Weihnachtserzählungen. Charles Dickens
einmal jetzt. Obwohl er dem Gespenst durch und durch schauen konnte und es vor sich stehen sah, obwohl er sich von seinen Augen, die kalt wie der Tod waren, durchschauert fühlte und sogar das Gewebe des zusammengefalteten Taschentuchs bemerkte, das es um Kopf und Kinn geknüpft trug und das er vorher nicht an ihm bemerkt hatte, war er doch immer noch ungläubig und wehrte sich gegen seine eigenen Sinne.
»Was gibt’s? –« rief Scrooge scharf und eisig wie immer. »Was hast du mit mir zu schaffen?«
»Viel!« Marleys Stimme – ganz zweifellos.
»Wer bist du?«
»Frag lieber, wer ich war!«
»Wer warst du also?« forschte Scrooge mit erhobener Stimme. »Du bist recht wunderlich – für ein Gespenst.« Er wollte schon sagen »als Gespenst«, setzte aber »für« ein, weil es ihm passender schien.
»Zu Lebzeiten war ich dein Partner, Jakob Marley.«
»Kannst du – kannst du dich setzen?« fragte Scrooge mit einem zweifelnden Blick.
»Gewiß.«
»So tu’s!«
Scrooge stellte diese Frage, weil er nicht wußte, ob ein so durchsichtiges Gespenst imstande sei, einen Stuhl einzunehmen, und fühlte, daß seine etwaige Unfähigkeit eine sehr unangenehme Erklärung nötig mache. Aber der Geist nahm auf der entgegengesetzten Seite des Kamins Platz, als wäre er ganz daran gewöhnt.
»Du glaubst nicht an mich!« bemerkte der Geist.
»Nein«, antwortete Scrooge.
»Welchen Beweis meiner Echtheit möchtest du haben außer dem Zeugnis deiner Sinne?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Scrooge.
»Warum mißtraust du deinen Sinnen?«
»Weil eine Kleinigkeit sie verwirren kann«, versetzte Scrooge. »Eine kleine Magenverstimmung macht sie zu Betrügern. Du kannst einen unverdauten Bissen Fleisch, ein wenig Senf, eine Käserinde, ein Stückchen halbrohe Kartoffel zum Ursprung haben. Was du auch seist – eher stammst du doch aus der Speisekammer als aus der Grabkammer!«
Scrooge war nicht gewohnt, Witze zu machen, und fühlte sich auch jetzt keineswegs zum Scherzen aufgelegt. In Wahrheit versuchte er nur launig zu sein, um sich abzulenken und die Furcht niederzukämpfen. Denn die Stimme des Gespenstes durchwühlte ihm selbst das Mark in den Knochen.
Nur einen Augenblick diesen starren, erloschenen Augen stumm gegenüberzusitzen würde ihn, das fühlte er, verrückt machen. Auch lag etwas Grauenhaftes darin, daß das Gespenst etwas wie Höllenluft um sich hatte. Scrooge fühlte sie zwar nicht selbst, aber es war sicherlich der Fall; denn obgleich der Geist vollkommen regungslos dasaß, wurden doch Haar, Quasten und Rockflügel wie von dem heißen Luftstrom eines Ofens stets bewegt.
»Siehst du diesen Zahnstocher?« fragte Scrooge, indem er aus den eben genannten Gründen rasch wieder das Wort nahm, um, sei es auch nur für eine Sekunde, den eisigen Blick des Gespenstes von sich abzuwenden.
»Ja«, versetzte der Geist.
»Du blickst ja nicht darauf hin!« rief Scrooge.
»Aber ich sehe ihn trotzdem«, versicherte der Geist.
»Nun denn«, versetzte Scrooge, »ich brauche ihn nur zu verschlucken, um für den Rest meines Lebens von einer Legion von Kobolden verfolgt zu werden, die sämtlich meine eigenen Geschöpfe sind. Possen! sag ich dir, lauter Possen!«
Bei diesen Worten stieß das Gespenst einen gräßlichen Schrei aus und rasselte mit seinen Ketten so greulich betäubend, daß sich Scrooge an seinem Stuhl festhalten mußte, um nicht in Ohnmacht zu sinken. Aber um wieviel größer ward noch sein Schrecken, als das Gespenst die Binde, die es um den Kopf trug, abnahm, als sei sie ihm im Zimmer zu warm, und sein Unterkiefer auf die Brust herabsank.
Scrooge fiel auf die Knie nieder und schlug die Hände vors Gesicht.
