Fürstenkrone 11 – Adelsroman. Viola Larsen
gar vor Fernweh.«
»Darum geht es gar nicht«, begehrt Rulle auf. »Es geht darum, dass zwei Menschen wie Sie und der Chef einfach nicht das Recht dazu haben, ihre Kunst ganz für sich allein zu behalten.«
»Vielleicht«, sagt Fürst Wolfhart langsam, »vielleicht werden wir doch wieder einmal ein Konzert geben. Was meinst du dazu, Sabrina?«
»Ich bin nur damit einverstanden, wenn wir nie zu lange von zu Hause fortbleiben«, antwortet sie leise und zieht Wolfharts Hand an ihre Wange.
Rulle zieht sich daraufhin still zurück, denn er hat das deutliche Empfinden, dass er jetzt vollkommen überflüssig ist. Fürst Wolfhart lächelt ihm nach, dann zieht er innig Sabrinas zarte Gestalt an sein Herz.
»Nun ist alles gut«, sagt er ruhig und fest. »Wir sind für immer vereint, und schon in wenigen Wochen werden die Hochzeitsglocken läuten. Ich habe dich lieb, Moorprinzesschen, sehr, sehr lieb!«
Sabrina schmiegt sich zärtlich an ihn. »Wir werden beide nie mehr einsam sein«, erwidert sie glücklich, »auch dann nicht, wenn wir einmal in der Fremde sind. Wir haben unsere wahre Heimat gefunden, Liebster, du in meinem und ich in deinem Herzen.«
Während sich draußen unzählige Hände regen, um das düstere Moor zu zähmen und fruchtbares Land zu schaffen, und während drinnen im Schloss zwei Liebende ein inniges, seliges Wiedersehen feiern, hisst der alte Sönke die Fahne.
Seine Augen leuchten glücklich dabei, und mit seinem heiteren Lächeln gibt er das kostbare Tuch dem Spiel des Windes preis.
Langsam entrollt sich die Fahne, und über den kupfernen Zinnen des Moorschlosses erhebt sich zum Zeichen dafür, dass die Schatten der Vergangenheit endgültig überwunden sind, das Wappen der Fürsten von Ravenhill – der silberne Falke über gekreuzten Degen.
Gräfin Coletta Tihany stand vor dem hohen goldumrahmten Spiegel und warf einen letzten kritischen Blick über ihre schlanke Gestalt im schwarzen Nachmittagskleid, dessen einziger wertvoller Schmuck die dreireihige rosaschimmernde Perlenkette war, die ihr verstorbener Mann ihr noch vor wenigen Wochen geschenkt hatte.
Vor drei Minuten hatte ihr Kammerdiener Ludwig gemeldet, dass ihr Stiefsohn Sandor gekommen sei, den sie vor ein paar Tagen telegrafisch vom Tod seines Vaters benachrichtigt hatte.
Während Graf Sandor im Empfangssalon auf sie wartete, stand sie hier im eleganten Ankleidezimmer und versuchte, eine würdevolle Haltung einzunehmen.
Seit zehn Jahren hatte sie ihren Stiefsohn nicht gesehen. Damals war Sandor siebzehn gewesen und hatte auf der exklusiven Universität von Cambridge studiert, wohin ihn sein Vater geschickt hatte.
Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war damals schon sehr gespannt gewesen und hatte den endgültigen Bruch bekommen, als sie kurz nach dem Tod von Sandors Mutter als neue Herrin ins Schloss Tihany einzog. Von diesem Tag an gab es nur noch einen kühlen und kurzen Schriftwechsel zwischen Vater und Sohn. Sandor war dann nach seinem Studium nach Kanada gegangen, und die Verbindung war ganz abgerissen.
Gräfin Coletta war nicht ganz unschuldig daran, das wusste sie, und auch jetzt wäre ihr lieber gewesen, wenn der Stiefsohn ferngeblieben wäre. Aber es wäre unverantwortlich gewesen, ihn nicht vom plötzlichen Tod seines Vaters zu unterrichten und sein Kommen zu erbitten.
Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie war dreißig Jahre alt, und sie sah sehr gut aus. Sandor musste jetzt siebenundzwanzig Jahre alt sein. Wenn noch keine andere Frau sein Herz erobert hatte, konnte es ihr doch nicht schwerfallen, ihn um den Finger zu wickeln.
Im Empfangssalon, einem Raum mit dunkelgrünen Samtportieren und einer sonnengelben Sesselgarnitur, ging Graf Sandor Tihany ungeduldig auf und ab.
