Utopie einer lobbaren Zukunft. Otto Ulrich
zu kommen – ein verbreitetes, aber höchst problematisch werdendes Verständnis von Fortschritt, was zu begründen sein wird.
Der Untergang des Abendlandes – erschienen 1920 – begründet die kulturpessimistische Annahme des laufenden Niederganges eines Zivilisationstypus, der sich, nach heutiger Lesart, aus der Orientierung an Globalisierung und Technologisierung ergibt. Im Kern sind es die Naturwissenschaften und die Mathematik, die sozialtechnologische Regelungen erzwingen und damit das mechanische Grundgetriebe moderner Gesellschaften bestimmen. Oswald Spengler beschreibt einen unaufhaltbaren Niedergang, gar einen Untergang unserer Zivilisation, den wir heute durch die Leistungsgesellschaft mit ihrem zentralen Motor, dem Glauben an sozialen Aufstieg durch Leistung und Digitalisierung, paradoxerweise weiter beschleunigen.
Spengler sieht eine mechanische Welt am Werk, die einem großen Uhrwerk gleicht. Nur Logik, Rationalität, Mathematik und Naturwissenschaften – Basisbausteine neuer Technologien – bestimmen für ihn die Richtung, in die hinein sich die Leistungsgesellschaft weiterentwickelt – um immer mehr Verlierer zu erzeugen. Auch die Experten und Akademiker, die mit ihren Ideen die Entwicklung vorantragen, die scheinbaren Gewinner, haben dann doch unter den Folgen ihrer Ideen zu leiden, der Zerstörung der Natur, die Folgen des Klimawandels. Die wahren Verlierer, die unteren und mittleren Schichten, jene, die den Aufstieg nicht schafften, sie finden sich in einer blockierten Situation wieder, steckengeblieben, abgehängt, was als Demütigung empfunden wird, Futter des populistischen Aufstandes.9 Deshalb ist die Gegenwart aufgefordert, gerade auch in Verantwortung für kommende Generationen, eine – wie es der Club of Rome vorschlägt – sich im Gleichgewicht befindende Zukunftsgesellschaft zu entwickeln, die das Gemeinwohl auch unter Mitbeachtung der Pflanzen und Tiere in den Mittelpunkt stellt. Dazu gehört auch, die tieferen ökologischen Ursachen der Ausbreitung von Viren zu erforschen. Angesichts der immer lauernden Pandemiedrohungen, des Klimawandels, des Artensterbens, des Ressourcenverbrauchs, aber auch mit Blick auf die Forderungen der Fridays-for-Future-Bewegung ist diese Hinwendung zum Gemeinwohl absolut angesagt.
Dazu passt auch, was Papst Franziskus im November 2020 initiiert hat: Auf einer Digitalkonferenz zum Thema The Economy of Francesco, an der mehr als 2000 junge Menschen aus 120 Ländern und auch international bekannte Wirtschaftsexperten teilnahmen, ging es darum, Ideen für eine „alternative“ Wirtschaft zu finden und zu diskutieren, „die Leben schafft und nicht tötet, die inklusiv und nicht exklusiv ist, (…) die sich um das Erschaffene kümmert und es nicht ausplündert.“10
Eine zeitgemäße Sache, könnte man meinen – die Konferenz blieb allerdings im unterschwelligen Forderungsbereich stecken, ein ökologischer Maßstab wurde nicht erkennbar: Bei allem Engagement kamen die präsentierten Ideen nicht über Appelle hinaus, es blieb die vage Hoffnung, den Startschuss für eine globale Bewegung gegeben zu haben, „die sich für eine gerechtere, nachhaltige Wirtschaftsordnung einsetzt“ – eine Forderung, die schon um 1980 nicht mehr neu war.
Auch Klaus Schwab, Gründer und Vorsitzender des World Economic Forum, meinte sich wohl an der aktuell auflebenden Suche nach Wegen in die Zukunft, angetrieben auch durch die Corona-Pandemie, beteiligen zu müssen – mit einem an sich sehr zeitgemäßen und anspruchsvollen Versuch: Durch einen sogenannten „Great Reset“11 soll die Zukunft erreichbar werden. Hier ebenso wie bei Papst Franziskus zeigt sich eine zwar starke Gegenwartsanalyse, aber, daran gemessen, handelt es sich im Kern doch eher um systemkonforme und konventionelle Lösungsansätze, immer deklariert als ein Neubeginn. So wird etwa, als Beispiel, nicht erkennbar, wie ein „Reset“ im Verhältnis von Gesundheit und Gesellschaft aussehen könnte, obwohl gerade dieses unter den Corona-Anforderungen unter Stress geraten ist. Kein Hinweis auch auf eine neue Erzählung darüber, wie die gegenwärtige Menschheitssituation unter dem Druck der Pandemie als Lernprozess für die Zukunft zu nutzen sei. Kein Wort darüber, warum der Umgang mit dem Virus zeitgeschichtlich als Potenzial gesehen werden könnte, um daraus für die Zukunft zu schöpfen.
Hier nun, in den vorliegenden Untersuchungen, werden grundlegendere Fragen aufgeworfen. Es soll gezeigt werden, dass eine Zukunftsgesellschaft längst unterwegs ist, die das Gemeinwohl unter Mitbeachtung aller Lebewesen in den Mittelpunkt stellt.
