Spiegelungen. Anne Dorn

Spiegelungen - Anne Dorn


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war sicher falsch, die Mutter braust auf: »Meine, ja meine Kinder! Du kümmerst dich nicht um sie, wischst ihnen nicht den Hintern ab und die Kotze fort, du hörst nicht, wenn sie sich zanken, zu dir kommen sie nicht gerannt, nur zu mir …« Minza möchte dazwischenfahren und der Mutter versprechen: »Wir zanken uns nie, nie wieder, und Martin kann schon selber aufs Klo! Stattdessen hängt sie sich an Mutters Rock. Die spricht wieder normal: »Lass los, wir müssen jetzt gehen.«

      Merkwürdig ist, dass die Mutter bereits im Bus weint. Der Vater legt seinen Arm um ihren Hals, und das sieht fremd aus. Minza versteht, dass die Mutter Vaters Arm abschüttelt. Das große Mietshaus, in dem die Großeltern wohnen, ist vom Hauseingang bis zur Wohnungseingangstür geschmückt. Eine Girlande hängt über der Haustür und die Treppengeländer sind von bunten Bändern umwunden. Auf jedem Treppenabsatz steht ein Blumenstrauß. Und nun erst in der Wohnung: Jeder Mensch hat Blumen – am Kleid, am Jackett, im Haar oder in der Hand. Es sind viele Menschen! Sie gehen anders als gewöhnlich, jedenfalls langsam. Die Frauen, weil sie lange Kleider tragen, die Männer, weil sie Lackschuhe an den Füßen haben. Das weiß Minza – ein Lackschuh drückt.

      Minza und Martin lassen sich von den zwei Brüdern aus Großvaters weiterer Verwandtschaft die Taschenuhren vorführen. Bald ist die Hochzeitsstunde da!

      Man geht zur Kirche. Das Brautpaar führt den Zug an. Der Himmel lacht nicht gerade, aber Tante Vera. Sie ist eine Braut in Schwarz. Ihr Kleid hat einen riesigen Ausschnitt und in der Mitte steckt ein Veilchenbouquet. Minza weiß sofort, dass die Mutter dieses Kleid an Tante Vera überhaupt nicht mag. Ja, wo ist die Mutter? Sie neigt gerade den Kopf, Minza sieht ihr frisch gelocktes Haar und huscht näher. Der Vater hat der Mutter den Arm angeboten – so heißt das wohl, und die hat den Kopf geschüttelt, obwohl sie seinen Arm nimmt und ihm zuflüstert: »Sieh dir den Ausschnitt an! Man erkennt den Ritz zwischen den Brüsten!« Der Vater kann darüber lachen: »Jetzt darf sich jeder ausdenken, wo die Stengel der Veilchen im Feuchten landen!«, und wartet nicht auf Mutters Reaktion, packt sie fest am Arm und hält sie in der Reihe.

      Als die Hochzeitsgesellschaft von der Kirche zurückkommt, wartet das Essen. Es hat sich nicht von allein gekocht: Großmutters Nachbarinnen haben mit vorbereitet und jetzt vor allem warm gehalten. Den letzten Schliff hat Melanie gegeben. Minzas Mutter – und so auch Tante Vera – haben zwei Cousinen. Sie sind etwas jünger, so dass Melanie, die ältere Cousine, Tante Vera gleichkommt. Die jüngere heißt Dora. Das ist Minza schon aufgefallen: Mutters Liebe gehört Melanie. Tante Vera dagegen bevorzugt Dora. Der Vater nennt beide die Lichtenberger Mädchen, denn sie kommen aus dem Dorfe Lichtenberg. Warum nur Mädchen? Ja, beide haben keinen Mann. Aber wenn Tante Vera jetzt noch einen bekommt, dann können die Lichtenberger Mädchen vielleicht ja auch noch?

      Minza steht in der Küche. Es riecht nach Braten, Rotkohl, Soße, Suppenkräutern, Pflaumenkompott, Wein, Schnaps, geschmolzenem Fett und geröstetem Zucker. Melanie hat ein frische Schürze vorgebunden, es wird immer noch einmal Geschirr gezählt und Besteck sortiert. Minza hat oft an Tante Melanie Ähnlichkeiten mit der Mutter entdeckt. Wie sie Kindern zuhört, wie sie Minza an sich heranzieht. Das ist ein fester Griff, aber doch auch etwas Liebes. Minza fühlt dann ein Panzerschild gegenüber allem Bösen in ihrem Rücken, sie kann dann lauter lachen. Es wundert sie deshalb nicht, dass Tante Melanie von der gleichen, erschreckenden Verzweiflung überfallen werden kann wie die Mutter. Auch Melanies Augen werden dann starr, sie ist verlorengegangen, sie ist nicht mehr da. In solchen Augenblicken betet Minza leise: »Lieber, lieber Gott …« Es ist nicht auszuhalten, wenn neben der Mutter auch Tante Melanie sich verwandelt.

      Dora ist Tante Veras Brautjungfer. Sie trägt keine Küchenschürze. Ein Kollege aus Tante Veras Betrieb ist Doras Tischherr. Man sagt, er habe in Berlin eine Familie. Dora trägt wie die Braut ein langes, schwarzes Kleid, freilich mit rotem Mieder und Puffärmeln. Auch an diesem Kleid ist der Ausschnitt weit, aber nicht zu weit. Dora kommt mit ihrem Edi in die Küche und sagt: »Ihr habt ja schon alles fertig! Das habt ihr fein gemacht«! und öffnet die Balkontür, tritt mit Edi auf den Balkon, zieht die Tür hinter sich zu.

