Spiegelungen. Anne Dorn

Spiegelungen - Anne Dorn


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      Anne Dorn

      Spiegelungen

      Anne Dorn

      Spiegelungen

      Roman

      Dieses Buch entstand mit finanzieller Unterstützung der

       KUNSTSTIFTUNG

NRW

      Autorin und Verlag danken für das Arbeitsstipendium, mit dem die Kunststiftung NRW dieses Projekt unterstützt hat.

      Bibliografische Information der Deutschen

      Nationalbibliothek

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.

      ISBN 978-3-937717-42-5

      eISBN 978-3-943941-26-5

      © Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2010

      Lektorat: Christian Döring

      Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

       www.dittrich-verlag.de

      Meinen vier Kindern

      »Des Menschen Engel ist die Zeit.«

      Friedrich Schiller

I

      1

      Sie war damals gerade so groß, dass ihr Kopf unter die Achselhöhle der Mutter reichte. Die konnte Minza unter den Arm nehmen, und wenn sie den Arm hochhob, um ihr Kind seitlich an die Brust zu drücken, roch Minza den Dunst, der aus dem feuchten Flecken unter dem Ärmel schlug.

      Das war auf dem Schiff, einem Schaufelraddampfer. Der Vater hatte sie zur Anlegestelle gebracht. Minza hatte sich, so weit es ging, über die Brüstung des Schiffes gebeugt, damit der Vater ihr noch irgendetwas zurufen konnte, und genau gesehen, dass er lächelte – er hatte traurig gelächelt, mit sehr strammer Haltung, und das sah bei seiner kleinen Figur komisch aus. Er winkte. Die Mutter hatte ihren rechten Arm warm und schwer auf Minzas Kopf liegen, sie winkte dem Vater zurück, nur mit der linken Hand. Minza nahm auch die Hand hoch, ihre Hand hing wie an einem Laternenstock neben ihrem linken Auge. Sie winkte nur mit den Fingern, ganz klein.

      Das war an einem gewöhnlichen Sonntag im Frühjahr. Die Elbwiesen trugen schon Wiesenschaumkraut und noch Himmelsschlüssel. Solange die Stadt, die richtige Stadt vorbeizog, blieb Minza neben der Mutter. Regelmäßig, wie die Namen der Kalendermonate, tauchte in ihrer Familie die Rede auf, dass Dresden schön sei. Minza wurde schon als kleines Mädchen genötigt, dieses Schöne zu sehen. Bei dieser Dampferfahrt sah sie dicke und dünne Türme, Fenster, Treppen und breite, leere Flächen mit einem Menschen in der Mitte, der in irgendeiner Geste erstarrt war, und dann auch lebendige Kinder und Erwachsene und Hunde auf den Wiesen. Deutlich im Gras Himmelsschlüssel.

      Das Schiff mahlte Wasser. Es war das erste Schiff am Morgen. Sobald die Stadt in gewöhnlichen Häusern verebbte, fand Minza es kalt. Die Mutter wollte nicht mit den anderen Passagieren in den Schiffsbauch. Sie nahm Minza an die Hand und setzte sich mit ihr an einen Tisch auf das offene Heck.

      Minza hätte lieber am Bug gesessen. Zuerst spielte sie mit den grünen und weißen Baumwollfransen der Tischdecke. Ein Karomuster ließ die Fäden frei und fing sie wieder ein. Genau solche Tischdecken besaß Minzas Großmutter. Sie spielte mit der vertrauten Decke. Die Mutter trank Kaffee aus einer dicken Tasse, an der Minza naschen durfte. Immer wenn sie ihren Hals langmachte und den Mund über den Tisch hin der Tasse entgegenstreckte, sah sie das blaue Kleid groß und flächig hinter deren Händen. Es war ein zauberisches Blau, taubenblau; ein gar zu starker, blauer Ton war mit einem Hauch Weiß abgebremst worden. Um den Hals und die Ärmelbündchen des Kleides liefen schmale Borten aus schwarzen und roten Glasperlen – genau an den Stellen, die auch an Minzas Kinderkleid mit Baumwollborte geschmückt waren. Nur um die Hüften der Mutter kroch eine zusätzliche, vierspurige Perlenraupe. Dazu hatte sie noch eine lange, verschlungene Elfenbeinkette über ihrer Brust hängen. Minza kugelte gern die gelblichweißen Perlen zwischen den Fingern, es knirschte etwas, wenn man sie zu rasch drehte, und dann hatte sie immer Lust, in die Kette hineinzubeißen.

