Spiegelungen. Anne Dorn

Spiegelungen - Anne Dorn


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von Minzas Platz durchs Wasser, steht unvermittelt am anderen Ufer. Wartet, bis sie ihn sieht. Nickt ihr zu, beginnt plötzlich, mit den Händen auf die Erlenstämme einzuschlagen. Minza schaut gespannt auf das Wasser: die Forelle flitzt in ihre Hände.

      Minza errichtet im alten Steinbruch eine kleine Mauer. Sie gräbt dahinter eine Kuhle, Lukas lässt dürre Halme und Hölzchen hineinfallen. Er nimmt eine Flaschenscherbe und bündelt damit die Sonnenstrahlen. Auf Minzas Feuerstelle beginnt es zu qualmen. Dann das Aufflackern der Flammen. Lukas verschwindet. Minza muss allein das Feuer füttern oder darben lassen.

      Langsam wächst die rote, kompakte Glut. Lukas erscheint mit einem Täubchen zwischen den Fingern. Es hat noch keine Schwungfedern. Minza schaut weg. Des Täubchens Augen starren. Lukas erledigt, während er Minza fest anschaut, mit zwei Fingern das Ausnehmen. Er dreht dem Täubchen auch den Kopf ab. Dann befreit er eine Weidenrute von der Rinde, durchsticht damit vom After bis zum Hals den Körper des Vogels, übergibt ihn Minza.

      Das Täubchen ist noch warm. Minza fasst es behutsam. Lukas fordert sie auf, Lehm zu holen. Es ist ihm ernst, er will es wissen: Ist Minza bereit? Sie bepackt den gefiederten, eiförmigen Körper mit Lehm. Nur die Enden des Weidenstockes schauen hervor. Lukas hat zwei Astgabeln links und rechts von der Kuhle in die Erde gesteckt, nun dreht Minza den zukünftigen Braten über der Glut. Lukas erzählt von den verschiedenen Methoden, dem Feuer Wind zuzuführen. Er beobachtet, ob Minza zu hastig dreht, ob sie wegschaut bei dem, was sie tut. Ob es sie schaudert.

      Minza atmet tief auf, als ihr Lukas den hartgebackenen Klumpen aus der Hand nimmt. Er schlägt ihn auf wie eine Nuss. Und es duftet! Beide zupfen sie kleine Stücke Fleisch, jeder aus seiner Lehmhalbkugel. Nach dem Essen schiebt Lukas Erde über die Glut. Er wischt sich die Finger an Huflattichblättern sauber, Minza tut es ihm nach. Lukas gibt ihr die Hand und führt sie. Aber vor dem unteren Tor lässt er sie los.

      Lukas entlockt Grashalmen und jungen Buchenblättern Töne. Er schneidet Pfeifchen aus Ebereschenzweigen. Minza kann Körbe aus Gras flechten. Sie wirft, was sie zuwege gebracht hat, kurz vor der Haustür weg.

      Sie ist reicher als Lukas. Minza hat Mutter und Vater und einen kleinen Bruder. Jeden Mittag und jeden Abend ruft ihre Mutter: »Kinder – essen kommen!« Lukas’ Mutter liegt unter der Erde, sein Vater böttchert in der Brauerei. Wenn er nachhause kommt, packt ihn die Wut, dass da ein Kind auf ihn wartet. Er zieht den Gürtel aus der Hose, holt damit aus!

      Im Sommer trägt Lukas schwarze Turnhosen. Satin ist sehr dünn. Die Striemen auf Lukas’ Haut sieht man oberhalb und unterhalb des Hosenbundes und der Hosenbeinkanten.

      Wenn er aus der Schule kommt, heizt er den Herd an. Er kocht im eisernen Topf Kartoffeln, pellt sie, stippt eine nach der anderen in Salz und isst. Minza hat längst gegessen. Die Mutter hat schon gewartet mit Möhren, frischen Bohnen, Spiegelei, Speck, Nierchen, Leber oder auch Milchreis.

      Mittwochs dürfen auch Lukas’ Kartoffeln schwimmen: Dienstags schlachtet der Metzger. Am Abend, wenn alle Würste aus dem Kessel gefischt werden und in den Rauch kommen, holen die Kinder in Milchkannen Wurstbrühe. Der Metzger fabriziert aus Semmel, Hafergrütze, Blut und gehackter Leber kleine Würstchen, die für je drei Pfennige aus seinem Kessel mit in die Kannen springen. Lukas lässt seine Brühe stehen, bis das Fett auf dem gewürzten Sud erstarrt. Er füllt das grünliche Wurstfett in ein Schüsselchen. Man kann Wurstfett nicht aufs Schulbrot streichen, es schmilzt zu rasch und tropft weg. Aber die Kartoffeln darin braten und kleine Zwiebelchen!

      Lukas gibt Minza, was er zu geben hat. Sie isst mit ihm, aber wie ein Spatz. Wenn die Mutter am Sonnabend Kuchen bäckt, öffnet Minza das Küchenfenster. Geht dann Lukas vorbei, riecht, was da werden will und schon geworden ist, werden seine Augen riesengroß. Minzas Mutter nimmt das Messer, schneidet die Ränder vom frischen Streuselkuchen ab und reicht sie durchs Fenster in den Hof: »Kinder! Kuchenränder!« Auch Lukas ist ein Kind.

