Das Herz der Natur. Francis Edward Younghusband
Augenblick gültig ist, denn kein Mensch ist jemals zu einer wirklich endgültigen Vorstellung von der Natur gelangt, und keiner kann je dazu gelangen. Darum wird der Künstler dann und wann innehalten, um sein Bild von der Natur im Licht der reinen Vernunft zu überprüfen. Denn er wird sich wohlbewusst sein, dass weder Liebe noch Schönheit vollkommen sein können, wenn nicht die Wahrheit sie erhellt. Diese drei beieinander vereinigt zu behalten, wird sein stetes Bemühen sein.
ERSTES KAPITEL
DER SIKKIM-HIMALAJA
Der Sikkim-Himalaja ist ein Gebiet, das zum ersten Mal eingehender bekannt wurde durch die Schriften Sir Joseph Hookers, des bedeutenden Naturforschers, der es im Jahr 1848 besuchte. Es liegt unmittelbar im Osten von Nepal und kann jetzt mit einer Bahn erreicht werden, die auf dem Weg nach Darjeeling den äußeren Höhenzug ersteigt. Es ist das Quellgebiet des Tistaflusses, in dessen Haupttal eine Eisenbahn eine kurze Strecke weit aufwärtsführt; es ist daher leicht zugänglich. Für die Zwecke des vorliegenden Buches genügt die Annahme, dass es das flache offene Waldland und den grasbedeckten Strich unmittelbar am Fuß des Gebirges einschließt, der als Terai bekannt ist. Es liegt nur wenig über hundert Meter über dem Meeresspiegel, sodass die Steigung von dort bis zum Gipfel des Himalajas fast 8700 Meter auf etwa 110 Kilometer beträgt. Der tiefere Teil wird vom 26. Breitengrad durchzogen; daher herrscht dort tropische Hitze. Da ferner das Gebiet innerhalb der Bahn des vom Bengalischen Meerbusen her wehenden Monsuns liegt, macht sich in den Ebenen und in den tiefer liegenden Tälern nicht allein große Hitze geltend, sondern auch große Feuchtigkeit. Die Abhänge des Gebirges überzieht infolgedessen ein üppiger Pflanzenwuchs.
Um in dieses wunderbare Gebiet einzutreten, muss der Reisende zuerst den Ganges überschreiten, den heiligen Strom der Hindus. Große Ströme umgibt ein ganz eigener Zauber. Sie rufen in uns ein Gefühl von Ewigdauerndem, Unwiderstehlichem hervor. Über eineinhalb Kilometer breit, als tiefe, majestätische Flut, strömt der Ganges aus fernen Weiten heran, in ferne Weiten hinaus, endlos fort und fort, aus Zeitenschoß in Zeitenschoß – so gewaltig an Tiefe und Fülle, dass ihm nichts Menschliches widerstehen kann. In der trockenen Jahreszeit, bei niedrigem Wasserstand und im Sonnenglanz ist er mild und ruhevoll, sein Antlitz lächelnd und hell. Stattliche Tempel, inmitten heiliger Haine und anmutiger Palmen, blinken an den Ufern. Auf den breiten Stufen der Badetreppen sind Mengen frommer Beter versammelt in Gewändern, die in allen Farben leuchten. Der Strom erscheint gütig, heiter und Leben spendend. Seine Gewässer und sein befruchtender Schlamm haben die Armut so mancher unfruchtbaren Scholle in Fülle verwandelt, und die Bewohner seiner Ufer wissen es wohl, dass er dem heiligen Himalaja entspringt.
Jedoch nicht immer ist der Ganges so huldreichen Wesens, nicht immer erscheint er so freundlich. Zur Regenzeit geht Schrecken von ihm aus. Am Himmel jagen schwarze, gewitterhafte Wolken tagelang, wochenlang dem Gebirge zu. Von der Sonne ist kein Schimmer zu erblicken. Der Regen stürzt als Sintflut herab. Der Strom schwillt noch weiter an durch die Schneeschmelze auf dem Himalaja, und nun wälzt er sich düster und zornmütig heran. Immer höher steigt er zwischen seinen Ufern, er nagt an ihnen und droht, über sie hinauszufluten und weithin Tod und Zerstörung zu tragen. Die Menschen wandeln nicht mehr zu ihm hinab. Sie schaudern vor ihm zurück. Unruhig beobachten sie ihn, bis sich das Ungestüm seiner Kraft erschöpft hat und bis er wieder zur gewohnten wohltätigen Erscheinung geworden ist.
Kein Wunder, dass solch ein Strom als heilig gilt. Für die einfachen Leute aus dem Volk ist er buchstäblich ein lebendes Wesen, und zwar ein Wesen, das sich günstig stimmen lässt, ein Wesen, das ihnen schaden kann, wenn sie es reizen, und ihnen wohltun kann, wenn sie sich ihm angenehm machen und ihm geben, was es verlangt. Den geistig höherstehenden Hindus ist der Strom ein Gegenstand höchster Verehrung. Können sie in seinen Gewässern baden, so werden ihre Sünden fortgespült. Kann nach dem Tod ihre Asche auf seinen breiten Spiegel gestreut werden, so ist ihnen ewige Seligkeit gewiss. Vielleicht von den frühesten Tagen der Menschheit an, seit Hunderttausenden von Jahren, mögen an seinen Ufern Menschen gewohnt haben. Denn in den Wäldern längs großer Ströme, in einem warmen, gleichmäßigen Klima müssen die Menschen der Vorzeit gelebt haben. Auf seine Wasser werden sie ihre Kanus hinabgelassen haben, und sie werden ihn als ihren einzigen Verbindungsweg untereinander benutzt haben. Immer werden sie voll Liebe und ehrfurchtsvoller Scheu auf ihn geblickt haben. Neben der Sonne wird ihm als der größten Naturerscheinung ihre Aufmerksamkeit gegolten haben. Unmerklich muss der Anblick der immerwallenden Flut tiefen Einfluss auf sie geübt haben.
