Spiegelungen. Anne Dorn

Spiegelungen - Anne Dorn


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da ist!

      Das Fieber: Minza redet, aber nicht recht gescheit. Sie liegt flach auf der Erde. Und Lukas deckt sie zu! Er deckt sie mit sich selbst zu. Das ist eine leichte, warme Decke. Ach Lukas! Minza lockt ihren Freund in den Tümpel: ›Komm! Es ist schön, wenn du kommst. Es wird ganz leicht, deine Minza zu sein! Lieber Lukas.‹ Der müht sich und kämpft. Er schleppt Minza. Er hält sie und trägt und umfängt sie. Niemand verscheucht ihn. Er gehört in Minzas Herz. Sie lässt ihn nie mehr los.

      Die anderen Kinder kommen aus der Schule. Die anderen Mütter predigen: »Seht ihr! Hört ihr! Wir haben es tausendmal gesagt!« Minzas kleiner Bruder weint: »Muss Minza sterben?«

      Ach nein. Jede Mutter weiß noch ein Mittel: Leinöl. Franzbranntwein. Hundefett! Aber wer hat schon welches im Haus … vielleicht für den Lukas? Sorgt Minzas Mutter für Lukas gerade so treu wie für Minza? Immer ein Kind vor seiner Tür. Er schläft und schläft. Dann plötzlich, als Minzas Mutter nach ihm sieht, hat er seine schmutzigen Sachen ausgezogen und schläft im Nachthemd. Könnte er doch lange, lange schlafen!

      Minzas Vater ist immer der erste von allen Vätern. Er wundert sich sehr, wundert sich, dass die Mutter so wenig Ordnung hält und so etwas passieren konnte! Er lässt sie losrennen, über den Waldweg, zum Doktor. Er selber würde mit dem Fahrrad über die Landstraße in die Stadt fahren, aber nach dem Essen. Und weiß die Mutter denn, ob er alles genau schildern kann? Ehe sie losrennt, weckt sie Lukas: »Trink das! Trink die Bouillon!« Lukas braucht Kraft.

      Während Minza hört, wie der kleine Bruder ihr buchstabierend vorliest, wie der Vater den Ofen mit Kohle versorgt, die Tür vom Wohnzimmer zum Kinderzimmer mit dem Fußbänkchen festklemmt, damit sie nicht wieder zufällt, dem Kätzchen antwortet, welches maunzend umherstreicht, das brodelnde Wasser vom Ofen nimmt und den Holunderblütentee aufgießt, wie es die Mutter gesagt hat, hört sie auch, dass oben im Haus jemand die Tür wirft.

      Alle haben es gehört. Alle haben darauf gewartet. Die anderen Mütter haben ihn an der Haustür mit einer umfangreichen Geschichte empfangen. Schindern auf dem Eis! Die Lehmgrube. Minza, das verwöhnte Ding! Ein Kran! Ein Gewirr von Eisenstangen. Kein Schild an der Grube. Den Ziegeleibesitzer verklagen … Aber Lukas’ Vater lässt, was ihm gesagt wird, zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgehen. Er knöpft sich Lukas vor.

      Minza liegt im Zimmer unter dem Zimmer, in dem Lukas liegt. Sie hört ihn betteln, wimmern, weinen, schreien! Minza schreit mit. Der kleine Bruder lässt das Buch liegen und rennt aus dem Zimmer. Der Vater steht in der Tür und schüttelt den Kopf: »Daran bist du nun schuld!«

      Minza wirft das Federbett weg, hat schon die Füße auf dem Boden. Der Vater gibt ihr einen Schubs, wirft das Federbett wieder über sie drüber und schreit, wie oben Lukas schreit, nur nicht so lange: »Du alberne Gans, willst du dir den Tod holen?«

      Komm, lieber Tod. Erlöse Minza von dieser Schuld. Lass den Lukas, der so wundersam warm und weich schützt und trägt, in Minzas Bett fallen. Er soll das Kind sein, um das sich die Mutter sorgt. Für das sie rennt und den Doktor bittet, dass er kommt. Und dann, wenn Minza ihren Platz geräumt hat, werden alle Mütter und Väter den Lukas lieben. »Papa, gehst du rauf, und machst in der Küche oben Feuer? Das hat der Lukas heute nicht gekonnt.« Minza will Lukas’ Holzpantoffeln aus dem Eis schlagen, wenn es erst fest ist, Pantoffeln aus trockenem Holz schwimmen oben, Minza wird sie finden.

      Und der Ranzen? Hat keiner daran gedacht, dass sein Ranzen an der Lehmgrube liegt? Minza bittet den kleinen Bruder, der wieder still neben dem Ofen sitzt: »Hol du ihn. Er liegt neben dem Laubfrosch-Baum.« Der Vater sagt: »Dein Ranzen ist hier. In deinem Aufsatzheft ist die Schrift ganz verwischt. Schreibst eben neu.« Er streichelt Minza, und jede Berührung zuckt wie ein Blitz durch ihren Körper.

      Lukas ist still. Was ist da oben geschehen? Der Vater sagt: »Jetzt kann er wieder schlafen.« Minza erbricht weißen, fädigen Schleim. Sie beißt in den Bettzipfel. Sie starrt zur Decke. Wenn sie durch die Decke schauen und Lukas sehen könnte! Hat sein Vater ihn niemals lieb? Warum ist das so, dass Lukas diesen Vater hat?