      Minzas Mutter setzt sich, mit ihren zwei Kindern, abends auf die Bank am Waldrand und singt. Wie liebt Lukas Minza, wenn sie die erste Stimme übernimmt und ihre Mutter umschwenkt auf die zweite. Andere Kinder aus dem Haus fallen in den Gesang ein, die Erwachsenen unterbrechen das Holzhacken oder Grassicheln und hören zu – wie Lukas. Der zieht sich so weit zurück, dass sein Ohr dem Gesang noch folgen kann – und dann wankt seine Stimme in einer tiefen Dunkelheit von Heimweh und Wehmut den anderen Stimmen nach.

      Lukas trägt keine Schuhe. Im Sommer läuft er barfuß, im Winter in Holzpantoffeln. Minza liebt es, in seiner Spur zu gehen, wenn seine nackten Füße nichtachtend der Bienen über den Feldrain ziehn. Er bleibt, wenn die Biene gestochen hat, kurz stehen, zieht den Stachel raus, betastet die durchstochene Haut und geht weiter.

      Was alles erfährt Lukas dank seiner nackten Füße! Er spürt, wo ein Hamsterbau unter den Stoppeln entlangläuft. Er fühlt, dass gerade dort, wo er steht, eine Maulwurfsgrille aus dem Loch will, tritt beiseite, bückt sich, fährt mit einem Grashalm in die Erdröhre, die Grille fährt heraus – Lukas sperrt sie in eine leere Streichholzschachtel. Heimlich steckt er die Schachtel in Minzas Schürzentasche. Es wird der Grille warm. Ihr kleines Gefängnis ist dunkel. Sie zirpt. Minza freut sich.

      Wenn die Mirabellen reifen, beginnt Lukas, sich Strümpfe zu stricken. Aus schwarzer Wolle. Er setzt sich auf den Deckel der Aschengrube. Die Frauen kommen ab und an mit den Aschenkästen aus der Tür, um die Asche auszuleeren, und dann nehmen sie Lukas das Strickzeug aus der Hand und fangen ihm die gefallenen Maschen.

      Minza seufzt, wenn die Mirabellen gar so süß duften. Lukas legt das Strickzeug beiseite. Minza nimmt die fünf Nadeln und den Wollknäuel und strickt, solange Lukas das Gras nach gefallenen Früchten durchsucht. Immer bleibt ein Zweig an seinem Haarschopf hängen. Er schüttelt seine Mähne, dass der Zweig mitschüttelt. Minza strickt und strickt, auch wenn die Finger schon vom Saft der Mirabellen kleben.

      Wenn der Herbst kommt, darf Lukas nach dem Kartoffelkochen ein Brikett ins Herdfeuer legen. Der Kohlenmann wohnt im Dorf, auf dem Berg gegenüber. Lukas nimmt den Sack, einen Strick und den Handwagen. In die Tasche seiner Turnhose gleitet ein Fünfmarkstück! Was für eine große, schwere Münze! Der Vater hat am Morgen seine Taschen durchsucht, ob da eine Mark und fünfzig Pfennige wären, aber er gab dem Sohn fünf Mark! Lukas setzt sich bergab in den Handwagen, nimmt die Deichsel zwischen die Beine, die eisenbeschlagenen Räder springen und hüpfen über den Schotter.

      Und dann kommt er ohne den Wagen zurück! Er starrt auf den Weg, betastet jeden Stein mit dem nackten Fuß. Das, was noch keiner jemals sah, ist deutlich zu sehen: Lukas weint! Sein Mund steht vom Entsetzen weit geöffnet.

      Minza rennt den anderen Kindern vorweg in die Küche: »Lukas hat fünf Mark verloren!« Die Mütter kommen aus allen Türen. Sie sagen: »Wie kann das sein« und «Such nur genau!«. Lukas möchte jede Erdkrume mit der Zunge prüfen. Und Minza weint entsetzlich: »Der Lukas, der Lukas.« Minzas Mutter legt zu Minzas fünf Spargroschen noch einmal fünf. Eine Nachbarsfrau bringt noch einen Fünfziger.

      Lukas kommt mit den Kohlen langsam bergan. Er schluchzt, schüttelt sich, erwartet nun eine noch nie dagewesene Pein. Aber Minzas Mutter versteckt ihn in ihrer Küche. Er kann den Hefekloß und das Pflaumenkompott nicht herunterbringen, auch wenn Minza ihm heiße Butter über den Kloß gießt.

      Lukas’ Vater kommt. Die Frauen fallen mit Begrüßungen über ihn her. Er schreit nach Lukas. Zwei andere Väter treten vor die Haustür, sie wippen den Kohlensack vom Handwagen in den Schuppen. Sie erinnern Lukas’ Vater an das Schicksal des Bauern Rämig, der zu Gericht musste, weil er sein Pferd totgeprügelt hatte.

      Lukas’ Vater schreit so lange nach seinem Sohn, bis der Rausch, den er sich in der Brauerei angetrunken hat, verklungen ist und sein Gesicht grau zusammenfällt. Lukas, den Minzas Mutter hinter verschlossener Tür hält, steigt entschlossen durchs Fenster. Er geht auf den Vater zu. Man sieht, wie sein Kopf zwischen den Ohrfeigen von links und rechts hin- und herfliegt. Dann geht Lukas still treppauf, dem Vater voran in die Wohnung.

      Im November herrscht Frost. Lukas trägt zu seinen schwarzen Strümpfen eine graumelierte Manchesterhose. Er trägt die Holzpantoffeln seines Vaters, weil seine eigenen ganz flach abgelaufen und vor allem zu kurz geworden sind. Minza bekam vom Großvater neue Schnürstiefel.


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