Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden. Fahimeh Farsaie

Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden - Fahimeh Farsaie


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Verrenkungen, umgeben von unzähligen halb getrockneten Klamotten, nicht mehr wüsste, ob er beim Einpacken eines Buches zuerst die linke oder die rechte Ecke des Geschenkpapiers umschlagen soll.

      Ryan Djahn hielt sich hinsichtlich der Beckerschen Beischlafmethoden bescheiden zurück. Ab und zu holte er zwar aus der Tiefe seiner Kehle mädchenhaft helle Ja- oder Nein-Töne hervor, aber das war alles. Denn er selbst schien, im Gegensatz zu seinen Altersgenossen, noch keine rechte Beziehung zum anderen Geschlecht zu haben.

      Das war sogar Sima Khanoom aufgefallen. Sie machte sich deswegen aber keine großen Sorgen, obwohl das sexuelle Verhalten ihres Sohnes den Anforderungen seines Alters definitiv nicht entsprach. Stattdessen warf sie mir vor, am Telefon mit den Jungs zu flirten und ständig die Leitung besetzt zu halten. Ich solle mir an Ryan ein Beispiel nehmen. Wenn Mädchen ihn anriefen, gab er entweder vor, tief und fest zu schlafen, oder gestikulierte, er wolle auf keinen Fall mit ihnen reden. Wenn das tatsächlich stimmte, stellte sich die berechtigte Frage: Woher kamen seine Knutschflecken an Hals und Oberarmen? Was mir schon mehrfach aufgefallen war: Ryan Djahn sprang jedes Mal wie unter Strom auf und stürzte ans Telefon, wenn Kai anrief. Er verschwand dann in einer versteckten Ecke der Wohnung und flüsterte so leise, dass niemand von seinem Gespräch etwas mitbekam. Mein Vater war von der Freundschaft seines Augenlichts mit dem grünäugigen Kai sowieso nicht begeistert. Er schrieb die Löcher in Ryans Nabel und Gesicht, auch seine hängende Hose allein Kai und seinem üblen Einfluss zu. Ryan blieb sein Augenlicht, das er bevormunden möchte, als ob dieser weder selbstständig handeln noch sich eine eigene Meinung bilden könnte. Als sein einziger männlicher Nachwuchs ihm mitteilte – und das selbstverständlich an einem Dienstag –, er wolle seine Schulter tätowieren lassen, fragte er empört: »Wer hat dich zu diesem Unsinn überredet? Ich hab dir tausendmal gesagt: Lauf nicht hinter diesem grünäugigen Deutschen her! Bei uns tätowieren sich nur Drogendealer und Schwerverbrecher. Willst du, dass dich alle verspotten?«

      Ryan Djahn versuchte, seine hell klingenden Stimmbänder zu bändigen und fragte mit brüchiger Stimme: »Wen meinen Sie? Wer sind alle?«

      Diese einfältige Frage brachte Abbas Agha aus der Fassung. Grimmig antwortete er: »Wer alle sind? Alle Perser selbstverständlich!«

      Ryan räusperte sich und meinte eigensinnig: »Ich lebe aber nicht in Iran, sondern …«

      Offizier Abbas Agha wurde ungeduldig und unterbrach Ryan: »Das ist gleichgültig. Wir sind und bleiben Perser, egal wo wir leben. Ab sofort darfst du mit diesem grünäugigen Deutschen nicht mehr verkehren. Sonst gibt es kein Taschengeld, verstanden?«

      Wütend spielte Ryan Djahn eine Weile mit den Ringen an Augenbraue und Unterlippe herum. In seiner Kehle gurgelte es, doch kein Wort kam aus seinem Mund. Offensichtlich fiel es ihm schwer, die gedrückte Stimmung zu ertragen. Auch mich schaffte der ewige Schlagabtausch. Ich sehnte mich nach frischer Luft, von der es in unserer 120 Quadratmeter großen Wohnung keinen Kubikzentimeter mehr zum Atmen gab. Deshalb packte ich meine Sachen. Ich würde übers Wochenende zu Peter fahren und mich von ihm trösten lassen.

      11.

      Die aufmunternde Vorstellung, in einer halben Stunde in Peters Arme zu sinken, beruhigte mich. Peter ist »Mein starkes Bärchen«. Wenn er mich umarmt, kommt alles von alleine ins rechte Lot. Ich vergesse meinen Kummer und meine Nöte. Dann kommen mir die größten und kompliziertesten Schwierigkeiten einfach und lösbar vor. Anfänglich brachte ich den Kosenamen »Mein starkes Bärchen« schwer über die Lippen. In Peters Ohren mochte das liebevoll und zärtlich klingen, für mich hörte es sich aber grob und derb an. Bevor ich Peter kennen lernte, beschimpfte ich immer Ryan Djahn mit »Du dicker Bär« im Sinne von faul und untauglich. Doch seitdem sich Peter mit dieser »Beschimpfung« geschätzt und geliebt fühlt, klingt es auch in meinen Ohren anders.

