Vergiftete Zeit. Fahimeh Farsaie

Vergiftete Zeit - Fahimeh Farsaie


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fühlte, dass die Erkenntnis der ausweglosen Hilflosigkeit und des Elends jener wehrlosen Jungen sein Herz durchzuckte. Er deckte das Nest sorgfältig mit Stroh und Reisig zu und ging vom Fenter weg, um das wehmütige Gepiepse der Jungen nicht zu hören, das in seinen Ohren wie eine zutiefst traurige und fast menschliche Stimme klang. Eine verwirrende Schwermut überschattete sein Gesicht. Noch viel später sagte er seinem Freund: »Ich weiß nicht, ob diese Wildtauben letztendlich in ihr Nest zurückgekehrt sind oder nicht.«

      Die Kugel, die so viel Aufregung im Haus erregt hatte, war in Wirklichkeit nicht von dem Revolutionswächter abgefeuert worden, sondern hatte sich von selbst gelöst. Und dieser Schuss brachte, abgesehen von jenem zügellosen Getöse, noch etwas Lautloses mit sich. Er brachte den dicken Revolutionswächter in die Welt der Realität zurück: Es war eine Welt, in der es nicht die geringste Möglichkeit für ihn gab, seine »kämpferischen Fähigkeiten« unter Beweis zu stellen, verheimlichte mit vorgetäuschtem Charme die Wahrheit vor den anderen und ließ sie den Vorfall nach ihren eigenen Vorstellungen auslegen. Unter der Vielfalt der Auslegungen und Interpretationen verblasste allmählich das lebendige Bild, das sich von jenem unbeabsichtigten Vorfall in seinen Gedanken eingeprägt hatte. Er, die einzige Person, die über die Umstände des Geschehens Bescheid wusste, vergaß völlig, dass er in dem Moment, in dem er den Doktor am Hals gepackt und in Nedas Zimmer gestoßen hatte, von einem grellen Licht geblendet wurde, das nur kurz in Marals Zimmer aufgeleuchtet und sofort wieder erloschen war. Der Revolutionswächter entsicherte seine Waffe, hielt sie schussbereit, lehnte sie an die Wand und schlich seitlich in Marals Zimmer. Sein Herz pochte wahnsinnig. Er fühlte dicke Schweißperlen an seiner Wirbelsäule, in den Achselhöhlen und auf seinen glatten, glänzenden, roten Ohrläppchen. Er wusste nicht, warum ihm so mulmig zumute war. Seine Gedanken waren verworren. Ihm schien, als wühlten Tausende von Ameisen in seinem Kopf. Sein Atem stockte, und sein Kopf war sehr schwer geworden. Ein bitterer Geschmack brannte ihm im Hals. Als später der Kommandant die Tür des Schlafzimmers hinter ihm schloss, setzte er sich aufs Bett, schlug mit der Handfläche an seine Stirn und fragte: »Oh, Gott! Was war bloß los mit mir?« Er fühlte sich zum Heulen elend.

      Der dicke Revolutionswächter hatte noch nicht zum Sprung ins Zimmer angesetzt, als der Schein jenes grellen Lichts seine Lider zittern ließ. Es kam ihm so vor, als halte eine unsichere Hand die breite, glänzende Klinge eines Schwertes einen Augenblick lang in die Sonne. Er zögerte nicht mehr. Er war gerade hochgesprungen und hatte sich in der Luft mit dem ganze Körper halb gedreht, als seine schweißnassen Achselhöhlen unwiderstehlich zu jucken begannen. Während er wie ein schwerer Sack in der Türangel landete und seine Augen im Raum kreisen ließ, um die Lage des Zimmers auf einen Blick zu erfassen, rieb er mehrmals hastig und aufgeregt die Arme an den Seiten, um jenes lästige Jucken zu lindern. Er versuchte sich einzureden, dass es idiotisch sei, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, die sich nur ihm alleine bot.

      »Sei nicht so feige, zitter nicht so, du fetter Taugenichts! Niemand nimmt dich sonst ernst.«

      »Diese Chance musst du alleine nutzen!«

      »Sei eisern! Denk nicht an das verdammte Jucken. Spring vor!«

      Er musste seine Geschicklichkeit und seine Fähigkeit unter Beweis stellen.

      »Beeil dich! Zögere nicht mehr länger! Sonst bekommen die anderen Wind davon und nehmen dir diese Chance weg! Willst du nicht Kommandant werden? Willst du nicht Kühlschrank und Waschmaschine bekommen? Beweg dich doch, du verdammtes Miststück! Setz deinen Arsch in Bewegung!«

      Der Revolutionswächter machte, ängstlich und zitternd, einen Schritt nach vom. Niemand war im Zimmer. Während er mit dem Zeigefinger den Schweiß von der Stirn wischte und mit einem Gefühl von Abscheu jene klebrigen Tropfen an die Wand spritzte, sah er hinter die Tür und stellte fest, dass er in demselben lieblosen und schmähenden Ton mit sich gesprochen hatte, in dem sein Vater immer mit ihm sprach. Vor Wut knirschte er mit den Zähnen. Er trat gegen die Tür, und während er sein großes kariertes Taschentuch aus seiner Hosentasche herausholte, spuckte er voller Hass und Zorn auf den beigefarbenen Teppichboden und sagte: »Scheiße! Scheiße auf diese Welt!«

