Sophienlust Bestseller Staffel 1 – Familienroman. Marietta Brem
ihn, und als er genauer darüber nachdachte, stellte er fest, daß es das Kind war, das sie erwartete. Vielleicht war sie doch gebunden, oder der Mann hatte sie einfach sitzenlassen.
»Hat Agnes keine Eltern mehr?« fragte er, nur um das Schweigen zu unterbrechen. Das Kind hüpfte singend vor ihnen her.
»Die Mutter ist vor einigen Monaten an Blutkrebs gestorben. Den Vater kennt man nicht. Frau von Schoenecker hat die Kleine aus Murrhardt geholt. Übrigens finde ich, daß Agnes ein wenig Ähnlichkeit mit Ihnen hat. Sie ist ebenso ein südländischer Typ mit schwarzen Haaren und blauen Augen. Man könnte sie für Ihre Tochter halten.«
Manfred lachte gekünstelt auf.
»Sie machen Scherze«, sagte er dann und räusperte sich. »Wie alt sagten Sie ist die Kleine?« Ein leiser Verdacht stieg in ihm auf, den er aber immer wieder weit von sich schob. Diese Ähnlichkeit, auf die Sabine eben angespielt hatte, war ihm selbst auch schon aufgefallen.
»Fünf wird sie, die kleine Agnes. Wir alle mögen das Kind. Sie ist übrigens genauso lange in Sophienlust wie ich. An dem Tag, als Frau von Schoenecker Agnes aus Murrhardt abholte, traf sie auch auf mich.«
»Waren Sie etwa auch heimatlos?« Mitleidig schaute der Mann auf den schimmernden Haarschopf des Mädchens, das er ein ganzes Stück überragte.
»Heimatlos? Ja, so könnte man es nennen. Mein Verlobter kam zwei Tage vorher bei einem Unfall ums Leben, und ich hatte nicht einmal mehr Gelegenheit, ihm zu erzählen, daß er Vater werden würde. Aber... warum erzähle ich Ihnen das alles? Sie sind ja ein Fremder, und außerdem interessiert es Sie bestimmt nicht.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Manfred und blieb plötzlich stehen. »Sagen Sie, Sabine, ich... würde Sie gern etwas fragen. Aber bitte, fassen Sie es nicht als Neugierde auf.«
»Fragen Sie ruhig, Manfred. Ich habe Ihnen ohnehin schon mehr von mir erzählt, als ich eigentlich wollte. Da kommt es darauf nun auch nicht mehr an.«
»Wie gut kennen Sie Volker Eckstein?«
»Überhaupt nicht. Er ist der Vater eines Jungen, der hier bei uns lebt.« Sabine schaute den Mann verständnislos an. »Warum möchten Sie das wissen?«
»Aber... er hat Sie doch gestern nachmittag umarmt. Ich habe es selbst gesehen.«
»Gestern?« Das Mädchen furchte die Stirn und schien nachzudenken. »Dann waren Sie gestern also schon einmal hier. Mit Ihrer Bekannten?«
»Ja«, gab Manfred zu. Hoffentlich fragte sie nicht weiter. Aber Sabine tat ihm nicht den Gefallen.
»Warum habe ich Sie dann nicht gesehen? Um welches Kind handelt es sich eigentlich? Soviel ich weiß, sind außer den Dauerkindern, die ständig hier leben, nur noch Agnes und Peter Eckstein hier. Peter bekommt jeden Abend Besuch von seinem Vater, und Agnes Müller hat keine Angehörigen mehr.«
»Müller?« echote Manfred verblüfft. »Die Kleine heißt Müller mit Nachnamen?«
»Ja. Ist das so außergewöhnlich?« Sabine nahm das Mädchen bei der Hand. »Wir gehen jetzt wieder hinein, Agnes. Es wird schon kühl«, sagte sie dann zu dem Kind.
»Nein, eigentlich nicht«, mußte Manfred zugeben und schalt sich selbst einen Phantasten. Warum nur mußte er ausgerechnet jetzt an Gisela denken? Etwa weil sie auch Müller hieß?
Er hatte damals, als sie sich so abrupt von ihm getrennt hatte, lange versucht, nach ihrem Verbleiben zu forschen, aber er hatte sie nicht mehr gefunden. Und dann war er eigentlich auch ganz froh gewesen, daß er seine Freiheit wieder genießen konnte.
Sicher war Gisela längst verheiratet und Mutter einer Schar von Kindern, für die sie sorgen konnte. Das war ja immer ihr Traum gewesen, an das erinnerte sich Manfred noch ganz genau.
»Ich muß jetzt mit Agnes hineingehen«, riß ihn Sabine aus seinen Erinnerungen.