      Minzas Mutter kommt in die Küche und befreit Melanie von der Schürze: »Jetzt hast du genug gewurschtelt, andere können auch etwas tun!« Selbst Minza darf Kompottschälchen aufstellen.

      Bei allem, was Melanie und Mutter in der Küche treiben, beobachten sie Dora und Edi auf dem Balkon. Man sieht nur ihre Rücken, aber da ist trotzdem etwas zu sehen: Edis Hand liegt wie ein ausgebreiteter Fächer auf Doras Mieder. Das wird hinten geschlossen. Und Edis Hand hat nur vier Finger! Der fünfte hat sich unter dem blutroten Satin verirrt!

      Minza soll ein Hochzeitslied vortragen, gleich nach dem Essen. Die Gäste – vor allem die Männer – haben rote Köpfe und lachen laut auf bei jeder Zeile, die Minza im Sprechgesang von sich gibt. Die Melodie kommt von einem Kinderlied, Minzas Vater begleitet laut hämmernd auf dem Klavier:

       Die Vera hat jetzt einen Mann, jetzt fängt das schöne Leben an!

      Es ist ganz gleichgültig, welcher Mensch im Text des Liedes gerade beschrieben wird, die Hochzeitsgäste grölen und trampeln mit den Füßen. Minza wird abgedrückt und geküsst, vor allen von Tante Vera. Die ist heute sehr laut. Minza spürt, als Tante Vera sie hochhebt, das steife Korsett unter dem Brautkleid und auch die weiche, pappige Wulst oberhalb des Korsetts. Wie fett auch sind Tante Veras Arme! Minza möchte sich freizappeln. Ein männlicher Gast ruft: »Ja, Vera, kannst schon mal üben, wie man Kindchen wiegt!«, und wieder dieses grelle Lachen aller. Minza flieht. Gleich neben der Tür sitzen Mutter und Tante Melanie, nein, Minza kann auch diese festgefrorenen Münder nicht ertragen, Mutters Arm angelt umsonst. Minza hat auch einen Grund, aus der Tür zu laufen, sie »muss mal«.

      Wie die Nachbarin den Großeltern Besteck, Geschirr und Gläser geliehen hat, damit für so viele Menschen alles reichlich zur Verfügung steht, hat sie auch ihren Abortschlüssel verliehen. Man geht aus der Wohnungstür über den Hausflur und da, wo die Treppe beginnt, gibt es noch eine kleine Tür, die ein schmales Zimmerchen verschließt. Dieser schmale Raum mit Fenster zum Hof ist unterteilt in drei abschließbare Verschläge, jede der drei Mietparteien in jedem Stockwerk hat einen eigenen Abort.

      Minza weiß, wo bei den Großeltern der Abortschlüssel hängt, und als sie erst in dem hölzernen Verschlag sitzt, lässt sie sich Zeit. Der Großvater stellt Blumentöpfe mit Setzlingen auf ein Regal im Abort, weil es dort weder zu warm noch zu kalt ist. Eine Mimose kann man anfassen – da klappt sie die Blättchen zusammen. Noch einmal und noch einmal, die arme Mimose kommt nicht zur Ruhe. Je länger sich Minza mit der Pflanze beschäftigt, um so bewusster wird ihr ein Geräusch: Atmen. Pusten. Oder Keuchen? Dann ein leiser Tritt, wie ein abgefangenes Stolpern. Und irgendetwas wetzt gleichmäßig an der Bretterwand zum Nachbarabort. Die Trennwände sind nicht bis zur Decke hochgezogen und zwischen Fußboden und hölzerner Wand ist ein kleiner Schlitz. Jeder Verschlag steht auf kurzen, eisernen Füßen. Minza sieht da plötzlich etwas Schimmerndes, Seidiges: Rot, blutrot, ein Rändchen vom Puffärmel des schönen Kleides der Tante Dora! Der seidige Stoff liegt ganz still, das leise, gleichmäßige Schaben hat nichts zu tun mit dem Kleid.

      Minza bekommt plötzlich Angst. Sie poltert mit dem Porzellangriff, der an dem Kettchen des Spülkastens baumelt: Das Geräusch ist verschwunden. Die rote Seide bleibt. Gerade schließt sie den Abort wieder zu, da kommt die Mutter: »Kind, was machst du so lange?« Sie nimmt Minza den Schlüssel aus der Hand, vielleicht wollte sie ihn selbst gebrauchen – aber nun ist sie völlig sprachlos: Doras Kleid fließt wie eine Pfütze unter Nachbars Aborttür vor auf den Gang. Minza möchte es wegstoßen, zertrampeln, bückt sich – aber da, die Mutter hat es gepackt. Pfeilschnell. Hinter der Tür ein leiser Schrei. Die Mutter knüllt das Kleid zusammen, hält den großen Stoffklumpen an sich gepresst, schüttelt den Kopf. Dann, kurz entschlossen, wirft sie das Kleid über die obere Kante des Verschlages und packt Minza. Sie hat wieder diese festen, unnachgiebigen Tritte, tack-tack-tack, Tür auf, hinein in die Wohnung. Sie greift nach den Mäntelchen ihrer Kinder, nach ihrem Mantel, achtet nicht darauf, dass ein Aufhänger abreißt, und immer noch hält sie Minza fest. Jetzt öffnet sie das Wohnzimmer, Rauchschwaden stehen in der Luft. Minza sieht Tante Vera auf dem Schoß des neuen Onkels sitzen, mit einer Hand streichelt sie ihm die Glatze, mit der anderen tätschelt sie Martin, der vor der Tante steht und irgendetwas kaut. Die Mutter


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