      Im selben Atemzug löste sich die Kugel aus der entsicherten Waffe. Blitzschnell und zischend flog die Bleikugel in einem Augenblick mitten durch den Spiegel, der im Zimmer vor der Tür stand, ließ ihn wie Sonnenstrahlen zerbersten, drang durch das rechte Auge der Beethoven-Plastik, die auf einem hohen Sockel stand, und zerschmetterte sie. Sie durchbohrte dann die Gitarre, die an zwei unsichtbaren Fäden von der Decke hing, schleuderte sie hoch und ließ sie auf den Boden knallen. In dem Moment, in dem die Kugel pfeifend über das Nest der Wildtauben raste, zersplitterte die Scheibe des halboffenen Fensterflügels, der sich in einer leichten Brise bewegte, und verschwand schließlich im endlosen Horizont. Der leere Aluminiumrahmen des Fensters erzitterte kurz und stand für einen Moment direkt im Sonnenlicht. Er glänzte wie die glatte, breite Klinge eines Messers.

      Der Revolutionswächter saß in der silbergrauen Luft der Dämmerung im Vorraum zum Geschäft des Hadjis, hielt sein heißes Teeglas in der Hand, schlürfte geräuschvoll den Tee und sagte zu dem Hadji: »Ich schwöre bei deinem gesegneten Kopf, dass dieser Doktor, dieser ausgekochte Spion, abgehauen wäre, wenn ich nicht gewesen wäre! Ich schwöre es beim Imam selbst!«

      Später wiegte der Hadji den Kopf und sagte zu Mehri: »Ich wollte ihm auf der Stelle mit dem Abakus auf den Schädel hauen. Der log ja am laufenden Band, fabrizierte lauter Unsinn, aber ich sagte mir, dass er im Grunde auch nur ein elender Hund ist, eine arme Kreatur. Ich sagte in unserer Moschee, dass sie ihm einen dreizehn Fuß großen Kühlschrank geben sollten, er wollte ja sonst keine Ruhe geben. Abgesehen davon, kann man solche Leute immer wieder gebrauchen! Ist es nicht so, Frau?«

      Dann steckte er den Brief, den der Doktor heimlich aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt hatte, in einen leeren Elektro-Reistopf-Karton und überreichte ihn beidhändig Mehri.

      Tröstend und schmeichelhaft sagte der Revolutionswächter: »Guck mal, Bruder! Wir wollen nicht viel von dir wissen. Es ist alles nur im Zusammenhang mit diesem Brief … erstens, wem du ihn gegeben hast und zweitens, dass du ihn zurücknimmst … Nur das! Dann kannst du getrost und ohne größeres Aufsehen zu deiner Frau und deinen Kindern zurück! Sie brauchen dich wirklich.«

      Er bedachte in seinen Gedanken Dr. Danesch und seine Familie mit derben Schimpfwörtern und wünschte sie alle zusammen zur Hölle, um endlich diesen dickköpfigen Doktor, der seine Geduld überstrapazierte und ihn wiederholt zum Eingeständnis seiner Ohnmacht zwang, loszuwerden.

      Dr. Danesch sehnte noch viel mehr als der Revolutionswächter die Erlösung von der Qual jenes endlosen, heuchlerischen Verhörs herbei. Während er unter dem schweren, strammen Parka des Revolutionswächters zitterte, rieb er sich mit der Hand an der rechten Seite, um den unerträglichen Schmerz zu stillen, und kam zu dem Schluss, dass das Mitgefühl und die Fürsorge des ihn verhörenden Offiziers nichts anderes als die Verleugnung seiner Dreistigkeit und Bestialität bedeutete. Deshalb blinzelte er ein paarmal mit den Wimpern, gab sich Mühe, nicht in Bewusstlosigkeit zu versinken, und sagte kraftlos: »Bruder, Sie wissen doch besser als ich, dass ich diesen Brief an Ajatollah Montazeri geschrieben habe. Wie der Brief ihn erreicht hat, weiß ich nicht. Ich habe ihn dem Gefängnisdirektor gegeben. Fragen Sie doch ihn. Warum fragen Sie mich?«

      »Weil dieses Exemplar noch verstaubt in der Schublade des Gefängnisdirektors liegt …«

      »Dann habe ich doch keine Veranlassung, ihn zurückzunehmen!«

      »Doch, doch! Ein getipptes Exemplar von deinem Brief ist in den Schmierblättern der konterrevolutionären Grüppchen veröffentlicht worden.«

      »Ich weiß nichts davon!«

      »Und englische, deutsche und französische Übersetzungen kursieren im Ausland …«

      »Ich kann kein Englisch und kein Französisch …«

      Später, als die Wunden und blauen Flecken an seinem Kopf und an seinem Körper soweit auskuriert waren, dass er sitzen und wenige Minuten am Tag gehen konnte, erzählte er seinem Freund in der Zelle: »Ich war schon soweit bei Verstand, um zu wissen, dass ich Unsinn erzählte. Ich hatte aber keine andere Wahl. Was konnte ich sonst antworten?«

      Auch


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