      Die Mutter wehrte Minza mit einer Armbewegung ab, drückte sie weg. Minza stand auf und ging zur Mitte des Schiffes. Das Schaufelrad warf regelmäßig einen Regen von Wassertropfen in den Fluss. Es war immer wieder derselbe Ablauf von Wirbeln und Gegenwirbeln in der grünlichbraunen Flüssigkeit und scheinbar dieselbe Stelle, auf die der Tropfenregen niederschlug.

      Minza fing an zu singen oder zu zählen. Sie genoss den Stoß des Geländers an ihre Rippen. Das war, als würde sie wer kitzeln. Die Mutter blieb hinter der grün-weiß karierten Tischdecke, saß da und schaute. Minza hatte das Gefühl, die Mutter dürfe nicht merken, wie gern sie am Geländer stand und wie genau das feine Gezitter der Eisenstäbe auf ihre Rippen oder ihren Rücken traf. Die Mutter sah auch manchmal zu ihr hin. Dabei blähte der Wind ihr Haar um den Kopf auf wie eine Pelzkappe, und eine von ihren Händen kam unter dem Tisch vor und vor das taubenblaue Kleid. Minza winkte zurück, drehte sich wieder weg und blieb stehen, direkt über dem Schaufelrad.

      Ab und zu legte der Dampfer an. Meist standen Erwachsene auf den Holzpontons. Minza besah die Leute nicht – nur ihre Füße, die der Bordkante näher schwebten und dann – plötzlich – in einer Reihe standen: Frauenbeine mit fleischfarbenen Strümpfen und schwarzen Spangenschuhen, die Minza in Gedanken mit dem Schuhknöpfer aufknöpfte und wieder zuknöpfte – bis sie zu laufen anfingen und auf das Schiff kamen. Das Schiff ließ stets einen Rest Menschen auf den Pontons zurück. Die wippten dann über kurze Holzbrücken in die Wiesen.

      Minzas Mutter saß weiter hinter der grün-weißen Tischdecke. Immer legte sich ihre helle Hand vor ihr Kleid, jedes Mal wenn Minza den Kopf drehte und ihr zunickte. Danach fiel diese Mutterhand wieder unter den Tisch. Minza wusste, dort unten standen der Mutter Beine. Dort waren die Makostrümpfe und die Spangenschuhe, die sie wirklich anfassen und aufknöpfen durfte. Sie lief aber nicht zu ihr hin. Die Mutter saß so sehr still hinter dem Tisch, ihre Elfenbeinkette hing unbewegt über der blauen Brust, ihre Augen sahen noch dunkler aus als gewöhnlich, wenn sie Minza ansah – meist sah sie nur in die Luft. Minza biss sich in ihren Zopf. Ihr Haar rutschte zwischen den Zähnen hin und her, sie behielt den Geschmack von Talg, von talgiger Luft im Mund.

      Mitunter ging sie in den Maschinenraum oder vielmehr vor das Fenster, durch das man den Maschinenraum sah. Die flitzenden Kolben regten sie auf, mehr noch als das Zittern im Geländer sie aufgeregt hatte. Es war eine schöne Aufregung. Einmal musste es doch genug sein! Dann wollte sie ausatmen, aber die Kolben tauchten wieder und wieder in ihren Stahlmantel ein und schossen wieder daraus hervor. Ein großes Schwungrad flirrte. Draußen, in der Mitte des Schiffes, links und rechts am Schiffsbauch, schäumten und tropften die Schaufelräder. Minza lief hin und her zwischen ihren Schaupunkten und sah auf dem halben Weg flüchtig zum blauen Kleid. Die Mutter saß da noch immer auf demselben Stuhl in derselben Haltung. Ihre Hand bewegte sich, manchmal.

      Minza stand wieder vor dem Fenster zum Maschinenraum. Die Glocken schlugen an, auf dem Deck und im Maschinenraum und an einer anderen Stelle, die sie nicht erraten konnte, sie hatte anderswo keine Glocke gesehen. Durch das ganze Schiff fuhr ein heftiges Krachen – und die Kolben standen still – sekundenlang – dann tauchten sie wieder in ihre fettigen Mäntel. Einen Augenblick lang hatte das Schwungrad dicke, feste Speichen. Rückwärts drehte es an – und sofort flimmerten wieder silbrighelle Kreise zwischen dem blanken Knopf in der Mitte des Rades und seinem äußeren, breiten Band aus Stahl. Minza hörte die Leute trappeln. Aus dem Schiffsbauch rannten sie die Treppe hoch auf das Deck. Minza lief zum Schaufelrad und schaute von da aus wieder zum Heck. Eine feste Wand aus Kleidern, Rucksäcken und Beinen verstellte ihr die gewöhnliche


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