Antibiotika in der Zahnmedizin. Michael Hülsmann
durchgeführt (Abb. 3). Der Patient muss bereits bei dem ersten Eingriff darüber aufgeklärt werden, dass zur Sanierung der Ursache für die Infektion ein zweiter Eingriff notwendig sein kann. Eine physikalische Therapie in Form von Kühlen des infizierten Bereichs unterstützt den Rückgang der klinischen Symptome, wie z. B. Schwellung oder eine Kieferklemme. Zeigt sich eine Ausbreitungstendenz der odontogenen Infektion, können trotz adäquater Therapie oder bei verzögerter Therapie schwerwiegende Komplikationen eintreten. In der S3-Leitlinie „Odontogene Infektionen“ wird folgende evidenzbasierte Empfehlung ausgesprochen: „Um den Verlauf der Infektion widerzuspiegeln, können bei Ausbreitungstendenz und/oder Komplikationen die Messung der Mundöffnung, die Kontrolle der Körpertemperatur, des u. a. C-reaktiven Proteins und/oder der Leukozyten durchgeführt werden“11. Als lokale Komplikationen werden unter anderem die Osteomyelitis, die Sinusitis, die Orbitaphlegmone, der Abszess der Orbita und der Hirnabszess gesehen11. Zu den systemischen Komplikationen zählen unter anderem die Sepsis, die Endokarditis, die Spondylitis, die Mediastinitis, die nekrotisierende Fasciitis (Abb. 8 und 9), die Perikarditis, eine hypertensive Krise, eine respiratorische Insuffizienz, die Pneumonie, eine Thrombose der Vena jugularis, eine disseminierte intravasale Koagulation, Pleuraergüsse, cavernöse Sinusthrombosen, die renale Insuffizienz, die Pleuritis, Multiorganversagen oder das Adult Respiratory Distress Syndrome11. Liegt bei einer odontogenen Infektion eine Ausbreitungstendenz vor, unabhängig davon, ob diese ohne oder mit Komplikationen einhergeht, kann dies zu einer stationären Aufnahme der Patienten führen. Bei Vorliegen einer odontogenen Infektion mit Ausbreitungstendenz steht ebenfalls die chirurgische Eröffnung des Abzesses im Vordergrund. Insgesamt treten lokale Komplikationen häufiger auf als systemische Komplikationen und diese führen auch häufiger zu einer stationären Aufnahme der Patienten12,13. Vor allem Patienten mit Vorerkrankungen weisen ein erhöhtes Risiko für eine Ausbreitung der odontogenen Infektion und Komplikationen im Verlauf der Erkrankung auf14,15. Das Auftreten von systemischen Komplikationen kann im Vergleich zu den Patienten mit lokalen Komplikationen zu einer längeren stationären Verweildauer führen14,16,17. Systemische Komplikationen können z. B. durch eine Ausbreitung der odontogenen Infektion in das Mediastinum, in die Orbita oder das Gehirn (Abb. 10 und 11) zum Tod der Patienten führen18.
Abb. 1 Patient 1: Fossa-canina-Abszess, ausgehend von einem kariösen Zahn.
Abb. 2 Patient 1: Verstrichenes, gerötetes Vestibulum Regio 65.
Abb. 3 Patient 1: Extraktion des Zahnes 65, der die odontogene Ursache für den Fossa-canina-Abszess darstellt. Entlastung des Abszesses über eine marginale Schnittführung und Einlage einer Lasche zur Drainage, welche nach 2 Tagen entfernt wurde.
Abb. 4 Patient 2: Submandibulärer Abzess, ausgehend von dem verlagerten und retinierten Zahn 38.
Abb. 5 Patient 2: Anzeichnung des Unterkiefers und der Schnittführung zwei Fingerbreit unterhalb des Unterkiefers.
Abb. 6 Patient 2: Schnitt bis auf das Platysma. Stumpfe Präparation bis auf den Unterkiefer und Eröffnung der betroffenen Logen (pterygomandibulär, massetericomandibulär, lingual). Es entleerte sich Pus aus der Wunde.
