Der Countertenor Jochen Kowalski. Jochen Kowalski

Der Countertenor Jochen Kowalski - Jochen Kowalski


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ist kurios: Ich fange oft hinten an bei der Lektüre solcher Bücher, denn nichts interessiert mich mehr als die Frage, was diese Künstler eigentlich gemacht haben, nachdem ihre große Zeit vorüber war. Und das ist in der Tat meist sehr spannend. Gerade habe ich die Memoiren der Sopranistin Erna Berger gelesen, AUF FLÜGELN DES GESANGES heißen sie. Das Ende ihrer Geschichte hat mich unglaublich gerührt: wie sie als 85-Jährige noch einmal an die Staatsoper Berlin, ihr früheres Stammhaus, gekommen ist und dort Ehrenmitglied wird, nach all den Jahrzehnten, die sie im Westen verbracht hat. Die »Flügel des Gesanges« haben ihr ermöglicht, selbst die blöde Mauer zu überspringen. Ich habe dieses Buch ausgesprochen gern gelesen und schätze Erna Berger ohnehin sehr: Als ich in Düsseldorf Händels Julius Caesar sang, habe ich sie sogar einmal in Essen besucht – es war ein hinreißender Nachmittag. Auch in ihren Erinnerungen erzählt sie unglaublich fesselnd aus schwierigsten Zeiten: von den ersten Nachkriegsjahren, als die Bühnen keine Subventionen bekamen, als die Leute noch nicht genug zu essen hatten und die Gesellschaft noch lange nicht den heutigen Wohlstand kannte. So etwas interessiert mich am allermeisten. Die Erna schreibt in ihrem Buch so wunderbar wenig von sich selbst und ihren Erfolgen, sie fand sich auch meist überhaupt nicht gut. Dafür schildert sie umso plastischer ihre Ängste und ihre Gefühle, als sie sich am Scheitelpunkt ihrer Karriere glaubte, als sie etwa fünfzig Jahre alt war und merkte, dass ihr die hohen Töne abhandenkamen. Mit solchen Geschichten kann ich etwas anfangen, darin erkenne ich mich zu einem Gutteil wieder.

      Und was interessiert Sie weniger?

      Bloß keine Lobhudeleien … Mich interessiert nicht, wie viele Vorhänge welcher Sänger an der Metropolitan Opera oder am Covent Garden erhielt. Auch dieses Denken à la Guinness-Buch der Rekorde – Sänger X bekam soundso viel Minuten mehr Beifall, Sänger Y zwanzig Sekunden weniger – finde ich völlig verfehlt. Und die Frage, welcher König, Minister oder Großindustrielle nach der Vorstellung zu wem in die Garderobe kam und welche Präsente überreicht hat, ist auch allenfalls für den Beschenkten von Belang. Solche Bücher lege ich gleich zur Seite. Es berührt mich unangenehm, wenn einer immer nur von sich erzählt und davon, wie großartig er gewesen sei. Bei diesen Leuten sind natürlich auch stets die andern schuld, wenn mal etwas nicht so gut läuft.

      s_11.jpg Jochen Kowalski und Susanne Stähr beim Gespräch im Schlosshotel Grunewald © Felix Feistel

      Also, worauf wollen wir uns konzentrieren? Auf Sie als Menschen und auf die Zeitgeschichte?

      Die Zeit, in der wir leben und deren Zeugen wir geworden sind, ist so turbulent und bewegend, dass sie den besten Stoff abgibt: Das Jahr 1989 ist für die meisten doch ein großer Einschnitt gewesen, für die Ostler, wie ich einer bin, natürlich noch mehr als für die Westler. Und jeder hat diesen Umbruch anders erlebt, kann ihn mit seinen eigenen Geschichten unterfüttern. Für mich jedenfalls hat sich durch den Mauerfall fast alles verändert. Es war wunderschön, aber es war auch schmerzhaft, denn letztlich habe ich doch gern in diesem kleinen Land gelebt, das einmal die DDR war. Und bis heute gibt es noch diese spezielle Ost-Identität. Wenn ich etwa im Ausland auf andere Deutsche treffe, merke ich meist ganz schnell: Na, wie der aussieht oder spricht, der müsste auch aus dem Osten kommen … Dann stellt sich noch immer das Gefühl einer Vertrautheit ein, die man kaum beschreiben kann.

      Was also soll die Prämisse sein – schonungslose Ehrlichkeit?

      Ich werd’s versuchen, auch wenn ich weiß, wie nah die Versuchung liegt, etwas frisieren zu wollen. Aber ich spreche mir jetzt selbst mal Mut zu und glaube auch, dass ich nichts zu verbergen habe.

      Dann fangen wir doch einfach an …

      Kapitel 1

      »Olle Jochen ist halt etwas verrückt«

      Eine Kindheit im Havelland

      Herr Kowalski, das Erinnerungsvermögen des Menschen setzt zu ganz verschiedenen Zeitpunkten ein. Für manche ist alles, was vor dem fünften oder sechsten Lebensjahr geschah, im Dunkel des Vergessens weggeblendet, andere dagegen warten mit erstaunlichen Gedächtnisleistungen auf. Igor Strawinsky zum Beispiel will sich sogar an seine Taufe erinnert haben, die er im zarten Alter von sechs Wochen in der Petersburger Nikolski-Kathedrale empfangen hat – es war für ihn offenkundig ein traumatisches Erlebnis … Wie sieht das bei Ihnen aus: Was sind Ihre frühesten Erinnerungen?

