselten immer ein paar Worte, sprachen aber nie darüber, wo ich herkam, wer ich war oder was passiert war. Ich war ihm dankbar dafür, denn meine Erinnerung war nicht wieder zurückgekehrt. Tagsüber kümmerte sich die Frau von Claude um mich. Monique brachte mir morgens Frühstück. In den ersten Tagen sprach sie kein Wort mit mir. Immer wenn ich ein Gespräch anfangen wollte, legte sie einen Finger auf die Lippen. Nicht sprechen. Aber sie behandelte mich gut, wechselte regelmäßig meinen Kopfverband, wusch mich und brachte mir frischen Saft. Eine Woche lang ging das so, dann fühlte ich mich stark genug, um das Bett zu verlassen. Meine ersten Schritte in dem kleinen Zimmer waren noch sehr wackelig, die Kopfschmerzen kamen plötzlich mit Wucht zurück. Doch so schnell, wie sie kamen, verzogen sie sich auch wieder. Ich ging zum Fenster, öffnete es, sog die frische Landluft ein und wähnte mich wieder unter den Lebenden. Wenn da nicht die fehlende Erinnerung gewesen wäre. Die blutigen Bilder beherrschten plötzlich wieder meinen Kopf. Mir wurde schlecht, ich musste kotzen. Monique kam ins Zimmer, brachte mich wieder ins Bett und holte einen Eimer Wasser und einen Schrubber. Beschämt entschuldigte ich mich für die Sauerei, die ich angerichtet hatte. Ich solle mir keine Gedanken machen, ich wäre auf dem Weg der Besserung, bekam ich zur Antwort. Es war das erste Mal, dass sie mit mir sprach. Erschöpft schlief ich wieder ein. Am Abend ging es mir dann deutlich besser. Ich fühlte mich wie ein Neugeborener, der in diesem Zimmer das Licht der Welt erblickt hatte. Nur war ich kein Neugeborener, sondern ein Wiedergeborener. Einer, der bereits ein Leben hinter sich hatte. In dieses Leben konnte ich nicht mehr zurück, das war mir schlagartig klar geworden. Ich hatte keine Erinnerung mehr an dieses Leben. Alles, was mir blieb, waren diese furchtbaren Bilder, die mich ständig heimsuchten. Mein neues Leben begann auf einem Bauernhof. Auch mein altes Leben hatte auf einem Bauernhof begonnen. Auf einem französischen Bauernhof. Mein neues Leben sollte also auf einem belgischen Bauernhof beginnen. Claude und Monique waren meine neuen Eltern, sie schenkten mir mein zweites Leben. Ein zweites Leben, belastet mit blutigen Bildern aus einem anderen Leben.

      4

       Samstag, 29. November 2003, 00:20 Uhr

      Der Abend in der Villa Tetzloff wurde lang und länger, doch es blieb still. Noch zweimal hatte das Telefon geklingelt, hatte den Anwesenden einen Adrenalinstoß versetzt, aber es waren nur Geschäftspartner von Tetzloff gewesen. Einer wollte ihn für den Sonntag zu einer Runde Golf gewinnen, ein anderer seine Einladung zu einer rauschenden Silvesterparty loswerden. Weit nach Mitternacht entschloss Siebels sich, die Nacht in der Villa zu verbringen. Till ließ sich nicht davon abbringen, es ihm gleichzutun. Als auch Charly erklärte, bleiben zu wollen, hielt es Jensen für seine Pflicht, die Nacht mit seinen Männern gemeinsam zu verbringen. Tetzloff quartierte Siebels und Till in ein luxuriös eingerichtetes Gästezimmer ein. Charly war nicht ganz wohl, er befürchtete, mit Jensen gemeinsam in einem Doppelbett schlafen zu müssen. Aber Tetzloff verfügte noch über zwei kleinere Gästezimmer, auch Jensen war eine gewisse Erleichterung deutlich anzumerken.

      Till lag bereits auf der einen Hälfte des französischen Doppelbettes mit eingebautem Radio und integrierter Minibar. Sein Blick schweifte durch das Zimmer. Gemälde hingen an den Wänden, die Decke war mit Stuck verziert, ein antiker Sekretär stand vor dem Fenster. Der flauschige Teppich, rosarot, verlieh dem Zimmer eine angenehm warme Atmosphäre. Die Möbel aus dunklem Holz wirkten elegant, nicht plump oder aufdringlich. Die ganze Einrichtung und Gestaltung des Zimmers war in seinen Farben und Formen aufeinander abgestimmt, glaubte Till zu erkennen. Er fragte sich, wer vor ihm schon alles in diesem Zimmer übernachtet hatte. Seine Gedanken wurden von Siebels unterbrochen, der aus dem angrenzenden Badezimmer kam.

      »Jetzt kannst du mir doch erzählen, wie die Eintracht gespielt hat.«

      »Kein Wort kommt über meine Lippen, ich halte meine Versprechen.« Till zog sich die Decke über den Kopf, tat so, als schliefe er jetzt.

      »Blödmann.« Siebels ging zu dem Sekretär, dort stand ein Telefon. Er rief Sabine an. Das Gespräch war nur sehr kurz, Sabine war vor dem Fernseher eingeschlafen, war kaum ansprechbar. Das Resultat der Eintracht, viel mehr gab das Gespräch nicht mehr her.

      »Was hältst du von Tetzloff und der Entführung?« Till war wieder unter seiner Decke hervorgekrochen, saß aufrecht im Bett und schaute Siebels zu, wie der sich auszog. Sabine schien ihm gutzutun. Der kleine Bauchansatz war weg, er sah trainiert aus. Vielleicht lag es auch an den regelmäßigen Mahlzeiten, wenig Fleisch und viel Gemüse, Sabine war sehr gesundheitsbewusst.

      »Ich weiß noch nicht so recht, was da auf uns zu kommt. Lass uns erst mal die Nacht drüber schlafen und warten, was morgen passiert.«

      »Wenn man bedenkt, dass seine Frau vielleicht in den Händen von zu allem bereiten Rumänen ist, wirkt er sehr gefasst, meinst du nicht?«

      »Er ist ein Manager, ein Topmanager. Er ist es gewöhnt, Probleme zu lösen. Der analysiert ganz klar die Situation und überlegt sich, welche Optionen er hat. Ich bin jedenfalls gespannt, wie er reagiert, wenn eine Lösegeldforderung kommt.«

      »Meinst du, er wird sich weigern, ein Lösegeld zu zahlen?«

      »Keine Ahnung. Vielleicht zahlt er, ohne mit der Wimper zu zucken, vielleicht will er verhandeln oder Zeit gewinnen, vielleicht ist er froh, wenn er seine Frau wieder los ist. Ich bin müde, mach das Licht aus.«

      Sie kam langsam zu sich. Ihr war übel, ihre Kehle fühlte sich ausgetrocknet an. Sie fühlte sich schwach und müde. Sie atmete ein paarmal tief durch. Das flaue Gefühl im Magen ging vorüber. Sie öffnete die Augen,


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