Wie erwachend kehrten die Gedanken des Mannes in die Gegenwart zurück.
»Sie können gerne mit hineinkommen, wenn Sie möchten. Drinnen ist es wärmer«, sagte sie mit einem schelmischen Lächeln. Nicht einmal vor sich selber wollte Sabine zugeben, daß sie sich ungern von dem Fremden trennen wollte.
»Nein, danke, ich warte lieber hier. Sicher kommt meine Bekannte bald.«
Sabine zuckte etwas hilflos die Schultern. »Sag schön auf Wiedersehen, Agnes.«
Das Mädchen machte einen kleinen Knicks, und Manfred mußte lachen. »Daß es das heute noch gibt«, sagte er überrascht.
»Darf ich dir jetzt auch noch einen Kuß geben?« fragte die Kleine und stellte sich schon auf Zehenspitzen.
Ohne lange zu überlegen bückte sich Manfred und legte sogar für einen Augenblick den Arm um das kleine Mädchen, das ihm einen schmatzenden Kuß auf die Wange drückte.
Seltsamerweise empfand er es sogar als ausgesprochen angenehm, ja, er war gerührt von der Anhänglichkeit des Kindes. Es fiel ihm schwer, Agnes und Sabine zu verlassen, obwohl er sie vor kaum einer Stunde erst kennengelernt hatte.
»Ich... am liebsten würde ich wieder herkommen«, sagte er ein bißchen verlegen, als er Sabine zum Abschied die Hand reichte. Er konnte sich von dem warmen und klugen Blick ihrer grauen Augen kaum losreißen.
»Und warum tun Sie es dann nicht?« Sabine Kroffs Stimme klang ein bißchen atemlos.
»Darf ich denn?« Manfred merkte, wie einfältig seine Worte klangen. Und er merkte noch etwas. Nämlich, daß etwas in ihm vorging, was er noch nie erlebt hatte. Sollte das die Liebe sein?
Wie in Trance ging er die Freitreppe wieder hinunter. Er sah nicht mehr, daß ihm Agnes noch nachwinkte, und er hatte auch Marga Eckstein total vergessen. Er dachte auch nicht an sie, als er bereits in seinem Auto saß und in Richtung Maibach fuhr.
Seine Gedanken beschäftigten sich nur mit zwei Menschen: mit der blutjungen Sabine, die von einem toten Mann ein Kind erwartete, und mit dem kleinen Mädchen, dessen dunkles Lockenköpfchen zärtliche Gefühle in ihm wachrief.
Daß dieses Mädchen mit Nachnamen Müller hieß, konnte ja auch ein Zufall sein. Oder doch nicht?
Manfred umklammerte das Lenkrad so fest, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Wenn dieses Mädchen tatsächlich Giselas Tochter war, dann...
Aber daran wagte Manfred Brecht gar nicht zu denken.
*
»Kommst du bald wieder, Mutti?« Erfolglos kämpfte Peter mit den Tränen, als sich Marga Eckstein von ihrem Sohn verabschiedete.
»Natürlich, mein Kleiner. Jetzt bin ich wieder da. Ich werde mir in Maibach eine kleine Wohnung suchen. Vielleicht darfst du dann an den Wochenenden zu mir kommen. Aber das muß ich noch mit Frau von Schoenecker klären.« Marga wußte nicht, wie sie den Jungen trösten sollte.
»Großes Ehrenwort?« Peter konnte noch immer nicht glauben, was ihm seine Mutter da versprach. Zu sehr hatte ihre überstürzte Flucht sein kindliches Vertrauen zerstört.
»Großen Ehrenwort, Peter«, versprach die Frau immer wieder. Ihre Schuldgefühle wuchsen ins Unermeßliche, und am liebsten hätte sie ihren Sohn gleich mitgenommen. Aber das ging natürlich nicht, das wußte sie ganz genau.
»Wenn du noch eine Weile wartest, dann kannst du Vati auch gleich begrüßen«, begann der Junge hoffnungsvoll.
Erschrocken zuckte Marga zusammen. Bloß das nicht, dachte sie entsetzt und griff hastig nach der Türklinke. »Das... Tut mir wirklich leid, Peter, aber jetzt muß ich mich etwas beeilen. Wenn es irgendwie geht, dann komme ich morgen wieder.« Wie von Furien gehetzt stürmte sie die Treppe hinunter.
»Ach, da bin ich aber froh, daß ich Sie noch treffe, Frau Eckstein. Schwester Regine hat mich verständigt, daß Sie da sind, und daraufhin habe ich mich gleich ins Auto gesetzt und bin herübergefahren. Mein Name ist Denise von Schoenecker. Ich bin die Verwalterin dieses Kinderheims, das eigentlich meinem Sohn gehört. Und Sie sind Peters