Mit Befremden hatte er die neue Adresse seiner Stiefmutter zur Kenntnis gekommen. Und mit dem gleichen Befremden war er hier in diesem kleinen Palais erschienen, das in der vornehmsten Gegend der Stadt lag, umgeben von einem großen Garten, der von hohen Eisengittern umzäunt war.
Gedankenverloren starrte er auf verschiedene Gegenstände, die ihm seltsam bekannt vorkamen. Dann wurde ihm ganz plötzlich bewusst, dass dies alles Dinge waren, die ihm aus der Kindheit und frühen Jugend vertraut waren. Alle diese Gegenstände hatten damals Schloss Tihany geziert, in dem er großgeworden war. Die vergoldete Rokokouhr hatte ihren Platz auf dem Marmorkamin im Salon seiner geliebten Mutter gehabt, das Gemälde von Degas hatte im Musikzimmer gehangen, und der riesige Bronzeleuchter hatte in der Halle gestanden.
Wie war sein Vater dazu gekommen, diese Gegenstände aus Tihany zu entfernen und sie hier in seinem neuen Palais aufzustellen? Oder hatte seine Stiefmutter das veranlasst?
In seine Gedanken hinein öffnete sich beinahe lautlos die Tür, und Gräfin Coletta trat ein.
Sie hatte ein Taschentuch in der Hand und hielt es sekundenlang gegen ihre Lippen, als ob sie einen schmerzlichen Aufschrei unterdrücken wollte. Ihre ganze Miene drückte tiefe Trauer aus. Einige Momente stand sie da und musterte Sandor, wobei sie feststellte, dass er ein ausgesprochen schöner Mann geworden war. Dann ging sie schwankend auf ihn zu und sank ihm mit einem Wehlaut an die Brust.
Graf Sandor war derart überrascht, dass er wie gelähmt dastand, ehe er ein paar beruhigende Worte murmeln konnte. Er fasste seine Stiefmutter sanft an den Armen und schob sie etwas zurück, denn die Berührung war ihm sehr peinlich.
»Bitte«, sagte er leise, aber eindringlich, »fassen Sie sich, Gräfin.«
Sie hob den Kopf und starrte ihn an.
»Aber, Sandor, warum redest du mich mit Sie an? Das darfst du nicht tun! Es ist entsetzlich genug für mich, jetzt allein zu sein.«
»Ich habe nie das Du gebraucht«, erwiderte er, »wir sind uns fremd. Ich entsinne mich, dass auch Sie nie den Wunsch äußerten, mich mit Du anzureden.«
»Ach, das war damals«, entgegnete sie mit einer wegwerfenden Geste, »da warst du auch so abweisend zu mir. Vergessen wir das alles, bitte! Der Schmerz um deinen Vater, meinen geliebten Gatten, muss uns vereinigen. Ich bin so froh, dass du da bist.«
Ihre Augen hingen an seinem rassigen Gesicht mit den graublauen Augen und dem dunklen Haar.
»Du bist allein gekommen, Sandor. Bist du nicht verheiratet oder verlobt?«
Sein braungetöntes Gesicht verfinsterte sich leicht.
»Ich hatte wenig Zeit, mich nach einer passenden Lebensgefährtin umzusehen. Und eine leichtfertige Wahl kann ich nicht treffen, denn ich bin nicht mit Reichtümern gesegnet.«
Sie lachte leise auf, sah seinen erschreckten Blick und wurde sofort wieder ernst.
»Du bist doch nicht arm«, meinte sie und fasste nach seinem Arm. »Komm, ich werde dir das schönste Gästezimmer des Hauses zeigen! Dort machst du dich etwas frisch, und dann essen wir eine Kleinigkeit, ja?«
»Wo ist mein Vater aufgebahrt?«, fragte er dumpf.
»In der Friedhofskapelle natürlich. Dorthin fahren wir später. Ach, es war entsetzlich für mich! Ich war so allein. Nie hätte ich geglaubt, dass Stefan mich so früh verlassen würde.«
Graf Sandor sah seine Stiefmutter prüfend an. Sie war immer noch sehr hübsch, ja, beinahe auffallend reizvoll. Das Schwarz stand ihr gut, und ihr dunkles, schimmerndes Haar lag in weichen Wellen um den Kopf. Sie gefiel ihm besser als damals. Oder lag es daran, dass der Tod seines Vaters ihn versöhnlicher stimmte?
Sie schien wirklich sehr um den Vater zu trauern.
»Sie hätten bedenken müssen, dass mein Vater fünfundzwanzig Jahre älter war als Sie.«, sagte er sanft.
»Warum kannst du dich nicht an das Du gewöhnen«, entgegnete sie, während sie seinen Arm festhielt und ihn hinausführte. »Lass uns gute Freunde sein und den alten Hader vergessen.«