Wenn heute, was üblich ist, die Zukunftserwartung von der Digitalisierung bestimmt wird, so wäre dies eine Perspektive, die Spengler wohl teilen würde, mit der aber Gemeinwohl nicht einlösbar ist. Denn er geht davon aus, dass Zukunft nicht aus einer zu Ende gehenden Kultur ableitbar ist, „in der schöpferische Elemente, die Bildkraft, die Symbolik erloschen ist.“ Leben wir doch in einer Welt „der leeren Formeln, zwischen Gerippen von toten Systemen, in einer systemgewordenen Naturerkenntnis“, die wir, obwohl „sinnlos und wertlos, doch mechanisch beibehalten, aber verachten und als wertlos empfinden.“12
Erkennbar liefert Oswald Spengler, an Goethe geschult, mit seinem geschichtsanalytischen Blick einen kulturpessimistischen Befund dort, wo Goethe zwischen einer Orientierung am Werdenden, also am Lebendigen, und einer Orientierung am Gewordenen, also an der Mechanik, am Toten unterscheidet.3 Denn, so Spengler, „Zahlen, Formeln, Gesetze sind nichts“, „eine Zahl an sich gibt es nicht und kann es nicht geben.“ Heute, im digitalen Zeitalter, wäre die Orientierung an Algorithmen hinzuzufügen, aber es fehlt „die Angebundenheit an das Lebendige, an das lebende Menschentum.“13 „Die eigentliche Tendenz aller Mechanik geht auf eine geistige Besitzergreifung durch Messung zurück“, so Spengler, was, würde es heute formuliert, der Auflösung der Natur und des Lebendigen durch gemessene Daten – gleichsam einer „Zweiten Wirklichkeit“ – entspricht und als modern gilt, mithin Credo der mathematischen Naturwissenschaften ist, aus der permanent Maschinen hervorgehen, die uns zwingen, uns an deren Regeln anzupassen.
Um 1920 war die Zeit nicht reif, das damals wie heute herrschende naturwissenschaftlich-materialistische Bild von Mensch und Welt zu erweitern. Eindeutig war die Zyklentheorie von Spengler das zentrale akademische Diskursthema der Zeit nach 1920 in Heidelberg. Hinzu kommt damals Alfred Weber. Er und Oswald Spengler waren die zentralen Heidelberger Gesellschaftsanalytiker. Sie vor allem entwarfen das Bild einer kulturpessimistisch gegründeten Zivilisation, die allein nach mathematisch-mechanischen Gesetzmäßigkeiten funktioniere – was heute in den Algorithmen der Digital-Welt seine Steigerung findet. Die gegenwärtig formulierbare Warnung vor einem „Algorithmenfaschismus“14 entspricht konsequent der frühen Vorhersage von Spengler und Weber, wenn sie von einer untergehenden Mechanik-Gesellschaft sprachen. Heute, mit Blick auf die „Tyrannei der Leistungsgesellschaft“15, wird dies von der Digitalisierung, nunmehr technologisch hochgerüstet, weiter vorangetrieben.
Wenn Spengler davon ausgeht, dass immer wieder neue Kulturen entstehen, eine Blütezeit erleben, sich durch eine Phase des Verfalls vollenden und untergehen, dann sagt er damit nichts darüber, was diese Entwicklungen antreibt, auch nichts darüber, dass es eine durch Menschen vorangetriebene nächste, höhere Kulturstufe geben wird. Den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Leben und daraus erwachsender weiterer Entwicklung kennt er nicht. „Die Idee eines Entwicklungsziels der Menschheit verwarf er immer wieder mit Nachdruck“, so Peter Selg. Der Begriff „Menschheit“ war für Spengler ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort.
Naheliegend: er vertritt eine biologistische Betrachtungsweise, die abgrundtief zu wenig leistet. Spengler bekommt nicht in den Blick, was er bei Goethe, dem er doch so zugetan war, hätte finden können: Wissen und Erleben miteinander in Einklang zu bringen, mit beiden so umzugehen, dass eine Steigerung, etwas Neues und Wertvolleres entstehen kann. Oswald Spengler ist mit seinem starren Ansatz weit davon entfernt, überhaupt die Dimension des Lebendigen in den Blick zu bekommen. Er hat Goethe nicht verstanden. Die Steigerung bei Spengler liegt darin, dass er sein mechanisches Verständnis von Entwicklung auf die Gesellschaft überträgt, deshalb muss diese notwendigerweise untergehen, weil kein Raum für Kreativität und Lebendigkeit gegeben ist.
Eine verpasste Chance! Stattdessen unterstellt Spengler, um seine These vom Untergang des Abendlandes zu begründen, dass der geschichtliche Verlauf der weiteren menschlichen Zivilisation stets nach starren Gesetzen der Mechanik und der Mathematik ablaufen werde, also zwangsförmigen Charakter habe. Damit versäumt er, was Goethe folgend möglich gewesen wäre, nämlich gesellschaftliche Entwicklung an den Gesetzen des Lebendigen auszurichten. Indem Spengler