      An meine Taufe erinnere ich mich garantiert nicht, da kenne ich nur die Erzählungen, dass es ein schrecklich heißer Tag gewesen sein muss, irgendwann im Sommer 1954: ein Riesenfest in unserer Familie, mit vierzig oder fünfzig Gästen. Das waren alles wohlgenährte Handwerker, wir befanden uns in der DDR-Aufbruchszeit – die gab es ja wirklich. Nein, meine Taufe hat keine Erinnerungsspuren bei mir hinterlassen, da kann ich Strawinsky nur wieder einmal bewundern, nicht nur seines Gedächtnisses wegen …

      Meine ersten Erinnerungen setzen ein auf Rügen, im Sommerurlaub in Binz, wo ich mit einem Eisbären fotografiert wurde. Es war damals Mode, dass Fotografen am Strand rumliefen, mit einem Komparsen im Eisbärenfell, und mit dem wurde ich dann aufgenommen. Eine andere ganz frühe Erinnerung betrifft einen Besuch im Zoo in West-Berlin 1961, kurz vor dem Bau der Mauer. Wir hatten damals ausdrücklich gesagt bekommen, dass wir im Kindergarten nicht darüber sprechen dürften, wo wir hinfahren, sondern nur erzählen sollten, dass wir im Tierpark gewesen wären, also in Ost-Berlin – aber tatsächlich waren wir im Westen, die Grenze war ja noch offen. Vor dem Zoobesuch sind wir auch über den Kurfürstendamm und den Tauentzien spaziert, haben in die Schaufenster des KaDeWe geguckt. Ich hatte noch nie solche Auslagen gesehen! Eine Vitrine zum Beispiel war voll mit bunten Kugelschreibern – so etwas gab es bei uns nicht. Und auf dem Bürgersteig begegneten wir einer Inderin, im Sari und mit einem schwarzen Punkt zwischen den Augen – die hat mich besonders fasziniert. Ich bin immer hinter ihr hergelaufen, sie sah so toll aus …

      s_14.jpg Sommerurlaub in Binz 1957 © Privatarchiv Jochen Kowalski

      Sie stammen aus Wachow im Havelland, einem Dorf von nicht einmal 1.000 Einwohnern, zwischen Nauen und Brandenburg an der Havel gelegen. Ihr Name aber, Kowalski, weist noch weiter ostwärts, nach Polen, und leitet sich von der Berufsbezeichnung »Schmied« ab, ist also der polnische Schmidt. Kommen Ihre Vorfahren aus Polen – oder lebt dieser Strang der Kowalskis schon im Märkischen, solang die Erinnerung zurückreicht?

      Nein, meine Großeltern väterlicherseits kamen als Saisonarbeiter aus Südostpolen nach Brandenburg, sie stammten aus dem Gebiet um Kielce. Das war noch vor dem Ersten Weltkrieg, sie heuerten bei hiesigen Bauern an, um überhaupt überleben zu können. In den ersten Jahren gingen sie über Winter noch immer nach Polen zurück, aber irgendwann entschieden sie sich dafür, ganz hierzubleiben. Mein Vater Franz Kowalski jedenfalls wurde 1911 schon in Natterheide in der Altmark geboren.

      Haben Sie in Ihrer Kindheit noch die polnische Sprache zu hören bekommen?

      Aber natürlich, meine Großeltern haben miteinander nur polnisch gesprochen! Es war für sie gewiss nicht ganz einfach hier. Stellen Sie sich nur vor: Der einzige Sohn, der geliebte Franz, heiratet eine Deutsche, und diese Deutsche ist zu allem Überfluss auch noch evangelisch – ganz im Gegensatz zu den erzkatholischen Polen. Auch meine Mutter wiederum hatte es nicht leicht, in eine Familie zu heiraten, die, wenn man unter sich war, nur polnisch sprach.

      Mein Vater allerdings hatte schon früh den Drang, sich selbstständig zu machen und etwas Eigenes aufzubauen. Er ist mit vierzehn von zuhause fortgegangen, abgehauen mit dem Fahrrad, denn er wollte um keinen Preis in die Landwirtschaft. Deshalb hat er sich in die nächstgrößere Stadt aufgemacht, nach Rathenow an der Havel, und hat dort Fleischer gelernt. Und da hat er dann auch meine Mutti Katharina kennengelernt, 1934/35 war das: Sie war damals noch blutjung, Jahrgang 1919. Wenig später, 1936, haben sie schon gemeinsam in Berlin die Olympischen Spiele besucht. Als ich sie einmal fragte: Und habt ihr denn in Berlin auch zusammen übernachtet, da hat sie nur gelacht …

      Geheiratet haben die beiden allerdings erst 1941, und das war eine reichlich komplizierte Geschichte. Denn mittlerweile befanden wir uns im


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