      Minzas Vater nimmt das Fußbänkchen beiseite und schließt die Tür, damit sie endlich einschläft. Sie wartet, dass er denkt, sie würde schlafen. Sie hört, dass er aus dem Wohnzimmer geht. Dann steht sie auf, geht die wenigen Schritte bis zum Fenster und öffnet es. Sie hält sich an der Fensterbank fest und sucht am ganzen Himmel nach etwas Wunderbarem, was plötzlich da ist – und hilft. Während sie aufwärtsschaut, spürt sie über sich etwas Dunkles. Lukas hält seinen Kopf aus dem Fenster. Im Sommer tut er das oft, dann lässt er an einem Faden einen Apfel herunter, dass Minza ihn fängt. Oder einen Hampelmann aus Papier, den er so geschickt falten kann, dass er wirklich hampelt.

      Wie Minza schaut Lukas heute aufwärts. Auch als sie leise ruft: »Ich hole dir deinen Ranzen«, und er ihr antwortet: »Den hole ich selbst.« Minza entdeckt am Himmel nichts. Die Sterne. Die waren von Anfang an dabei. Sie beklagt sich bei Lukas: »Mir ist kalt!«, und er versteht sie: »Mir ist auch kalt, Minza.«

      4

      Minza erwacht: Gänse ziehen nach Norden! Der weithallende Trompetenton, den eine unter den vielen von Zeit zu Zeit ausstößt, hat sie verraten.

      Eine heiße Welle der Freude lässt Minza vergessen, wie früh am Morgen und in welcher Kälte sie am Fenster steht. Sie hat in ihrem kurzen Leben schon gelernt, dass vorüberziehende Gänse weder für Vater und Mutter noch für den Bruder ein Grund sind, früh aufzustehen. Sie zieht sich an, geht aus dem Zimmer, aus der Wohnung, aus dem Haus. In einer Stunde, wenn die Mutter ihre Kinder wecken will, damit sie pünktlich zur Schule gehen, wird sie wieder zurück sein.

      Minza liebt es, allein im Wald zu sein. Nichts ist so tröstlich für sie wie die Gegenwart der Bäume. Im Wald kennt sie jede Bodenwelle, jeden Fels, jedes Rinnsal. Seltsam anziehend sind für sie die Wurzelfüße der Laubbäume. Wo die Stämme sich scheinbar auflösen in einzelne Stränge festen, zähen Holzes, bilden sich zwischen Baum und Erde heimelige Nischen. Da wachsen Moose und Flechten, Zwergfarne und Waldgras. Minza hat bestimmte Wurzelhöhlen in Besitz genommen und darin gewohnt, sich klein und emsig gefühlt wie die Ameise, die sich stellvertretend für sie mit einer Fichtennadel oder dem Stengel eines vom Winter zermürbten Buchenblattes abmühte.

      Heute regt sich keine Ameise, keine Mücke tanzt. Es ist März. Der Schnee ist verharscht, bildet einzelne Fladen mit glasigen Rändern, Wasser tropft, springt entlang des Baumstamms abwärts und versickert im Moos. Das schluckt nicht nur den Tropfen, auch das Licht! Im Mai, wenn die Blätter der Buche ein Laubdach bilden, wird es von dem Licht leben, das es heute trinkt.

      An eine Buche gelehnt, schaut Minza den entlaubten Ästen zu, wie sie sich dem Morgenwind beugen. Wildgänse! Auf dem Weg zurück zum Haus hüpfen und flattern Saatkrähen neben ihr her. Der Vater hantiert im Hof an seinem Fahrrad und raunzt: »Wo kommst du her? Musst du am frühen Morgen schon zigeunern?«

      Minza könnte morgens, anstatt in den Wald zu laufen, Milch erwärmen und Brote streichen. Das hat inzwischen die Mutter erledigt. Ihre Tochter kommt sich dann schuldig vor und versucht es mit Tricks, wie dem erneuten Packen der Schultasche, oder einer rasch hergestellten Oberflächenordnung im Zimmer, das sie mit dem Bruder teilt. Minza ist dann auch hilfsbereit und fragt: »Soll ich was mitbringen aus der Stadt? Ich habe nur bis zwölf Uhr Schule.«

      Minza lernt ohne viel Mühe, der Bruder dagegen schwer. Vater und Mutter bedauern das. Es ist vorgekommen, dass beide Kinder am Tisch saßen, über die Hefte gebeugt, und der Vater wollte sehen, was sie geschrieben hatten. Zuerst besah er Minzas Heft, dann das des Bruders. Daraufhin warf er klagend die Hände in die Höhe: ›Ach, könnte ich euch die Köpfe vertauschen!‹

      Heute Morgen, als Minza die Wildgänse sah, hat sie ihre Arme gerade so ausgebreitet und wäre liebend gern davongeflogen. Nur recht weit! Und doch gehört sie zu Vater, Mutter und Bruder. »Die Linsensuppe schmeckt gut!«, so versucht sie, der Mutter zu sagen, dass sie auf Linsensuppe verzichten könnte, und die Mutter fesselt sie an sich mit »Wer sich nicht tummelt, ist die Luft nicht wert«.

      Minza hilft dem Bruder bei seinen Aufgaben, spült das Geschirr, trocknet es ab, räumt es in Schrank und Regal, hilft, die plan


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