      Um mein starkes Bärchen auf einen spontanen und also gänzlich ungeplanten Liebesakt vorzubereiten, holte ich mein Handy aus der Tasche, kaum dass ich aus der U-Bahn an der Haltestelle »Neumarkt« ausgestiegen war, und wählte seine Telefonnummer. Ich hielt mich am Geländer fest, während ich mit der Rolltreppe hochfuhr. Ausgerechnet in dem Moment, als Peter an den Apparat ging, spürte ich etwas Klebriges unter meiner Handfläche; es war gelbe Spucke, die sich mit Unterbrechungen über die ganze Länge des Geländers hinzog. Von der Berührung des Speichels eines womöglich kranken Menschen, der Gift und Galle in der Öffentlichkeit gespuckt hatte, wurde mir übel. Ich legte auf, um in meiner Tasche nach einem Taschentuch zu suchen und die Spuren des krankheitserregenden Schleimes zu beseitigen. Wahrscheinlich handelte es sich um das spucktechnische Meisterwerk einiger kühner Jugendlicher wie Ryan und Kai, die vom eintönigen Alltag müde waren und sich langweilten. Vielleicht hatte sich der coole Nachwuchs irgendwo in einer Ecke versteckt und lachte sich über mein von Ekel verzerrtes Gesicht tot, während er die Baggiepants hochzog und die unechten Ringe in Augen-, Lippen- und Ohrlöchern herumdrehte.

      Plötzlich fiel mir ein, dass ich Peter nicht jederzeit anrufen durfte. So etwas könnte seinen Tagesrhythmus durcheinander bringen. Morgens musste ich ihn anrufen, bevor er die Tür seines Autos öffnete. Danach war es fast unmöglich, ihn zu erreichen. Würde ich es versuchen, ginge er nicht an den Apparat, obwohl er meine Telefonnummer auf dem Display sehen konnte. Seitdem es verboten war, im Auto ohne Kopfset zu telefonieren, führte er während der Fahrt keine telefonischen Gespräche mehr. Meiner Ansicht nach war diese Entscheidung nicht nur auf seinen unerschütterlichen Glauben an die Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen, sondern auch auf seine Urangst vor dem Tod, die sein Leben bis in die alltäglichsten Handlungen hinein prägte. Um diese Furcht zu mindern, entwickelte er eine ungewöhnliche Neigung zu Vorbeugemaßnahmen jeglicher Art. Diese Tendenz nahm jeden Tag größere Dimensionen in seinem Leben ein. Einmal entdeckte ich bestürzt einen Hammer in der Seitenablage seiner Autotür, fragte ihn aber halb scherzend: »Auf wessen Kopf willst du mit diesem Hammer hauen? Auf den der Autodiebe?«

      Er antwortete ernsthaft: »Wenn es erforderlich wäre, hätte ich keine Hemmungen. Den verwahre ich aber für den Fall, dass ich in einen Unfall verwickelt werde. Sollte sich unter Umständen die Tür nicht öffnen lassen, kann ich damit die Fensterscheibe einschlagen und mich durchs Fenster retten.«

      Peter verwahrte auch eine Schere im Auto. Würde sich der angeschnallte Gurt nach einem eventuellen Unfall nicht lösen lassen und ihn praktisch fesseln, könnte er ihn mit der Schere durchschneiden und sich in Sicherheit bringen, ehe das Auto explodierte. Irgendwo hatte er gelesen, dass 53 Prozent der Unfallopfer ums Leben kommen, weil ihnen kein oder nicht ausreichend Bewegungsraum zur Verfügung steht, um sich zu retten. Neben den für Vorbeugemaßnahmen im Innenraum verwendbaren Instrumenten befand sich darüber hinaus im Kofferraum seines Autos so etwas wie eine mobile Werkstatt voller Geräte und Gegenstände, die zum Festbinden, Öffnen, Füllen, Ausleeren, Anzünden und Löschen etlicher Materialien und Rohstoffe wie Holz, Eisen, Glas oder Plastik geeignet sind. Der Kofferraum war so vollgepfropft, dass wir unser Gepäck auf den Rücksitz stellen mussten, wenn wir zu zweit für eine Nacht irgendwohin fuhren. Wenn wir gar für ein paar Tage unterwegs waren und mehr Gepäck benötigten, wurden alle weiteren Stücke auf meinen Schoß und zu meinen Füßen platziert. Als ob ich, um mich eventuell zu retten, ohne Hammer, Schere und Bewegungsraum auskäme.

      12.

      Da ich nur noch einige Straßen von Peters Wohnung entfernt war, verzichtete ich auf einen weiteren Anruf. Ich brauchte am Ende einer schmalen Gasse nur noch ein paar Stufen hochzulaufen, einen kleinen Platz zu überqueren und an dessen südlicher Ecke links abzubiegen. Mein starkes Bärchen saß in seiner Wohnung im zweiten Haus der Straße, dachte wohlvergnügt an mich und freute sich über das ununterbrochene Zwitschern seiner Kasse. Plötzlich überkam mich eine innige Sehnsucht, ruhig neben ihm in seinem Auto zu sitzen und ihn beim Fahren anzuschauen, dabei meinen Ellbogen auf die Stütze zu lehnen, die er selbst aus Schaum und Leder angefertigt hatte – hätte er die Armlehne beim Autohersteller bestellt, würde sie bestimmt ein Vermögen gekostet haben –, und ihn zärtlich über den Arm und die Schulter zu streicheln oder sein anziehend männliches Profil zu bewundern. Ich würde seine rechte Hand in die meine nehmen, leidenschaftlich küssen und auf meine Brust legen – vorausgesetzt


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