Diesen Strom, so wie sie ihn den größten Teil des Jahres hindurch schauten, müssen sie lieben gelernt haben. Vor dem Anblick seiner zerstörenden Kraft mochten sie wohl eine Zeit lang in banger Scheu zurückschrecken, aber mit dem Fallen der Flut, als der Strom wieder in lächelnder Ruhe friedlich an ihnen vorbeizog, war das alles vergessen.
Darum fliehen ihn die Menschen auch nicht. Sie sammeln sich um ihn. Sie erbauen große Städte an seinen Ufern und kommen von weither, ihn zu schauen. Alljährlich wallfahren sie zu Tausenden an die Stelle, wo er aus dem Himalaja heraustritt. Und selbst bis zu seinen Quellen dringen sie, weit dahinten, hoch oben in den Bergen.
Auch dem Aufgeklärtesten sollte der Ganges ein Gegenstand der Ehrfurcht sein, um seines Alters, seiner Zukunft und seiner Macht willen. Vom Spiegel des Bengalischen Meerbusens steigen unter dem Einfluss der Sonnenwärme Wasserdampfteilchen in die Atmosphäre auf. Luftströmungen tragen sie Hunderte von Kilometern weit über das Meer und über die Ebenen Bengalens hin, bis die Kälte der Himalajaberge sie sich verdichten und als Schnee und Regen niederfallen lässt. Einige indes werden weitergetragen. Sie werden in einer Höhe von mindestens 6000 Metern über den Himalaja hinweg befördert, bis sie schließlich in Tibet sich niederschlagen. Es ist eine auffallende Tatsache, dass ein Teil des Wassers im Ganges von tibetischen Flüssen stammt, die sich ihren Weg quer durch die gewaltige Gebirgskette des Himalajas gebrochen haben. Der Arunfluss zum Beispiel entspringt in Tibet und durchschneidet den Himalaja in einer tiefen Schlucht in der Gegend zwischen Mount Everest und Kantschindschanga. Diese Flüsse sind nämlich weit älter als die Berge. Ehe der Himalaja emporgehoben wurde, strömten sie schon in ihrer Bahn und höhlten ihr Bett immer tiefer, während die Berge aufstiegen und sie langsam überragten.
Ehrfurcht gebührt daher dem Ganges um seines in der grauen Vorzeit wurzelnden Alters willen. Ehrfurcht gebührt ihm, weil er auch in der Zukunft so fortströmen wird wie jetzt, durch Hunderttausende, vielleicht durch Millionen von Jahren hin. Um und um, in nie rastendem Kreislauf wird das Wasser aus dem Meer emporgehoben, es wird in den Wolken fortgetragen, fällt auf die Berge nieder und sammelt sich im Ganges, um wiederum in das Meer zu fließen. Der Strom mag alljährlich seinen Lauf ändern, indem er sich erst ins eine, dann ins andere Ufer hineinnagt. Aber fort und fort wird er strömen, so weit in die Zukunft hinein, wie menschliche Voraussicht zu reichen vermag.
Und seine Macht, dem einfachen Menschen, zeitweise selbst uns, so schreckenerregend, wird sich mehr und mehr zu einer Gutes schaffenden Kraft wandeln. Schon sind große Kanäle von dem Hauptstrom und seinen Nebenflüssen abgezweigt worden; seine Flut hat Millionen Morgen Land bewässert und dadurch reiche Ernten an Weizen und Reis, an Baumwolle, Zuckerrohr und Ölpflanzen hervorrufen helfen. Es werden Pläne erwogen, das Gefälle des Wassers auf dem Weg durch das Gebirge auszunutzen durch Umwandlung in elektromotorische Kraft, um Eisenbahnen zu betreiben und Kraft für große Industrien zu erzeugen. Wieder einmal mag der Flusslauf zur Verbindungslinie werden, wenn Wasserflugzeuge in Aufnahme kommen, die von Stadt zu Stadt fliegen und auf dem Strom niedergehen.
Wenn wir so zur Erfassung der vollen Bedeutung des Stromes gelangen, bleibt uns der Eindruck seiner ewigen Dauer und seiner unwiderstehlichen Gewalt. Aber unsere Furcht vor ihm ist geringer. Er ist, das fühlen wir, zu gemeinsamer Arbeit mit uns bereit, er ist fähig, sich behandeln und leiten zu lassen. Seine Macht ist in der Hauptsache nicht zerstörend, sondern wohltätig. Fast unerschöpflich ist sein Vermögen, Pflanzen, Tieren und Menschen zu helfen; er ist uns ein Freund und er ist bestrebt, uns zu helfen.
Mit vollem Recht haben die Hindus ihn von jeher verehrt. Ihre Verehrung mag, bei der Üppigkeit der Tropen, sich zum Übermaß entwickelt haben; das unbewusste Gefühl jedoch, das ihr zugrunde lag, war durchaus gesund. Der Strom birgt in seinem Schoß Eigenschaften von hoher Leben spendender Kraft, und in seiner