Abb. 7 Patient 2: Im Anschluss an die Eröffnung des submandibulären Abszesses erfolgt die Einlage von Drainagen in die eröffneten Logen.
Abb. 8 Patient 3: Vorstellung des Patienten; Zustand nach Extraktion des Zahnes Regio 47 alio loco vor 5 Tagen und seit dem progredienter Schwellung pterygomandibulär. Nebenbefundlich zeigte sich der Zahn 48 verlagert und retiniert. Es zeigt sich ein perimandibulärer Abszess mit Ausbreitung in die Wange, nach temporal und nach zervikal, jugulär. Der Patient wies eine massive Rötung und druckschmerzhafte Schwellungen im Bereich der Ausbreitungsgebiete auf. Er gab an, unter starken Schluckbeschwerden und einer Kieferklemme zu leiden. Der Patient wies eine kloßige Sprache auf. Eine orale Antibiotikatherapie war durch den Hauszahnarzt mit Penicillin V erfolgt.
Abb. 9 Patient 3: Eröffnung des perimandibulären Abszesses mit Ausbreitungstendenz nach bukkal, temporal und zervikal. Die odontogene Infektion wurde zuerst in üblicher Weise von submandibulär entlastet und zusätzlich Drainagen nach temporal, in die Wange, nach zervikal jugulär und sublingual eingelegt. Die Drainageröhrchen wurden mit Nähten befestigt. Aus dem intraoperativ durchgeführten Abstrich ließen sich Parvimonas micra/Peptostreptococcus micros, Prevotella oralis, Propionibacterium acnes nachweisen. Im Verlauf entwickelte sich eine nekrotisierende Fasziitis. Der Patient wurde tracheotomiert und die nekrotischen Areale im Sinne eines Wunddebridements abgetragen und erneut eine großflächige Wunderöffnung durchgeführt. Es zeigten sich im Verlauf beidseitige Pleuraergüsse mit einer rechtseitigen eingeschränkten Ventilation, welche zu einer Pleuradrainage auf dieser Seite führte. Vorrübergehend war der Patient intensivpflichtig und wurde nach Stabilisierung wieder auf die periphere Station verlegt.
Abb. 10 Patient 4: Magnetresonanztomografie (T2-Gewichtung) eines Patienten, der vom Rettungsdienst somnolent und verwahrlost in seiner Wohnung aufgefunden wurde. Eine primäre Vorstellung fand über die Notaufnahme in der Klinik für Neurochirurgie statt. Es zeigte sich ein Hirnabszess, der im Verlauf chirurgisch entlastet wurde.
Abb. 11 Patient 4: Desolater Zahnstatus des prothetisch und konservierend nicht versorgten Patienten mit multiplen kariösen Zähnen, elongierten Zähnen, Wurzelresten, apikalen Ostitiden. Mit dem Nachweis der Bakterien aus der Streptococcus-anginosus-Gruppe und Fusobacterium nucleatum wurde der Nachweis für eine odontogene Infektion ausgehend von den desolaten, nicht erhaltungswürdigen Zähnen erbracht. Nach Stabilisierung des Patienten erfolgte eine Zahnsanierung.
In der Mundhöhle mit über 800 verschiedenen Bakterienspezies werden in den meisten Fällen Gemische aus aeroben und anaeroben Bakterien für die odontogenen Infektionen verantwortlich gemacht19,20 (Tab. 1). Teilweise liegt ein schwer vollständig erfassbares Erregergemisch vor9.
Tab. 1 Patient 4: Bei der Entlastung des Hirnabszesses wurde ein Abstrich durchgeführt. Mikrobiologisch wurden in der Kultur zahlreiche Bakterien aus der Streptococcus-anginosus-Gruppe (grampositive Aerobier) und Fusobacterium nucleatum (gramnegative Anaerobier)