Vergiftete Zeit. Fahimeh Farsaie

Vergiftete Zeit - Fahimeh Farsaie


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schwerer Stiefel auf den Bodenplatten, dem zornigen Schnaufen des verhörenden Offiziers und dem unaufhörlichen Pochen seines Herzens zu und kam zur traurigsten Schlussfolgerung seines ganzen Lebens. Er lachte bitter und murmelte: »Oh ja, wir sind auch alt geworden.«

      Diese Erkenntnis durchzuckte seinen ganzen Körper wie die Berührung mit einem Stromkabel.

      Aber der Doktor erschrak nicht. Obwohl er fühlte, dass sich seine Knochen in Bambus und seine Muskeln in Schaum verwandelten, saß er ruhig vor dem verhörenden Offizier und stellte sich die katastrophale Szene vor, die sich ohne weiteres abspielen würde, falls dieser nur einen Teil seiner Gedanken erraten würde. Er wäre dann der Verlierer.

      Der verhörende Offizier fragte ihn barsch: »Na, was ist? Was hast du denn? Warum glotzt du so?«

      Der Hass, der in der Stimme des verhörenden Offiziers schwebte, ließ den Doktor etwas ruhiger werden. Er bewies, dass der Doktor noch die Oberhand behielt und der verhörende Offizier noch hinter der Barriere seiner Zurückhaltung umherirrte. Dr. Danesch lächelte mit einer unvorhersehbaren Freundlichkeit, und plötzlich wurde eine mit Wasser gefüllte Porzellankanne in seinem Kopf geleert. Der verhörende Offizier trat vor und verpasste ihm eine Ohrfeige: »Lachst du mich aus, du Hurensohn?«

      Es war so, als ob man eine Handvoll Glassplitter auf sein Gesicht gestreut hätte. Aber der Doktor fühlte in seinem Herzen keinen Schmerz. Er war noch so sehr damit beschäftigt, die Verwirrung auszulöschen, welche die Erinnerung daran in seinem Herzen ausgelöst hatte, dass er vergessen hatte, die verschlüsselten Namen und Telefonnummern seiner Genossen zu vernichten. Diese Verwirrung hatte ihn in einen so panischen Zustand versetzt und ihn gänzlich vergessen lassen, dass zwischen diesen beiden Zeitpunkten sechs ganze Jahre lagen. Er blickte auf die dreisten Augen des Offiziers, stellte eine Schwellung seiner Nieren fest und quälte sich mit dem Gedanken an die Art und Weise der Vernichtung der Namen und Telefonnummern. Er wirkte wie die Leute, die lebenslang unter Geistesabwesenheit leiden. Er sah sich in seinen Erinnerungen, wie er mit den Händen in der Tasche unter den Augen der Revolutionswächter hin- und herlief und versuchte, sich gelassen und gleichgültig zu geben. Er verrichtete Dinge, die er nie zuvor in seinem Leben gemacht hatte: er legte die Teppichfransen zurecht, glättete die Falten der Gardine, wischte den Staub von den Bilderrahmen ab und brachte die Tischplatte zum Glänzen. Plötzlich fiel ihm ein, den Telefonapparat woanders hinzustellen. Während er den Tisch, den Blumentopf, das Telefon, das Notizbuch, den Schlüsselbund, das Telefonbuch und die Porzellankatze mit der blauen Schleife von einer Ecke in die andere trug, zog er einen rosafarbenen Zettel aus seinem Notizbuch heraus, der so dünn und hart wie eine Zwiebelhaut war, und stopfte ihn in seinen Schlüsselanhänger. Im selben Augenblick verwandelten sich alle seine Körperteile in Herzen: sein Hirn pochte, seine Schläfen schlugen, sein Hals klopfte, und selbst seine Handgelenke und Knöchel pulsierten. Alle seine Organe pochten von innen und außen so wahnsinnig, als hätten sie den Befehl zur Verwüstung seines Körpers erhalten. Dr. Danesch war total errötet, sein ganzer Körper glühte. Ihm war so heiß, dass er das Schmelzen der Fettschichten unter seiner Haut zu fühlen glaubte. Er atmete tief auf, verschloss den Schlüsselanhänger und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

       »Warum antwortest du nicht? Du Hundesohn! Glaubst du etwa, dass du uns mit diesem Theater auf den Arm nehmen kannst?«

      Der Doktor reagierte wieder nicht. Denn die Qual einer anderen Folter, die sein Hirn blockierte, ließ ihn wie eine Kerze schmelzen. An jenem Tag war er völlig der lähmenden Angst ausgeliefert, dass seine Freunde »auffliegen« könnten. Als er den Schlüsselbund in die Tasche steckte, drehte er sich beherrscht und ruhig um. Doch die Dreistigkeit im Blick des Revolutionswächters, der gerade die Flugblätter der »Liga der Friedensfreunde« aus der Schublade des Fernsehtisches herausholte, ließ ihn auf seinem Platz erstarren. Sie schauten sich einige Sekunden lang starr an. Der Revolutionswächter stand schließlich auf, beobachtete den Doktor misstrauisch, lief auf ihn zu und fragte ihn: »Was hast du in deine Tasche gesteckt?«

      Dr. Danesch fragte sich ungläubig: »Ist nun alles aus? Soll das heißen, dass nun alles aus ist?»