»Gnade!« rief er. »Schreckliche Erscheinung, warum quälst du mich?«
»Mensch mit dem weltlichen Sinn!« versetzte der Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«
»Ich glaube«, rief Scrooge, »ich muß glauben. Aber warum wandeln Geister auf der Erde und warum kommen sie zu mir?«
»Es wird von jedem Menschen gefordert«, antwortete das Gespenst, »daß seine Seele umherwandere unter den andern Menschen und große, weite Reisen tue; und macht er sie bei Lebzeiten nicht, so wird er verdammt, es nach dem Tod zu tun. Er ist verurteilt, durch die Welt zu wandern und – weh mir! – mit anzusehen, was er nicht mehr genießen darf, aber auf Erden hätte genießen und zu seinem Glück hätte wenden können.«
Wieder stieß das Gespenst einen Schrei aus, klirrte mit seiner Kette und rang seine Schattenhände.
»Du trägst Fesseln?« fragte Scrooge zitternd; »sag mir warum.«
»Ich trage die Kette, die ich in meinem Leben geschmiedet habe«, antwortete der Geist; »ich habe sie Glied um Glied und Elle um Elle geschmiedet, sie mir aus freien Stücken umgelegt und sie freiwillig getragen. Sind dir ihre Glieder fremd?«
Scrooge zitterte immer mehr.
»Willst du wissen«, fuhr der Geist fort, »wie schwer und lang die starke Kette ist, die du selbst trägst? Vor sieben Weihnachtsabenden war sie ebenso schwer und ebenso lang wie diese. Seither hast du noch an ihr gearbeitet; es ist eine gewichtige Kette geworden.«
Scrooge sah um sich her zu Boden, als erwarte er, sich von fünfzig oder sechzig Klaftern Eisenkette umgeben zu finden; allein er vermochte nichts zu sehen.
»Jakob!« rief er bittend, »alter Jakob Marley! Sag mir mehr! Sprich mir Trost zu, Jakob!«
»Ich kann keinen geben«, versetzte der Geist; »er kommt aus anderen Bereichen, Ebenezer Scrooge, und wird von anderen Boten andersgearteten Menschenkindern gereicht. Auch darf ich dir nicht sagen, was ich sagen möchte; nur noch ein wenig mehr als dies ist mir erlaubt. Ich darf nicht ruhen, nicht bleiben, nirgendwo zögern. Nie hat mein Geist die Schwelle unseres Kontors überschritten. Versteh mich wohl! Bei Lebzeiten überschritt mein Geist nie die engen Grenzen unserer Geldwechslerhöhle, und mühsame Reisen stehen mir bevor!«
Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich wurde, die Hände in die Hosentaschen zu stecken; als er jetzt des Geistes Worte erwog, machte er es ebenso, aber ohne den Blick zu heben noch sich von den Knien aufzurichten.
»Du mußt aber recht langsam gewesen sein, Jakob«, bemerkte Scrooge im Geschäftston, wenn auch demütig und rücksichtsvoll.
»Langsam?« wiederholte der Geist.
»Sieben Jahre tot, und die ganze Zeit auf Reisen?« murmelte Scrooge.
»Die ganze Zeit«, bestätigte der Geist. »Ohne Rast, ohne Frieden, unaufhörlich von Gewissensbissen gequält.«
»So reist du schnell?« fragte Scrooge weiter.
»Auf den Schwingen des Windes«, versetzte der Geist.
»Da hättest du in sieben Jahren große Strecken zurücklegen können!« meinte Scrooge.
Als der Geist das hörte, stieß er abermals einen Schrei aus und klirrte mit seiner Kette so entsetzlich durch die Totenstille der Nacht, daß der Nachtwächter das Recht gehabt hätte, ihn wegen nächtlicher Ruhestörung anzuzeigen.
»Oh!« rief das Gespenst, »gefangen, gebunden, doppelt in Eisen bist du und weißt nicht, daß für diese Erde Jahrhunderte unausgesetzten Leidens der unsterblichen Wesen in die Ewigkeit versinken müssen, ehe alles Gute erfüllt ist, das sie aufnehmen kann. Weißt nicht, daß jede christliche Seele, die in ihrem kleinen Kreis, wie immer er sei, mildtätig wirkt, ihr irdisches Leben zu kurz findet für die ausgedehnten Möglichkeiten, nützlich zu sein. Weißt nicht, daß keine noch so lange Reue die versäumten Gelegenheiten eines Lebens aufwiegen kann! So einer war ich! Oh, so war ich!«
»Aber du bist stets ein