      Das Bild des Revolutionswächters wurde in den Augen des Doktors verschwommener, je mehr dieser sich ihm näherte. Er fühlte, dass er von innen heraus von einem endlosen Vakuum aufgesaugt wurde und nichts mehr hörte. Ihm war, als verschwänden die Geräusche in seiner knorpeligen Ohrmuschel und als könnte er sie nicht voneinander unterscheiden, obwohl er ihr Echo in seinen Schläfen fühlte. Der Doktor sah das zackige, zittrige Bild des Revolutionswächters auf sich zukommen, seine Lippen bewegen und unverständliche Laute ausstoßen. Aber er wusste nicht, was er tun sollte. Vor Schrecken wäre er beinahe erstickt. Er trat von einem Fuß auf den anderen, um nicht vor Verwirrung das Bewusstsein zu verlieren. Er beschloss in einem Augenblick, das zu tun, was er bis jetzt nie getan und immer verabscheut hatte, falls der Revolutionswächter den Zettel in die Hand bekommen sollte: er würde den Revolutionswächter tätlich angreifen. Es war ihm sonnenklar, dass er aus jenem aufgezwungenen Kampf als Sieger hervorgehen würde, und dies nicht, weil er sich auf seine Muskelkraft oder seine allgemeine körperliche Verfassung verließ. Nein, ganz im Gegenteil wusste er, dass sein Körper, der jahrelang die Schulbank gedrückt, stehend untersucht oder über den OP-Tisch gebeugt operiert hatte, ihm in der körperlichen Auseinandersetzung mit einem Revolutionswächter, der so stark wie ein Stier aussah und nach Schafen roch, nicht helfen konnte. Er glaubte an die zauberhafte Macht seines Wissens. Wenn er den Revolutionswächter überraschen und ihm blitzschnell mit der Handkante einen entscheidenden Schlag zwischen das vierte und fünfte Glied seiner Wirbelsäule verpassen konnte, wäre der erledigt. Der Revolutionswächter würde dann, solange er wollte, einem armseligen Toten ähneln, in dessen Körper alle Ströme des Lebens flossen, ohne auch nur im geringsten einem Lebenden zu gleichen.

      Grinsend näherte sich der Revolutionswächter mit zwei Schritten dem Doktor, der sich vergeblich mit dem Gedanken plagte, seinen Angriff nicht vor dem geeigneten Augenblick zu starten. Seine Siegessicherheit hatte ihn so verwirrt, dass er die Anwesenheit der anderen Revolutionswächter gänzlich vergaß. Obwohl er jedes einzelne Organ des menschlichen Körpers wie seine eigene Westentasche kannte, vergaß er, dass der Revolutionswächter auch einen Rachen hatte: einen Rachen, der zum Zeitpunkt seines Schlages wie eine Sirene ertönen und die Waffen der anderen Revolutionswächter betätigen würde. Er war auf einmal so gelassen, dass er sogar seine Sorge um das Leben und Wohlergehen seiner Frau und seiner Töchter vergaß. Das einzige, woran er dachte, war, wie er jene Papierfetzen hinunterschlucken könnte. Hinter jenem zwiebelschalenähnlichen Papier sah er ein Kind, das mit großen, feuchten Augen auf ihn schaute; er sah eine Frau, die mit leerem Korb vom Einkaufen zurückkehrte und zwei bewaffnete Revolutionswächter vor sich sah; er sah einen Mann, der mit hagerem, erschöpftem Gesicht Tag und Nacht im Labyrinth der Straßen der Stadt umherirrte; er sah einen, der gefoltert wurde; er sah einen, der vor Verzweiflung mit dem Kopf gegen die Wand schlug; er sah einen, der mit weitaufgerissenen Augen und schäumendem Mund seinen Hals würgte und ihn anbrüllte: »Warum hast du uns verraten? Warum?«

      Der Revolutionswächter streckte seine Hand aus und sagte: »Was hast du in deine Tasche gesteckt? Gib es her!«

      Dr. Danesch griff in seine Tasche und fühlte plötzlich, dass er infolge jener inneren Auseinandersetzung so müde und schlaff geworden war, dass er sich nicht von der Stelle rühren konnte, selbst wenn der Revolutionswächter ihm freiwillig den Rücken zuwenden und seinen Schlag abwarten sollte. Es kam ihm so vor, als sei sein Herz verwundet und als fließe seine ganze Energie mit dem Blut heraus. Später schilderte er seinem Mitgefangenen: »Ich war so schwach, dass ich mich auf der Stelle hinlegen und bis in Ewigkeit schlafen wollte.«

      Aber der Doktor tat dies nicht. Während er langsam den Schlüsselanhänger aus der Tasche holte, nahm er ein paar Würfelzucker vom Tisch, steckte sie in den Mund und sagte zu Maral, die im gleichen Moment die Küchentür geöffnet hatte: »Liebchen, Maral! Bringst du uns zwei Tassen Tee?«

      Er wunderte sich darüber, dass er seine vertraute Stimme hörte. Er zerkaute den Zucker, reichte dem Revolutionswächter den goldenen Schlüsselanhänger, gab sich Mühe, den Anflug von Übelkeit zu bezwingen und sagte: »Das ist mein Autoschlüssel. Ich habe einen Peykan. Es ist nicht der Rede wert! Ich schenke es Ihnen gern! »

      Ungerührt


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